Weltpolitik

Zu Libyen und den sich entwickelnden Krisen

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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NOAM CHOMSKY im Interview mit Stephen Shalom und Michael Albert, 21. April 2011 –

1. Welche Motive verfolgen die USA im Wesentlichen bei ihren internationalen Beziehungen? Also, was sind ihre übergreifenden Beweggründe, welche Muster hinsichtlich der weltpolitischen Entscheidungen der USA zeichnen sich ab, insbesondere im Mittleren Osten und der arabischen Welt? Und schließlich, was halten Sie für die plausibleren Ziele der aktuellen US-Politik in Libyen?

Eine hilfreiche Herangehensweise an dieses Thema ist die umgekehrte Fragestellung: Welche Ziele verfolgen die USA nicht? Es gibt mehrere gute Methoden, die Antwort zu finden. Eine dieser Methoden besteht darin, Fachliteratur über internationale Beziehungen zu studieren. Üblicherweise wird darin genau das Gegenteil von dem beschrieben, was tatsächlich politisch beabsichtigt ist. Das ist ein hochinteressantes Thema, das ich hier jetzt aber nicht weiter verfolgen möchte.

Eine andere Methode, die gerade sehr relevant ist, besteht darin, den führenden Politikern und Kommentatoren zuzuhören. Nehmen wir an, sie sagen, eine Militäraktion verfolge humanitäre Absichten. Das an sich hat zunächst keinen Informationsgehalt. Denn nahezu jede Gewaltanwendung wird mit diesem Anliegen gerechtfertigt, selbst von den schlimmsten Monstern – und sie glauben womöglich sogar selbst, was sie da behaupten. Hitler zum Beispiel mag selbst geglaubt haben, er übernehme Teile der Tschechoslowakei, um die dort stattfindenden ethnischen Konflikte zu beenden und den Menschen dort die Vorzüge entwickelter Zivilisation zu bringen, und er marschiere in Polen ein, um dort den “wilden Terror” der Polen zu beenden. Die in China wütendenden japanischen Faschisten dachten vermutlich, sie würden sich selbstlos dafür einsetzen, dort ein “Paradies auf Erden” zu schaffen und die leidende Bevölkerung vor den “chinesischen Banditen” zu schützen. Selbst Obama glaubt vielleicht selbst, was er in seiner Präsidentenansprache am 28. März über den humanitären Charakter der Intervention in Libyen sagte. Das gilt auch für die Kommentatoren.

Allerdings gibt es einen sehr einfachen Test, mit dem man herausfinden kann, wie ernst solche Bekenntnisse zu einer hehren Sache zu nehmen sind: Fordert jemand auch humanitäre Intervention oder verantwortungsbewusste Schutzmaßnahmen zugunsten der Opfer seiner eigenen Verbrechen oder die seiner Klienten? Forderte also zum Beispiel Obama eine Flugverbotszone, als Israel 2006 unter fadenscheinigen Vorwänden zu einer mörderischen und zerstörerischen Invasion in den Libanon einrückte? Oder hat er sich nicht vielmehr ganz stolz während seiner Präsidentschaftswahlkampagne gebrüstet, einen Senatsbeschluss gefördert zu haben,  mit welchem die Invasion befürwortet und für den Iran und Syrien Bestrafung gefordert wurde, weil sie dagegen waren? Ende der Diskussion. Mit diesem schlichten, praktischen Test löst sich tatsächlich die gesamte mündliche wie schriftliche Argumentation zugunsten humanitärer Interventionen und Schutzmaßnahmen in Luft auf.

Im Gegensatz dazu werden die wirklichen Motive nur selten diskutiert. Man muss sich schon durch Akten wühlen und geschichtliche Aufzeichnungen recherchieren, um ihnen auf die Spur zu kommen – und das gilt für sämtliche Staaten.

Was also sind die Motive der USA? Ganz allgemein gesprochen, scheinen sie sich mir nicht allzu sehr verändert zu haben, seit während des II. Weltkriegs auf höchster Ebene geplant wurde. Die Kriegsplaner gingen davon aus, dass die USA aus dem II. Weltkrieg mit enormer Überlegenheit hervorgehen würden, und sie fanden die Festlegung eines großen Gebiets notwendig, in welchem die USA unbestrittener Machthaber mit militärischer und wirtschaftlicher Vormachtstellung sein würden und Staaten, die den US-Plänen womöglich in die Quere kommen könnten, in ihrer Souveränität eingeschränkt werden sollten. Dieser Bereich, die Grand Area, sollte den gesamten Westen umfassen, den Fernen Osten, das Britische Weltreich (einschließlich der Energiereserven des Mittleren Ostens) und möglichst große Teile Eurasiens, davon mindestens das industrielle und wirtschaftliche Zentrum in Westeuropa. Aus den Akten geht recht eindeutig hervor, dass “Präsident Roosevelt für die Nachkriegswelt die Hegemonie der Vereinigten Staaten anstrebte”, um die korrekte Einschätzung des zu recht angesehenen britischen Diplomaten und Historikers Geoffrey Warner zu zitieren. Noch wichtiger ist, dass die zu Kriegszeiten ausgearbeiteten Pläne prompt umgesetzt wurden, wie aus inzwischen veröffentlichten Dokumenten der Nachkriegsjahre und auch aus der Praxis zu ersehen ist. Natürlich haben sich die Verhältnisse geändert. Die Taktik wurde entsprechend angepasst, aber die Grundprinzipien sind noch immer so ziemlich dieselben.

Was den Mittleren Osten anbelangt, die laut Eisenhower “strategisch wichtigste Region der Welt”, so ging und geht es um die enormen Energiereserven der dortigen Staaten. Mit diesen hat man “erhebliche Kontrolle über die ganze Welt”, wie schon früh von dem einflussreichen liberalen Berater  A. A. Berle erkannt wurde. Nur selten stehen diese Beweggründe ganz weit im Hintergrund, wenn es um diese Region geht.

Als es im Irak zum Beispiel nicht länger möglich war, die Niederlage der USA zu verbergen, ging man von der Schönrednerei zur ehrlichen Ansage der politischen Ziele über. Im November 2007 veröffentlichte das Weiße Haus ein Grundsatzpapier, in welchem darauf bestanden wurde, dass der Irak den USA uneingeschränkten Zugang gewährt und amerikanischen Investoren Vorrang einräumt. Zwei Monate später informierte der Präsident den Kongress, dass er Gesetze ignorieren würde, die eine ständige Stationierung von bewaffneten US-Kräften im Irak oder “die Kontrolle der irakischen Ölressourcen durch die Vereinigten Staaten” einschränken würde. Diese Forderungen seitens der USA mussten angesichts des irakischen Widerstands wenig später aufgegeben werden, wie andere Ziele vorher auch.

Die Kontrolle der Ölressourcen im Mittleren Osten ist zwar nicht der einzige Faktor für politische Entscheidungen hinsichtlich des Mittleren Ostens, stellt aber einen recht deutlichen roten Faden dar. Das kann man auch am aktuellen Beispiel sehen. In einem ölreichen Land wird einem verlässlichen Diktator gewissermaßen völlig freie Hand gelassen. In den vergangenen Wochen zum Beispiel gab es keine Reaktion, als die Saudi-Diktatoren jedes Anzeichen für Protest mit massiver Gewalt unterdrückten. Das gleiche in Kuwait, wo kleine Demonstrationen auf der Stelle niedergeschlagen wurden, und in Bahrain, wo saudische Kräfte eingriffen, um dem aus der sunnitischem Minderheit stammenden König gegen die Reformforderungen der unterdrückten, schiitischen Mehrheit zu helfen. Regierungskräfte zerstörten nicht nur die Zeltstadt am Perlenplatz, Bahrains Tahrir Square, sondern zerstörten sogar die Perlen-Statue, das Symbol von Bahrain, das von den Protestierenden in Besitz genommen worden war. Bahrain ist ein besonders sensibler Fall, da sich das Hauptquartier der Fünften Flotte der US-Navy dort befindet, die bei weitem schlagkräftigste Militärmacht in der Region. Außerdem ist der gegenüberliegende Osten Saudi-Arabiens ebenfalls schiitisch dominiert, wobei dort der größte Teil der saudiarabischen Ölreserven liegt. Durch einen seltsamen Zusammentreffen historischer und geografischer Gegebenheiten befinden sich die weltweit höchsten Kohlenwasserstoffkonzentrationen im nördlichen Golfgebiet, wo überwiegend Schiiten leben. Die Vorstellung, dass diese Schiiten sich heimlich verbünden könnten, ist für die Planer seit langem ein Alptraum.

In Staaten ohne größere Kohlenwasserstoff-Reserven kann die angewandte Taktik verschieden aussehen, typischerweise hält man sich jedoch an einen groben Fahrplan, wenn ein wohlgelittener Diktator in Schwierigkeiten gerät – entweder man unterstützt ihn so lange wie möglich, und wenn das nicht möglich ist, dann werden klangvolle Deklarationen voller Lobgesänge auf  die Demokratie und Hohelieder auf die Menschenrechte veröffentlicht – woraufhin man dann versucht, möglichst viel von dem Regime zu retten.

Das Szenario ist so oft dasselbe, man langweilt sich fast: Marcos, Duvalier, Chun, Ceausescu, Mobutu, Suharto, und viele andere. Gegenwärtig sind Tunesien und Ägypten dran. Syrien ist ein schwieriger Fall, da gibt es keine offensichtliche Alternative zu einer Diktatur, die den Zielen der USA entgegenkommt. Der Jemen ist ein politischer Morast, wo Intervention für Washington wahrscheinlich nur noch größere Probleme bringen würde als sie jetzt schon haben. Also reagiert man auf Gewalt dort nur mit frommen Deklarationen.

Libyen ist nun ein ganz anderer Fall. Libyen hat viel Öl, und obwohl die USA und Großbritannien den dortigen grausamen Diktator bis heute oft bemerkenswert deutlich unterstützt haben, ist er nicht besonders zuverlässig. Sie hätten dort lieber einen gehorsameren Klienten. Außerdem ist Libyen zum größten Teil noch unerschlossen, wobei manche Experten der Meinung sind, dass dort noch große unentdeckte Reserven lagern, die eine verlässlichere Regierung dem Westen vielleicht zur Verfügung stellen würde.

Gaddafi unterdrückte den anfänglich friedlichen Aufstand mit brutaler Gewalt, so dass er in offene Rebellion umschlug. Bengasi, die zweitgrößte Stadt Libyens, wurde befreit, und der Aufstand drohte sich zu einer Gaddafi-Hochburg im Westen fortzupflanzen. Dann aber wendeten Gaddafis Streitkräfte das Blatt und rückten wieder bis an die Tore von Bengasi vor. Eine Schlacht um Bengasi schien unvermeidlich, und Obamas Mittelost-Berater Dennis Ross wies darauf hin: “Jeder würde uns die Schuld geben.” Das war nicht zu akzeptieren, ebenso wenig wie ein militärischer Sieg Gaddafis, mit dem er seine Macht und Unabhängigkeit zementieren würde. Die USA unterschrieben daher die Resolution Nr. 1973 des UN-Sicherheitsrates, mit welcher eine Flugverbotszone gefordert wurde. Sie sollte von Frankreich, Großbritannien und den USA durchgesetzt werden, wobei den USA nur eine unterstützende Rolle zukommen sollte.

Es wurde nicht einmal der Versuch gemacht, eine Flugverbotszone zu errichten. Das Triumvirat interpretierte die Resolution sofort als Ermächtigung, zugunsten der Rebellen direkt in die Auseinandersetzungen einzugreifen. Ein Waffenstillstand wurde gegenüber Gaddafis Truppen gewaltsam durchgesetzt, nicht jedoch gegenüber den Rebellen. Im Gegenteil, Letzteren wurde militärische Unterstützung gewährt, während sie nach Westen vorrückten, wo sie bald darauf die wichtigsten libyschen Ölförderstätten besetzten und sich dann daran machten, weiter vorzudringen.

Die unverhohlene Missachtung der Resolution 1973 war so auffällig, dass die Presse von Anfang Probleme hatte, damit umzugehen. In der New York Times zum Beispiel fragten Karim Fahim und David Kirkpatrick sich am 29. März, “wie die Alliierten Luftangriffe auf Oberst Gaddafis Kräfte um seinen Geburtsort Surt rechtfertigen konnten, wenn diese offensichtlich von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt wurden und keinerlei Bedrohung für die Zivilisten darstellten.” Eine weitere technische Schwierigkeit besteht darin, dass die Resolution UNSC 1973 “ein Waffenembargo für das gesamte libysche Territorium forderte, was es notwendig machte, jegliche Waffenlieferung an die Opposition aus dem Ausland verdeckt erfolgen zu lassen” (was davon abgesehen aber unproblematisch war).

Manche argumentieren nun, Öl könne nicht das Motiv sein, weil westliche Unternehmen ja bereits unter Gaddafi Zugang zu den Lagerstätten hatten. Damit werden die US-Anliegen aber falsch interpretiert. Denn dasselbe hätte man über den Irak unter Saddam sagen können, oder seit vielen, vielen Jahren bis auf den heutigen Tag über den Iran oder Kuba. Was Washington anstrebt, hat Bush ja verkündet: Kontrolle, oder doch wenigstens verlässliche Klienten an der Macht. Interne US-amerikanische und britische Dokumente betonen, dass “der Virus des Nationalismus” die größte Sorge der Planer ist, nicht nur im Mittleren Osten, sondern überall. Nationalistische Regimes könnten unzulässige Handlungen der Souveränität vornehmen und damit den Schachspielern im Grand Area kräftige Striche durch die Rechnung machen. Womöglich würden sie die Ressourcen gar dem eigenen Volk zugute kommen lassen, wie es Nasser manchmal gedroht hat.

Es sollte nicht übersehen werden, dass die drei traditionellen Imperialmächte Frankreich, Großbritannien und die USA bei der Ausführung dieser Operationen beinahe völlig isoliert dastehen. Die beiden wichtigsten Staaten in der Region, die Türkei und Ägypten, hätten eine Flugverbotszone wohl implementieren können, tun aber nichts als halbherzige Unterstützungsangebote von sich zu geben. Die Diktatoren am Golf wären ihrerseits nur zu glücklich, wenn ihr unberechenbarer Kollege in Libyen in der Versenkung verschwinden würde. Aber obwohl sie über jede Menge moderner Militärausrüstungen verfügen, die sie von den USA und Großbritannien zwecks Petrodollar-Recycling und Gehorsamskauf bekommen haben, beschränken sie sich auf eine Alibi-Teilnahme (Katar).

Zwar wird die Resolution UNSC 1973 von Afrika grundsätzlich unterstützt, doch die Art und Weise, wie diese von dem Triumvirat sofort ausgenutzt wurde, trifft mit Ausnahme des US-Verbündeten Ruanda in ganz Afrika auf Ablehnung, in manchen Fällen sogar ausgesprochen deutlich. Um mehr über die politische Haltung der einzelnen Staaten zu erfahren, lesen Sie bitte Charles Onyango-Obbo im kenianischen Tagebuch East African (http://allafrica.com/stories/201103280142.html).

Außerhalb der Region selbst gibt es auch kaum Unterstützung. Brasilien tat es Russland und China gleich, indem es sich der Stimme enthielt, als UNSC 1973 beschlossen wurde, und stattdessen kompletten Waffenstillstand und Dialog forderte. Auch Indien enthielt sich, da die vorgeschlagenen Maßnahmen wahrscheinlich “eine für das libysche Volk bereits schwierige Situation weiter verschärfen” würden, und verlangte politische Maßnahmen statt Gewaltanwendung. Selbst Deutschland enthielt sich der Stimme.

Auch Italien war zurückhaltend, vermutlich nicht zuletzt, weil es in Sachen Öl sehr abhängig von Gaddafi ist. Vielleicht erinnert sich auch noch manch einer daran, dass der erste Völkermord nach dem I. Weltkrieg von Italien begangen wurde, und zwar im soeben befreiten Ostlibyen.

2. Kann ein Interventionsgegner, der für Selbstbestimmung der Nationen und Völker ist, überhaupt jemals legitim eine Intervention unterstützen, ob nun seitens der UNO oder eines einzelnen Landes?

Da gibt es zwei Grundvarianten zu berücksichtigen: (1) Intervention durch die UNO und (2) Intervention ohne UNO-Mandat. Sofern wir dem Glauben anhängen, dass Staaten vollkommen sakrosankt sein können (ein Status, der üblicherweise unter Anwendung extremer Gewalt erlangt wird), mit Rechten, die allen anderen vorstellbaren Bedenken übergeordnet sind, dann können wir in beiden Fällen mit Ja antworten. Zumindest prinzipiell. Ich sehe keinen Grund, diesen Glauben zu diskutieren, also lassen wir das mal.

Im ersten Fall gewähren die UNO-Charta und nachfolgende Resolutionen dem Sicherheitsrat erheblichen Spielraum für Interventionen, und davon wurde auch Gebrauch gemacht, zum Beispiel in Südafrika. Das bedeutet natürlich nicht, dass “ein Interventionsgegner, der für Selbstbestimmung ist,” jede Entscheidung des Sicherheitsrats befürworten sollte. Im Einzelfall gibt es noch andere Dinge zu bedenken, aber auch hier gelten dieselben Prinzipien, sofern zeitgenössischen Staaten nicht der Status buchstäblich heiliger Gebilde zugesprochen bekommen.

Im zweiten Fall, den wir bei der Triumvirat-Interpretation der UN-Resolution 1973 (Libyen-Resolution, Anm. Red.) vor uns haben und in vielen anderen Beispielen, dann ist die Antwort ebenfalls ja, es sei denn, wir betrachten das durch die UN-Charta und andere Verträge begründete globale Staatensystem in seiner bestehenden Form als sakrosankt.

Es gibt natürlich immer die schwere Bürde der Beweise, die man erbringen muss, um gewaltsame Intervention oder Gewaltanwendung überhaupt zu rechtfertigen. Im zweiten Fall ist diese Last besonders groß, wenn gegen die UN-Charta verstoßen wird, jedenfalls für Staaten, die behaupten, sich an die Gesetze zu halten. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass der Welt-Hegemon (USA, Anm. Red.)gar nicht diese Position vertritt und sich sowohl von der UN- als auch der OAS-Charta und anderen internationalen Verträgen selbst freigestellt hat. Als der Weltgerichtshof im Jahr 1946 auf Initiative der USA hin eingerichtet wurde, akzeptierte Washington dessen Gesetzgebung nur unter der Bedingung, dass die USA nicht wegen Verletzung internationaler Verträge vor diesem Gericht verklagt werden könne. Auch die Genfer Konvention wurde von Washington nur mit ähnlichen Vorbehalten ratifiziert. Diesen Forderungen wurde seitens der internationalen Tribunale auch nachgegeben, denn sonst hätte es die erforderliche Anerkennung ihrer Rechtsprechung nicht gegeben. Allgemein kann man sagen, die USA nehmen sich bei der Ratifizierung von internationalen Verträgen mit Hilfe von wesentlichen Vorbehalten stets davon aus, diese später auch einhalten zu müssen.

Können die Beweise erbracht werden? Es hat wenig Sinn, diese Frage abstrakt zu diskutieren. Doch es gibt ein paar seltene Fälle, in denen das erreicht wurde. In der Nachkriegszeit gab es zwei Fälle der Gewaltanwendung, die man zwar nicht als humanitäre Intervention bezeichnen kann, die zu unterstützen aber legitim war: Indiens Einfall in Ostpakistan im Jahre 1971, und Vietnams Einmarsch in Kambodscha im Dezember 1978. Beides endete in schlimmen Gräueltaten. Diese Beispiele werden vom Westen aber nicht als humanitäre Interventionen betrachtet, weil sie einen Makel hatten – sie wurden nämlich nicht vom Westen ausgeführt. Im Gegenteil, die USA waren strikt dagegen und bestrafte erbittert die Schurken, die den Massenmorden im heutigen Bangladesch ein Ende setzten und Pol Pot auf dem Höhepunkt seiner Gräueltaten aus dem Lande jagten. Vietnam wurde nicht nur verurteilt, sondern auch abgestraft, indem die USA eine chinesische Invasion dort förderten und gemeinsam mit Großbritannien die Roten Khmer militärisch und diplomatisch unterstützten, die Kambodscha von Stützpunkten in Thailand aus angriffen.

Die Beweise mögen in diesen Fällen erbracht sein, in anderen dagegen ist es nicht so einfach. Bei der aktuellen Intervention in Libyen, mit der die drei Westmächte gegen die UN-Resolution 1973 verstoßen, ist eine Beweiserbringung besonders zwingend, da die Beteiligten schon üble Dinge auf dem Kerbholz haben. Man kann allerdings nicht behaupten, überzeugende Beweise könnten hier niemals erbracht werden. Außer natürlich, wir betrachten die Nationalstaaten in ihrer gegenwärtigen Form als mehr oder weniger heilig. Ein bevorstehendes Massaker in Bengasi zu verhindern ist keine kleine Sache, was immer man von den Motiven hält.

3. Wenn jemand ein Massaker an den Dissidenten eines Landes verhindern möchte, damit Selbstbestimmung erreichen können – kann er dann überhaupt eine beabsichtigte Intervention legitim ablehnen, wenn diese zum Ziel hat, eben dieses Massaker zu verhindern?

Selbst wenn wir um des Argumentes willen einmal annehmen, die Absicht wäre ehrlich und erfülle das simple Kriterium, das ich eingangs beschrieben habe, dann sehe ich immer noch keine Möglichkeit, diese Frage so abstrakt zu beantworten wie sie gestellt wird. Es hängt von den Umständen ab. Man kann die Intervention zum Beispiel ablehnen, wenn absehbar ist, dass sie zu einem noch viel größeren Massaker führen wird. Nehmen wir zum Beispiel an, die US-Führung wäre 1956 ehrlich derart  interessiert gewesen, ein Gemetzel in Ungarn zu verhindern, dass sie Moskau bombardiert hätten. Oder der Kreml wäre in den 1980er Jahren ehrlich derart  interessiert gewesen, eine Gemetzel in El Salvador zu verhindern, dass sie die USA bombardiert hätten. Wenn man die vorhersehbaren Konsequenzen eines solchen Eingreifens betrachtet, wird wohl jeder zustimmen, dass diese (unvorstellbaren) Handlungen völlig legitim abgelehnt werden könnten.

4. Viele sehen eine Analogie zwischen der Intervention im Kosovo 1999 und dem gegenwärtigen Eingreifen in Libyen. Könnten Sie bitte zuerst die wesentlichen Übereinstimmungen darlegen, und dann die wichtigsten Unterschiede?

Es stimmt, viele Leute sehen eine solche Analogie, und zwar dank der unerhörten Macht des westlichen Propagandasystems. Der Hintergrund für die Kosovo-Intervention ist zufällig ungewöhnlich gut dokumentiert. Dazu gehören zwei ausführliche Sammlungen des US-Außenministeriums, umfangreiche Berichte von (westlichen) Bodenberichterstattern der Kosovo Verification Mission, reichhaltige Quellen der NATO und der UNO, eine britische Parlamentsanfrage und vieles mehr. Die Berichte und Studien sind, was die Fakten angeht, ausgesprochen übereinstimmend.

Kurz gesagt, gab es keine wesentlichen Änderungen in den Monaten vor der Bombardierung. Gräueltaten wurden sowohl von den Serben als auch den UCK-Kämpfern begangen, die meist vom benachbarten Albanien aus angriffen. Letztere waren im relevanten Zeitraum die aktivere Seite, jedenfalls laut hochrangigen britischen Behörden (die Briten waren im Kosovo die kriegsversessensten unter den Alliierten). Die schlimmsten Gräueltaten im Kosovo waren nicht der Grund für die Bombardierung Serbiens durch die NATO, sondern eher deren Folge, und zwar eine genau vorausgesehene. NATO-Oberbefehlshaber General Wesley Clark hatte das Weiße Haus Wochen vor der Bombardierung davon in Kenntnis gesetzt, dass die serbischen Bodentruppen mit brutaler Gewalt darauf reagieren würden, und als die Bombenangriffe begannen, sagte er gegenüber der Presse, dass diese Reaktion “vorhersagbar” gewesen sei.

Den ersten von der UNO registrierten Flüchtlingen außerhalb des Kosovo ging es gut, nachdem das Bombardement begann. Die Anklage gegen Milosevic während der Bombardierung beruhte weitgehend auf Informationen des US-amerikanischen und des britischen Geheimdienstes und beschränkte sich mit einer Ausnahme auf Verbrechen, die nach der Bombardierung begangen worden waren. Die Anklage konnte von den der Führungen der USA und Großbritanniens, wie wir wissen, nicht ernstgenommen werden, da sie gleichzeitig aktiv Verbrechen unterstützten, die noch viel schlimmer waren. Weiterhin gab es guten Grund anzunehmen, dass eine diplomatische Lösung in greifbarer Nähe gewesen wäre, denn die UNO-Resolution, die nach 78 Tagen Bombardierung verabschiedet wurde, war ein klarer Kompromiss zwischen der serbischen und der NATO-Position vor der Bombardierung.

All das ist unter Nennung dieser untadeligen westlichen Quellen detailliert in meinem Buch A New Generation Draws the Line ausgeführt. Unterstützende Informationen sind seitdem neu hinzugekommen. So berichtet Diana Johnstone von einem Brief, der am 26.Oktober 2007 an Bundeskanzlerin Angela Merkel gerichtet wurde, verfasst von Dietmar Hartwig, der die europäische Beobachtungsmission im Kosovo geleitet hatte, bevor diese am 20.März, auf Ankündigung der Bombardierung hin, beendet wurde. Er wusste auf Grund seiner Position sehr genau Bescheid, was vor Ort Sache war, und schrieb:

“Nicht ein einziger Bericht, der im Zeitraum zwischen Ende November 1998 bis zur Evakuierung am Vorabend des Krieges einging, erwähnte größere oder systematische Verbrechen, welche die Serben an den Albanern begangen hätten, oder bezog sich auf Völkermord oder völkermordähnliche Vorkommnisse oder Verbrechen. Ganz im Gegenteil, in meinen Berichten habe ich wiederholt informiert, dass die Gesetzeshüter der serbischen Exekutive angesichts der immer häufigeren UCK-Angriffe gegen sie eine bemerkenswerte Zurückhaltung und Disziplin an den Tag legten. Das klare und oft geäußerte Ziel der serbischen Regierung war es, sich buchstabengetreu an das Milosevic-Holbrooke-Abkommen [vom Oktober 1998] zu halten, um der internationalen Gemeinschaft keinen Grund für eine Intervention zu bieten. … Es gab enorme “Wahrnehmungsdiskrepanzen” zwischen dem, was die Missionen im Kosovo ihren Regierungen und Hauptstädten berichteten, und was diese dann über die Medien in der Öffentlichkeit verbreiten ließen. Diese Diskrepanz kann nur als Beitrag zur langfristigen Vorbereitung eines Krieges gegen Jugoslawien betrachtet werden. Bis ich den Kosovo verließ, geschah nichts von dem, was die Medien und ebenso unablässig die Politiker immer wieder behaupteten. Entsprechend gab es bis zum 20. März 1999 keinen Grund für eine militärische Intervention, wodurch die danach vorgenommenen Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft illegitim waren. Das gemeinsame Verhalten der EU-Mitgliedsstaaten vor und nach Kriegsbeginn gibt Anlass zu großer Sorge, denn die Wahrheit wurde unterdrückt, und die EU verlor Glaubwürdigkeit.”

Geschichte ist nicht Quantenphysik, und es bleibt immer jede Menge Raum für Zweifel. Aber nur selten stehen Schlussfolgerungen auf so sicherem Faktenboden wie in diesem Fall. Bezeichnenderweise ist das alles jedoch vollkommen irrelevant. Die vorherrschende Doktrin besagt, dass die NATO intervenierte, um ethnische Säuberungen Einhalt zu unterbinden – wobei Befürworter der Bombardierung, die sich zumindest ein wenig von den reichlich vorhandenen, beweiskräftigen Fakten beeinflussen lassen, ihre Befürwortung dahingehend modifizieren, dass die Bombardierung notwendig war, um mögliche Gräueltaten zu verhindern. Wir müssen also Gräueltaten in großem Maßstab auslösen, um Gräueltaten zu verhindern, die begangen werden könnten, falls wir nicht bombardieren – es gibt durchaus noch schockierendere Rechtfertigungsversuche.

Der Grund für diese weitgehende Einstimmigkeit und Leidenschaft ist recht klar. Die Bombardierung erfolgte nach einer regelrechten Orgie der Selbstglorifizierung und Machtanbetung, die womöglich Kim Il Sung beeindruckte. Ich habe das anderswo schon geäußert, und dieser bemerkenswerte Moment der intellektuellen Geschichtsschreibung sollte nicht der Vergessenheit anheimfallen, wie es wohl gewünscht wird. Nach dieser Show musste es einfach eine ebenso glorreiche Auflösung geben. Die edle Kosovo-Intervention bot die Gelegenheit dafür, und es wird sorgfältig darauf geachtet, dass dieses Märchen Bestand hat.

Aber zurück zu der Frage, ob es eine Analogie gibt. Die gibt es, und zwar besteht sie in der eigennützigen Darstellung beider Ereignisse, bei welcher die Fiktion erzeugt wird, beide Interventionen seien von edlen Absichten geleitet worden. Die unerwünschte Wirklichkeit lässt ganz andere Analogien vermuten.

5. Viele Leute sehen auch eine Analogie zur Irak-Intervention. Können Sie auch hier die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede darlegen?

Ich sehe auch hier keine bedeutsame Analogie, außer, dass zwei Staaten beteiligt sind, die auch im Irak beteiligt waren. Im Irak waren die Ziele jene, die dann auch erreicht wurden. In Libyen könnte es sein, dass die Ziele zumindest in einem Aspekt dieselben sind: die Hoffnung, dass ein verlässliches Klientenregime zuverlässig die Ziele des Westens unterstützen wird und westlichen Investoren den Zugang zu Libyens reichen Ölvorkommen zu ermöglichen, die wohlgemerkt möglicherweise noch weit größer sind als bisher bekannt ist.

6. Was wird Ihrer Meinung nach in den kommenden Wochen in Libyen geschehen, und in diesem Zusammenhang: Was sollten hinsichtlich der US-Politik die Ziele einer anti-interventionistischen und Anti-Kriegsbewegung sein?

Es bleibt natürlich ungewiss, aber wie es momentan aussieht (29.März), wird Libyen entweder aufgeteilt in einen ölreichen Ostteil mit starker Abhängigkeit von den westlichen Weltmächten und einen verarmten Westteil unter der Kontrolle eines brutalen Tyrannen mit schwindender Macht, oder ein Sieg der vom Westen unterstützten Kräfte. In jedem Falle, so hofft es wahrscheinlich das Triumvirat, wird ein weniger schwieriges und abhängigeres Regime an die Macht kommen. Das wahrscheinliche Resultat wird von dem in London herausgegebenen arabischen Journal al-Quds al-Arabi (28.März) recht gut beschrieben. Unter Vorbehalt des Unvorhersehbaren vermuten sie, dass Libyen nach der Intervention in zwei Staaten aufgeteilt sein wird – einen von den Rebellen gehaltenen ölreichen Osten und einen von Armut geplagten Westen unter der Führung von Gaddafi … Da die Ölquellen bereits in Beschlag genommen wurden, könnten wir ein neues libysches Ölemirat erleben: dünn besiedelt, vom Westen geschützt und den Emiraten am Golf sehr ähnlich.” Oder die vom Westen unterstützte Rebellion geht sogar weiter bis zur Eliminierung des lästigen Diktators.

Wer für Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie ist, der sollte die Libyer bei ihren Bemühungen unterstützen, ihre Zukunft ohne Einschränkungen durch das Ausland selbst zu gestalten. Wir haben natürlich unsere Hoffnungen, welchen Weg sie einschlagen könnten, aber ihre Zukunft sollte ganz allein in ihren Händen liegen.


Der Artikel erschien im Original am 30. März 2011 unter dem Titel On Libya and the Unfolding Crises bei chomsky.info.

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Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert. Zugleich ist er einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung und des US-Imperialismus.

Übersetzung: Hintergrund – mit freundlicher Genehmigung des Autors

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