Weltpolitik

Wahlkampfhilfe für Sultan Erdogan

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Angela Merkel hofiert mitten im türkischen Wahlkampf jenen Mann, dem Korruption, die Unterdrückung politischer Opposition und sogar Mord vorgeworfen werden –

Von Thomas Eipeldauer, 19. Oktober 2015 – 

Während Angela Merkel in einem vergoldeten Thron neben Recep Tayyip Erdogan sitzt und freundlich in die Kameras lächelt, ringt Dilek Dogan um ihr Leben. Die junge Frau war während einer Polizeioperation gegen Linke im Istanbuler Stadtteil Kücük Armutlu in den Rücken geschossen worden. Die Behörden behaupten, ähnlich wie bei der vor einigen Monaten ebenfalls in Istanbul durch Beamte getöteten Günay Özarslan, es habe Widerstandshandlungen gegeben. Belege dafür gibt es nicht, kritische Anwälte behaupten das Gegenteil.

Die massive Repression, mit der Recep Tayyip Erdogan und die regierende neoliberal-islamistische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ihre Gegner überziehen, hat viele Facetten. Gegen die kurdische Bewegung führt sie, nachdem die Regierung den Waffenstillstand willentlich beendete, einen offenen Krieg, belagert ganze Städte, bestraft deren Bevölkerung kollektiv. Hunderte Menschen verloren in den vergangenen Wochen an dieser Bürgerkriegsfront ihr Leben, darunter Dutzende Zivilisten. Die linke kurdische Partei HDP, die im Parlament vertreten ist und einen Kurs der absoluten Gewaltfreiheit propagiert, wird regelmäßig von AKP-Anhängern und faschistischen „Grauen Wölfen“ angegriffen, ihre Büros brennen, ihre Wahlkämpfer werden geschlagen.

Dazu kommen die drei großen Attentate in diesem Jahr: In Diyarbakir (5.Juni), Suruc (20. Juli) und Ankara (10.Oktober) starben insgesamt 141 Gegner Erdogans bei Sprengstoffattentaten. Die Angreifer kamen, so der gegenwärtige Ermittlungsstand, aus islamistischen Kreisen. Doch die Hintergründe der Taten wurden nie aufgeklärt und werden es wohl auch nicht, solange die gegenwärtige Regierung im Amt ist. Indizien für eine Mittäterschaft staatlicher Stellen gibt es ausreichend, weite Teile der Opposition gehen von einem Mitwirken der Regierung aus. Die Attentäter waren polizeibekannt, waren abgehört, aber nicht festgenommen worden. In der Türkei gibt es zudem eine lange Tradition, politische Gegner durch Mordtruppen des „tiefen Staates“ beseitigen zu lassen.

Gegen unabhängige und kritische Medien geht die AKP-Regierung ebenfalls mit einer Mischung aus juristischen Verboten, willkürlichen Verhaftungen und Terror vor. Dass Büro der Tageszeitung Hurriyet wurde im vergangenen Monat zweimal von einem bewaffneten Mob aus Anhängern der Regierungspartei angegriffen – unter Beteiligung eines Parlamentsabgeordneten. Soziale Medien sind gesperrt, bei besonders brisanten Ereignissen – wie zuletzt dem Attentat von Ankara – verhängt die Regierung eine Nachrichtensperre. Laut Reporter ohne Grenzen rangiert die Pressefreiheit in der Türkei auf Platz 149 von 180 weltweit.

Angela Merkel besucht nun, mitten im Wahlkampf und ohne mit einem der Oppositionsführer zu sprechen, jenen Mann, der ein Gros der Verantwortung für die Lage, in der sich die Türkei befindet, trägt: Recep Tayyip Erdogan. Und noch mehr als das. Sie kommt nicht, um ihm – wie rituell bei jedem China- oder Russlandbesuch üblich – lautstark Vorhaltungen über die Menschenrechtslage zu machen.

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Sie kommt vielmehr um ihm einen Deal anzubieten, der es in sich hat. Merkel will von Erdogan, dass er den „Flüchtlingsstrom“ abbremst, unter dessen Druck sie hierzulande politisch zu leiden hat. Der Sultan von Ankara soll seine Grenzen besser sichern, mehr Massenlager bauen und Flüchtlinge, die den Weg in die Europäische Union dennoch bewältigen, zurücknehmen, wenn man sie wieder abschiebt. Im Austausch dafür soll es Geld geben, die Aussicht auf Erleichterungen bei Reisen türkischer Staatsbürger in die EU und die Einstufung der Türkei als „sicheres Herkunftsland“. Absurder noch, als einer Regierung, deren Korruptionswilligkeit besser dokumentiert ist, als die der meisten anderen auf der Welt, Geld „für Flüchtlingshilfe“ zu überweisen, wäre die Einstufung des Bürgerkriegslandes Türkei als „sicheres Herkunftsland“.

Ein solches ist in Artikel 16a des Grundgesetzes wie folgt definiert: „Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet.“ Überhaupt den Gedanken zu hegen, dass die Türkei ein solches Land sein könnte, zeigt vor allem eines: Den Willen der Bundesregierung beim Versuch, das Ankommen der ihr lästigen vor Krieg und Verderben fliehenden Menschen zu verhindern, noch die letzte Diktatur zum „demokratischen Partner“ zu adeln.

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