Sozialabbau

Alltag in der Krise

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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In Griechenland haben Sparmaßnahmen und Austerität das tägliche Leben der Bevölkerung drastisch verändert. Die Protestbewegung aber ist nach dem Scheitern der linken Syriza-Regierung um Jahre zurückgefallen –
 
Von HEIKE SCHRADER, Athen, 20. August 2015 – 

Es gibt Dinge, die haben sich nicht geändert. Wie jedes Jahr bringt auch in diesem die heiße Sommersonne den Asphalt von Athen zum Kochen. Und die meisten der Einheimischen haben auch dieses Jahr im August die griechische Hauptstadt verlassen. Wobei sich die wenigsten noch Ferien in einem der zahlreichen Urlaubsparadiese des Inselstaates am Mittelmeer leisten können.

Der Protest gegen das Krisenregime geht weiter, wenn auch die Massenbewegung noch ausbleibt – Mitglieder der linken Gruppe Antarsya in Athen

Nach fünf Jahren „Krise“ fährt man allenfalls noch in das in besseren Zeiten erworbene oder geerbte Häuschen im Heimatdorf oder kommt gleich bei Verwandten unter. Wenn selbst das nicht geht, bleiben einem noch die mit der Tram erreichbaren Strände im Süden Athens. Die wurden früher vor allem von den seit Jahrzehnten im Land lebenden Migranten aus den nördlichen Nachbarländern frequentiert. Seit mit der Krise klassische Migrationsarbeitsfelder wie die Baubranche fast vollständig zum Erliegen gekommen sind, sind viele von ihnen jedoch nach Albanien, Rumänien oder Bulgarien zurück gegangen. Ihren Platz – an den Stränden, aber auch generell im sozialen Randbereich der griechischen Gesellschaft – haben nun Einheimische eingenommen, die im Laufe von fünf Jahren Austeritätspolitik beträchtliche Einbußen bei der eigenen Lebensqualität hinnehmen mussten.

Die Folgen der Bankenschließung im Juli spielen dabei allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Wenn die Athener Börse nach einem Monat Zwangsschließung mit einem erdrutschartigen Kurssturz wieder in Betrieb ging, dürfte das der Mehrheit der Griechen gelinde gesagt am Allerwertesten vorbei gegangen sein. Und mit den wesentlich mehr Menschen betreffenden Einschränkungen im Bankverkehr war man in den Wochen zuvor geradezu beispielhaft gelassen umgegangen. Die von den Medien im In- und Ausland so sehnsüchtig herbeigewünschten Bilder wütender Rentner vor geschlossenen Schaltern blieben aus. Stattdessen hatte sich das Warten in den kurzen Schlangen vor den Bankautomaten zum humorvoll kommentierten Wahrzeichen des Alltags entwickelt. Statt im traditionellen Kaffeehaus traf man sich in der Nachbarschaft nun eben zum Plausch am Bankautomaten.

Seitdem man die täglich erlaubten 60 Euro neuerdings an jedem beliebigen Tag als gebündelte Wochenration von 420 Euro beziehen kann, erkennt man Banken im Vorbeifahren nicht mehr an einem halben Dutzend in Reihe stehender Menschen auf dem Bürgersteig. Vom Verbot des Geldtransfers in Ausland betroffen sind auch hier wieder vor allem Migranten. Während für im Ausland studierende Griechen Ausnahmeregelungen gelten, gibt es für die Hunderttausenden Arbeitsmigranten derzeit keine legale Möglichkeit, ihren im Herkunftsland verbliebenen Familien finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Die Beschränkungen bei der Bezahlung von Importgütern – vor allem für die einheimische verarbeitende Industrie – sind dagegen bereits wieder auf ein erträgliches Maß gelockert worden. Trotzdem haben viele Firmen ihre Produktion gedrosselt und Mitarbeiter entlassen oder zumindest in den Zwangsurlaub geschickt. Über das Maß der in der Krise „normal“ gewordenen Engpässe hinausgehende Versorgungsprobleme beim Bezug beispielsweise von Arzneimitteln sind aber nicht zu verzeichnen.

Das von der laut Eigenwerbung „ersten linken Regierung in Europa“ eingegangene Gläubigerabkommen enthält jedoch eine ganze Reihe weiterer Einschnitte, die fast alle der über 12 Millionen Menschen in Griechenland betreffen. Einige davon sind bereits spürbar, die Auswirkungen anderer werden erst im Laufe der nächsten Monate durchschlagen: Der Frau neben mir im Supermarkt war neulich sichtlich die Kinnlade runtergefallen. „Das war’s mit Filterkaffee“, hatte sie ihrem Mann angesichts des von etwa vier auf über fünf Euro hochgeschnellten Preises für das halbe Pfund aromatisierten Muntermachers kategorisch erklärt. Er, ebenfalls sichtlich geschockt, erwiderte, demnächst könne man sich wohl nur noch selbst gesammelten Bergtee leisten. Letztendlich aber war dann doch noch ein Päckchen griechischen Kaffees in den Einkaufskorb gewandert, bei dem die Mehrwertsteuererhöhung von 13 auf 23 Prozent für verarbeitete Lebensmittel nicht ganz so bitter durchgeschlagen war.

Die insbesondere die schwächeren Schichten belastende asozialste aller Steuererhöhungen, die der Mehrwertsteuer, hat unmittelbare Folgen für fast alle Bereiche des Lebens. Verschont geblieben sind nur wenige Grundnahrungsmittel, Medikamente und Strom. Beim Wasser bleibt zwar das verbrauchte im ermäßigten Satz von 13, das Abwasser aber wird nun mit dem Hauptsteuersatz von 23 Prozent belastet. Auch der als vielleicht letzter Luxus verbliebene Besuch in der Taverne wird teurer: Er könne die Erhöhung von 13 auf 23 Prozent für Speisen und Getränke unmöglich auffangen, meint Manolis, der eine kleine Taverne im vorwiegend von Arbeitern und Angestellten bewohnten Stadtviertel Agioi Anargyroi im Nordwesten der Hauptstadt betreibt. „Sonst arbeite ich nur noch für Steuer, Personallöhne und Krankenkassenbeiträge.“ Alle Preise hat Manolis, der ausschließlich von der Kundschaft aus dem Viertel lebt, aber nicht angehoben. „Beim Kaffee beispielsweise war noch Spielraum“, meint er, fügt aber gleich hinzu, er wisse nicht, wie lange er den noch aufhalten könne.

Von seiner Regierung ist Manolis enttäuscht. „Ok, niemand hatte erwartet, dass Tsipras all seine Wahlversprechen einlösen würde“, lautet sein Kommentar, der sich mit dem der allermeisten deckt, die Syriza im Januar ihre Stimme gegeben haben. „Aber dass gar nichts umgesetzt und alles nur noch schlimmer werde, damit hatte ich nicht gerechnet.“ Trotzdem wird er bei den immer wahrscheinlicher werdenden Neuwahlen noch innerhalb dieses Jahres erneut Syriza wählen. „Die anderen haben die Austerität doch im Programm, Tsipras versucht zumindest immer noch dagegen anzukämpfen.“ Große Stücke hält er, wie viele andere, auf die als Hardlinerin geltende, kompromisslose Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou. „Die hätte man in die Verhandlungen schicken müssen, die hätte denen mal so richtig Dampf gemacht.“

Was Widerstand und soziale Kämpfe angeht, scheint das Land um Jahre zurück geworfen zu sein. Nur zögerlich setzt sich bei den Gewerkschaften das Bewusstsein durch, dass der Klassenkampf nun auch wieder gegen die eigene, linke Regierung zu führen ist. Kleine Funken, wie der halbtägige Ausstand, mit dem sich die Eisenbahner Anfang August gegen die geplante Privatisierung der griechischen Bahn wehrten, haben jedoch nicht die Kraft, einen gewerkschaftlichen Flächenbrand gegen die neuen Gläubigervereinbarungen anzufachen.

Der linksdominierte Gewerkschaftsdachverband im öffentlichen Dienst, ADEDY, warnt dagegen bereits seit längerem vor den Folgen des schrittweisen Zurückweichens der Regierung. Der Dachverband gehörte auch zu den Mitorganisatoren der Demonstrationen, die Tsipras unmittelbar nach seinem Einknicken an das „Große Nein“ der griechischen Bevölkerung im Referendum vom 5. Juli erinnert hatten. Dazu ließen sich zwei Wochen später allerdings nur ein kleiner Teil derjenigen mobilisieren, die im Referendum mit ihrer Stimme der Unterwerfung unter das Gläubigerdiktat eine Absage erteilt hatten. „Ist doch klar, die meisten davon haben im Januar Syriza gewählt“, kommentierte ein Demonstrant das Fehlen der Massen bei der ersten Demonstration gegen die eigene Regierung. „Die meisten davon müssen jetzt erst wieder nach und nach im Kampf gegen jede einzelne Maßnahme mobilisiert werden“, setzte der an seinem Outfit unverkennbar als Mitglied der großen anarchistischen Szene des Landes erkennbare junge Mann hinzu. „Das Gute ist, dass die meisten jetzt erkannt haben, was die EU wirklich ist: eine klare Vertreterin imperialistischer Interessen.“

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Die traditionsreiche Kommunistische Partei Griechenlands, KKE und ihre starke Gewerkschaftsfront PAME sind davon bereits seit Gründung der EU überzeugt und werben konsequent für einen Austritt aus der Gemeinschaft und ihrer Währung. Seitdem sich auch der linke Flügel von Syriza für einen solchen stark macht, soll dieser allerdings nur unter der Bedingung übergangsloser, vollständiger Einführung sozialistischer Verhältnisse eine Lösung sein. Pläne, wie die von den Syriza-Linken vorgeschlagenen, seien eventuell sogar schlimmer als die Memoranden, denn die Rückkehr zur nationalen Währung unter kapitalistischen Verhältnissen würde unweigerlich zur “Abwertung von über 50 Prozent” und damit zur entsprechenden Minderung des Einkommens der Lohnabhängigen führen, ließ KKE-Generalsekretär Dimitris Koutsoubas verlauten. Eine Zusammenarbeit mit den anderen oppositionellen Kräften im linken Raum Griechenlands kommt für KKE und PAME unter keinen Umständen in Frage.

Hoffnung macht unter diesen Umständen vor allem der Umgang der Einheimischen mit denen im Lande, die noch schlechter dran sind, als man selbst. Anders als in Deutschland, wo es immer wieder zu Angriffen auf Flüchtlingsheime kommt, schlägt den täglich zu hunderten auf den Inseln strandenden Menschen aus Kriegs- und anderen Krisengebieten hier eine breite Welle an Solidarität entgegen. Eines dieser Beispiele ließ sich im August sogar mitten in der Hauptstadt verfolgen. Mehr als 500 aus Afghanistan geflüchtete Menschen, darunter etwa 150 Kinder wurden über Wochen ausschließlich in selbstorganisierter Solidarität in einem Zeltlager mitten im Hauptstadtpark versorgt. Auf Twitter wurde quasi in Echtzeit über die jeweiligen Bedürfnisse informiert, das Spendenaufkommen war so hoch, dass überschüssige Mittel sogar in Flüchtlingslager auf den Inseln und im östlich von Athen gelegenen Lavrion abgegeben werden konnte. Volksküchen und eine eigens gegründete Küchenbrigade stellten täglich zwei Mahlzeiten bereit, in einem eigens errichteten Sanizelt versorgten Ärzte die Flüchtlinge unentgeltlich. Beim Bau beispielsweise von Duschen und der zweimal täglichen Abfallbeseitigung auf dem gesamten Gelände arbeiteten solidarische Aktivisten und Flüchtlinge Hand in Hand. Die laut Eigenwerbung „erste linke Regierung in Europa“ dagegen glänzte durch Abwesenheit. Ihr einziger Beitrag bestand in sieben Chemietoiletten, die die Gemeinde Athens den Flüchtlingen zur Verfügung stellte.

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