Weltpolitik

Weiteres US-Spionageprogramm aufgedeckt

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Von SEBASTIAN RANGE, 19. März 2014 –

Der US-Geheimdienst NSA sammelt einem Bericht zufolge die Inhalte von Telefonaten in bisher ungeahntem Ausmaß. Der Geheimdienst habe ein Programm entwickelt, das die komplette Sprachkommunikation eines ganzen Landes aufsaugen und speichern könne, berichtete die Washington Post am Dienstag. (1) Das NSA-System namens MYSTIC (mystisch) werde bereits seit 2011 gegen mindestens ein Land eingesetzt. Auf Bitten der US-Regierung verzichtete die Zeitung darauf, den Namen des Landes zu nennen. Das Programm sollte offenbar auf weitere Länder ausgedehnt werden oder wurde das möglicherweise schon. Im Haushaltsplan von 2013 sei von fünf weiteren Ländern die Rede, in denen Gespräche gesammelt würden. Ein weiteres Land sollte bis Ende vergangenen Jahres hinzukommen. Auch in diesen Fällen wird der Öffentlichkeit vorenthalten, um welche Nationen es sich handelt.

Es ist allerdings davon auszugehen, dass es sich auch um Staaten handelt, die offiziell als befreundet gelten – und Washington auf Schweigen drängt, um sich in der NSA-Affäre nicht noch weiter zu brüskieren.  

Die im Rahmen von MYSTIC anfallenden Datenmengen sind gigantisch. Auf den NSA-Servern sollen Milliarden Telefongespräche gespeichert werden – für jeweils dreißig Tage. In dieser Zeit kann die NSA die Gespräche anhören beziehungsweise mit geeigneten Programmen wie RETRO auswerten. Der Name des Programms ist selbst Programm: Eine Anspielung auf die sich den Geheimdienstlern bietende Möglichkeit, in die Vergangenheit zu schauen.  Die Datensammlung erlaubt es ihnen, im Nachhinein Telefonate von Menschen abzuhören, die zum Zeitpunkt der Gespräche nicht verdächtig waren. Intern werde das Programm mit einer Zeitmaschine verglichen, so die Washington Post.

Der Blick in die Vergangenheit soll auch noch in einer fernen Zukunft möglich sein. Denn Millionen Mitschnitte mit „verdächtigem Inhalt“ landen im Langzeitspeicher des Nachrichtendienstes. Eine Löschung ist nicht vorgesehen.

Die Washington Post beruft sich in ihrem Bericht auf Dokumente aus dem Fundus von Edward Snowden und Gespräche mit namentlich nicht genannten amerikanischen Offiziellen.

Bisher war nur bekannt, dass die NSA Verbindungsdaten im großen Stil sammelt. Das sind Informationen darüber, wer wann mit wem telefoniert oder eine E-Mail schreibt. Diese Informationen werden auch Metadaten genannt. Dass die NSA auch die Gesprächsinhalte ganzer Länder abgreift und abspeichert, ist dagegen neu. Wie der Geheimdienst an die Daten kommt, geht aus dem Artikel nicht hervor.

Entzaubert

„Das ist wirklich eine ernüchternde Enthüllung“, kommentiert Jameel Jaffer, Vertreter der Bürgerrechtsorganisation Amercian Civil Liberties Union (ACLU). Sie unterstreiche die Dimension, um die es bei der Debatte anlässlich der Massenüberwachung gehe. „Die NSA wollte schon immer alles aufzeichnen, und nun hat sie die Kapazitäten, das zu tun.“ (2)

Wie zu erwarten, verteidigte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates des Weißen Hauses, Caitlin Hayden, die nun bekannt gewordene Massenbespitzelung. Das „große und komplexe System der modernen globalen Kommunikation“ verberge oftmals „neue und aufkommende Bedrohungen“. Um diese zu identifizieren, müssten die USA nun mal „konsequent “ und  „massenhaft“ mitlauschen. (3)

Die NSA ging indes in die Offensive und griff die Washington Post für ihre Enthüllungen scharf an. Die „fortwährenden und einseitigen Berichte über spezifische Technologien und Methoden, die bei der legitimen Auslandsspionage der USA zum Einsatz kommen, haben eine höchst schädliche Wirkung für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, und bringen diejenigen in Gefahr, die wir geschworen haben, zu beschützen“, erklärte die Sprecherin der Schnüffelbehörde. (4)

Als Symbol für das MYSTIC-Programm hat die NSA einen Zauberer mit lilafarbener Robe gewählt, der einen Zauberstab hält. Auf dessen Spitze ist ein Handy montiert. Ein passendes Bild. Denn spätestens mit MSYSTIC wurde die Behauptung der US-Regierung als Propaganda entzaubert, die Aktivitäten der NSA dienten dem Kampf gegen den Terror. In keinem Land der Welt gibt es Millionen Terroristen, die das milliardenfache Abspeichern von Gesprächsinhalten rechtfertigen würden. US-Präsident Obama hat schlichtweg gelogen, als er im Januar die Öffentlichkeit zu beschwichtigen versuchte, indem er erklärte, die Vereinigten Staaten würden „keine gewöhnlichen Menschen ausspionieren, die keine Bedrohung unserer nationalen Sicherheit darstellen“.  (5)

Als bei der am heutigen Mittwoch abgehaltenen Bundespressekonferenz die Frage aufkam, ob die Bundesregierung ausschließen könne, dass Deutschland von dem MYSTIC-Programm betroffen ist, antwortete Stefan Paris, Sprecher des Innenministeriums: „Wenn noch nicht einmal die Kollegen der amerikanischen Seite sich dazu einlassen“ – gemeint sind die Journalisten der Washington Post, die auf Druck der US-Regierung davon abgesehen hatten, konkrete Länder zu benennen – „habe ich überhaupt keinen Anlass, das zu tun“.

Eine kaum überraschende Aussage. Sie reiht sich nahtlos ein in die bisherige Praxis der Merkel-Regierung, sämtlichen Schaden abzuwenden, der sich aus der Snowden-Affäre für die US-Regierung und die transatlantischen Beziehungen ergeben könnte. Daher verzichtete die Bundesregierung auch darauf, in den Besitz der Snowden-Dokumente zu gelangen. Sie beließ es stattdessen dabei, Erkenntnisse dieser Affäre der Presse zu entnehmen. Und ein ums andere Mal werden diese Erkenntnisse dann ganz dreist als unbestätigte Presseberichte abgetan und übergangen. So auch im aktuellen Fall. Ministeriumssprecher Paris entgegnete dem Journalisten, der die Frage nach dem MYSTIC-Programm stellte: „Sie sagten, gestern ‚kam heraus‘. Gestern stand in einer Zeitung etwas“, relativierte Paris den Wahrheitsgehalt der Berichterstattung über das Schnüffelprogramm, obwohl selbst die US-Verantwortlichen mit ihren Aussagen die Existenz dieses Programms zumindest indirekt bestätigt haben.

(mit dpa)

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Anmerkungen
(1) http://www.washingtonpost.com/world/national-security/nsa-surveillance-program-reaches-into-the-past-to-retrieve-replay-phone-calls/2014/03/18/226d2646-ade9-11e3-a49e-76adc9210f19_story.html
(2) http://www.washingtonpost.com/politics/federal_government/nsa-collects-all-phone-calls-in-a-foreign-country/2014/03/18/94380822-aed9-11e3-b8b3-44b1d1cd4c1f_story.html
(3) http://uk.reuters.com/article/2014/03/18/uk-usa-security-surveillance-idUKBREA2H1XD20140318
(4) ebd.
(5) http://www.washingtonpost.com/world/national-security/obamas-restrictions-on-nsa-surveillance-rely-on-narrow-definition-of-spying/2014/01/17/2478cc02-7fcb-11e3-93c1-0e888170b723_story.html

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