Aufgeblähter Sozialstaat? Eine Lüge mit Folgen
Die GroKo will wieder bei den Armen kürzen. Denn angeblich explodieren die Bürgergeldkosten. Doch das ist falsch, wie Daten belegen – aber ein treffliches Rekrutierungsprogramm fürs Militär.
Foto: geralt; Quelle: pixabay; LizenzDie Bundesregierung unter dem neoliberalen Hardliner Friedrich Merz, Ex-Aufsichtsratschef von BlackRock Deutschland, bläst zum Sturm gegen die Ärmsten. „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“, tönte der CDU-Kanzler auf einer Parteiveranstaltung Ende August. 1 Seine Partei will das bereits gestutzte Sozialsystem weiter erodieren – wohl nicht zuletzt mit dem Kalkül, arme Jugendliche in den „freiwilligen“ Wehrdienst zu treiben.
Nicht nur Merz bespielt die bekannte Rahmenerzählung in Dauerschleife, um breiten Zuspruch für das arbeiterfeindliche Vorhaben zu erhaschen: Der Sozialstaat werde immer teurer, weil die Arbeitslosen so träge seien. Das ist eine glatte Lüge, die bewusst mit nominalen Zahlenspielen täuscht und die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten ausblendet.
Hungersanktionen
Auf dem Rücken der Schwächsten lässt sich prima Politik machen. Union und SPD sind darin ein eingespieltes Team. Beim letzten Wahlkampf nutzten sie den Frust in der Bevölkerung über die politisch produzierte Energiekrise, die Strom, Gas und Nahrungsmittel enorm verteuerte, um wieder einmal gegen Arme zu hetzen, vor allem Bürgergeldbezieher.
Für Bundeskanzler Merz ist das nichts Neues. Schon 2008 propagierte er medienwirksam, ein Regelsatz von 132 Euro sei genug für Hartz-IV-Bezieher, um „die Faulpelze“ in den Niedriglohnsektor zu zwingen. 2 In den neuen Koalitionsvertrag 3 mit der SPD brachte die Union ein ganzes Paket antisozialer Schikanen ein, verbunden mit Steuergeschenken für Superreiche und milliardenschwerer Aufrüstung. Die SPD nickte ab.
Die aktuelle GroKo will die Repressionen finsterster Hartz-IV-Zeiten sogar noch überbieten: mit einer weiteren Nullrunde und Hungersanktionen bis zur dauerhaften Streichung jeder Hilfe beim geringsten Ungehorsam, mit Kürzungen der Mietbeihilfe trotz steigender Kosten und mit der Streichung eines großen Teils des befristet zugestandenen Schonvermögens. 4 Die Folgen sind absehbar: mehr Armut, Sucht und Kriminalität. Man hört schon das Ge- schrei nach noch mehr Überwachung.
Propagandalügen
Um den geplanten Sozialabbau zu legitimieren und möglichen Widerstand dagegen im Keim zu ersticken, blasen die Leitmedien eifrig ins Propagandarohr. So titelte das Axel-Springer-Boulevardblatt Bild Anfang August unter der Dachzeile „Ausgaben explodieren“: „Der Wohnkostenwahnsinn mit dem Bürgergeld–Experte: Jobcenter könnte Villa am Starnberger See finanzieren“. 5 Dass gar kein Anspruch auf Bürgergeld hat, wer eine Villa besitzt: geschenkt.
Die Tagesschau verbreitet die gleiche Botschaft, nur dezenter. Etwa zur gleichen Zeit berichtete sie zum Beispiel, dass die Gesamtausgaben für das Bürgergeld bereits 2024 nah an der 50-Milliarden-Marke gelegen hätten und diese in diesem Jahr wohl übersteigen würden. 6 „Diese Zahl muss runter“, zitierte sie den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Der setzt auf Bauchgefühl statt Evidenz: Jeder kenne doch wohl Leute, die das Geld in Wahrheit gar nicht bräuchten. Ist das so?
Diese Strategie der Stimmungsmache ist bekannt: Man verpackt Botschaften in Behauptungen von Politikern und „Experten“ und stellt sie dann nicht richtig. So ging auch der Münchner Merkur am 13. August vor, als er titelte: „Arbeitsministerin Bas kündigt härtere Sanktionen beim Bürgergeld an – ‚Muss Wirkung haben'“. 7 Die gewünschte Wirkung solcher Überschriften liegt auf der Hand: Der Bürgergeldbezieher sei der zu bekämpfende Feind der Gesellschaft, nicht etwa die milliardenschweren Profiteure. Klar, das Kapital braucht billige Arbeiter, die nur nach unten treten.
Täuschen mit Zahlen
Um das vermeintliche „Schmarotzertum“ der Arbeitslosen pseudowissenschaftlich zu „untermauern“, dient die Propagandamär vom aufgeblähten Sozialstaat. Der Trick ist leicht durchschaubar, aber wirksam: Die Propagandisten vergleichen nominale Zahlen und blenden die Inflation aus. Wenn man den Leuten nur erzählt, dass die Bürgergeldausgaben des Bundes von 42,1 Milliarden Euro im Jahr 2015 auf 46,9 Milliarden im vergangenen Jahr gestiegen seien, klingt das nach einer Kostenexplosion. Dass die Teuerung besonders bei Waren für den Grundbedarf viel höher war, verschweigt die Presse. Sonst würde sie zugeben müssen: Der Bürgergeldetat ist real nicht „explodiert“, sondern geschrumpft.
Tatsächlich ist der Geldwert in den letzten Jahren rapide gesunken, während die Preise entsprechend gestiegen sind. Wer diese Inflation nicht einbezieht, täuscht seine Leserschaft. So könnte man mit derlei Zahlentricks auch dazu aufrufen, nicht länger für höhere Mindestlöhne zu kämpfen. Denn schließlich waren Arbeiter vor 30 Jahren mit einem Bruttoeinkommen von 2.000 D-Mark, umgerechnet gut 1.000 Euro, zufrieden. Man könnte behaupten, eine Mietbeihilfe von 350 Euro für Bürgergeldbezieher sei genug, weil eine Einraumwohnung in der Provinz vor zehn Jahren so viel kostete – auch wenn die Bleibe heute doppelt so teuer ist.
Ignorierte Teuerung
Bezieht man die Teuerung also ein, sind die Gesamtausgaben für die Grundsicherung von Arbeitssuchenden, wie das einstige Hartz IV und heutige Bürgergeld amtlich heißen, sogar massiv gesunken. Ein paar statistische Zahlen: Vor 15 Jahren gab der Staat nominal genauso viel dafür aus wie 2024: 46,9 Milliarden Euro. 8 Die Inflation stieg seither laut offizieller Statistik um 35,4 Prozentpunkte. 9 Wären die Ausgaben vom Wert her gleich geblieben, müssten sie heute bei über 63 Milliarden Euro liegen. Mit anderen Worten: Der reale Bürgergeldetat ist seit 2010 nicht etwa gestiegen, sondern um mehr als ein Drittel gesunken.
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SUSAN BONATH, geboren 1971 in Magdeburg, ist gelernte Keramikmalerin und seit 2004 für verschiedene Medien tätig. Derzeit schreibt sie vorrangig für RT DE, mit Schwerpunkt deutsche Innenpolitik, vor allem Soziales, Klassenkampf und -analyse sowie soziale Bewegungen.
1 https://www.deutschlandfunk.de/merz-sozialstaat-von-heute-nicht-mehr- finanzierbar-100.html
2 https://www.welt.de/politik/article2433139/Arbeitsmarkt-Friedrich-Merz-haelt- 132-Euro-Hartz-IV-fuer-genug.html
3 https://www.koalitionsvertrag2025.de/
4 https://www.fr.de/wirtschaft/streit-um-buergergeld-kuerzungen-bas-ministerium-
kritisiert-merz-plan-93897480.html; https://www.merkur.de/wirtschaft/ mietkosten-beim-buergergeld-explodieren-merz-regierung-streitet-um- sparmassnahmen-zr-93897419.html
5 https://www.bild.de/politik/inland/buergergeld-wahnsinn-jobcenter-koennte-villa- am-starnberger-see-finanzieren-6891c09d25b84e6d4210afd3
6 https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buergergeld-kuerzungen-102.html
7 https://www.merkur.de/wirtschaft/arbeitsministerin-bas-kuendigt-haertere-
sanktionen-beim-buergergeld-an-muss-wirkung-haben-93879840.html
8 https://www.merkur.de/wirtschaft/arbeitsministerin-bas-kuendigt-haertere-
sanktionen-beim-buergergeld-an-muss-wirkung-haben-93879840.html
9 https://www.finanz-tools.de/inflation/inflationsraten-deutschland