Finanzwelt

Finanzmärkte? Welche Finanzmärkte?

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Von VICENÇ NAVARRO, 1. Juni 2010 –

Die Sprache, mit der die gegenwärtige Finanzkrise erklärt wird, ist eine Sprache, die neutral und rein technisch erscheint, während sie tatsächlich höchst politisch ist. So wird uns etwa gesagt,  dass die „Finanzmärkte“ die Staaten der Europäischen Union und insbesondere die Mittelmeerstaaten – Griechenland, Portugal und Spanien, aber auch Irland – dazu zwängen, eine Politik strikter Sparmaßnahmen zu verfolgen, um ihre Defizite und die Staatsverschuldung mit dem Ziel zu reduzieren, das Vertrauen der Märkte wieder zu gewinnen, was wiederum notwendige Bedingung sei, eine wirtschaftliche Erholung zu erreichen. So sagte der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Jean-Claude Trichet vor wenigen Tagen: „Die Bedingung für die wirtschaftliche Erholung ist fiskalische Disziplin, ohne die die Finanzmärkte kein Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der Staaten haben.“ (1)

Die Wirklichkeit  ist ohne Zweifel eine ganz andere. Die Sparmaßnahmen, für die der internationale Währungsfonds und die Europäische Union werben, bedeuten eine deutliche Verschlechterung der Lebensbedingungen der breiter Schichten des Volkes, schädigen deshalb den sozialen Schutz und vernichten Arbeitsplätze, was wiederum die Chancen für wirtschaftliche Erholung mindert. So war es etwa in Litauen, wo sich das Bruttosozialprodukt um 17 Prozent verringerte und die Arbeitslosigkeit auf 22 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung anstieg. (2) Eine ähnliche Situation wird in den zuvor genannten Ländern eintreten.

Es sieht also so aus, als würden die Finanzmärkte den Regierungen diese Politik diktieren.  Aber: was ist mit der Bezeichnung „Finanzmärkte“ eigentlich gemeint? Theoretisch und dem liberalen Dogma zufolge, von dem sich die europäischen Eliten leiten lassen (der Europarat, die Europäische Zentralbank EZB und die europäische Kommission ebenso wie die Mehrheit der Regierungen der Länder der EU) sind die Märkte eine Funktion des freien Handels zwischen den Finanz-Akteuren – den Banken,  die Gewinne erzielen, um sie für eingegangene Risiken zu entschädigen, wobei unterstellt wird,  dass auf diesen Märkten Risiken für die Akteure bestehen. Aber eine solche Rhetorik entspricht nicht der Wirklichkeit, da diese Einheiten – die Banken – innerhalb von Umgebungen und Institutionen operieren, die ihre Interessen umfassend schützen und in denen jede Form von Risiko im wesentlichen durch Abwesenheit glänzt. In Wahrheit haben die so genannten Märkte so gut wie keine Merkmale eines Marktes. Das derzeitige Geschehen unterstreicht, wie zutreffend diese Diagnose ist.

In den Vereinigten Staaten, wo weithin Übereinstimmung darüber herrscht,  dass das Verhalten der Wall Street die Finanzkrise auslöste, wurde die Bankenkrise gelöst, indem der Staat fast eine Billion US-Dollar an die Banken zahlte, wovon die Bankiers und die Aktionäre der Banken enorm profitierten und was ihnen zum Teil größere Gewinne bescherte als vor der Krise. Diese obszönen Gewinne und die unaufrichtigen und kriminellen Praktiken der Bankiers (die die Krise verursachten) erklären ihre überaus schlechte Reputation, sowie die Unpopularität jener Maßnahmen, die keine positiven Auswirkungen für die breite Öffentlichkeit hatten. Statt dessen mussten die Menschen erleben, wie sich ihr Lebensstandard aufgrund der durch die Banken verursachten Krise verschlechterte. Es waren nicht die Märkte, sondern die Banken und ihre Politiker im Kongress (namentlich bekannt und identifiziert) und in den Regierungen Clinton, Bush und Obama (ebenfalls namentlich bekannt und identifiziert), die die Krise entstehen ließen, die Banken retteten und jetzt zu Sparsamkeit aufrufen.

Eine fast identische Situation lässt  sich in der EU beobachten. Das spekulative Verhalten der europäischen Banken war die Folge politischer Entscheidungen, die das Bankwesen deregulierten. Diese Entscheidungen wurden nicht nur an der Wall Street, sondern ebenfalls in den europäischen Finanzzentren getroffen, vor allem in der City von London und in Frankfurt, was eine Konsequenz des enormen Einflusses der Banken auf die britische und die deutsche Regierung ist. Die fälschlicherweise „Hilfe“ genannte Bereitstellung von 750 Milliarden Euro durch den Internationalem Währungsfonds und die EU an die Länder in Schwierigkeiten ist keine Hilfe für die Bevölkerungen dieser Länder, sondern an die Banken (insbesondere und vor allem an die deutschen und französischen Banken), um ihnen die Sicherheit zu geben,  dass diese Staaten ihnen ihre Schulden mitsamt der räuberischen Zinsen zurückzahlen werden, die sie fordern. Wenn die Finanzmärkte tatsächlich Märkte wären (und es dementsprechend Wettbewerb gäbe und Entscheidungen mit Risiken verbunden wären), müssten die Banken ihre durch gescheiterte Investitionen verursachten Verluste realisieren.  Wenn beispielsweise die griechische Regierung bankrott ginge, müssten die deutschen Banken die Verluste abschreiben, die durch die Entscheidung entstanden, griechische Staatsanleihen zu kaufen.

Aber solches geschieht an den so genannten Märkten keineswegs – dank einer ganzen Reihe von Institutionen, die die Banken schützen. Die wichtigste dieser Institutionen ist der IWF, der den Staaten Geld leiht, damit diese es an die Banken zahlen. Daher verlieren die Banken nie – ebenso wenig wie in den USA. Diejenigen, die verlieren, sind die breiten Schichten der Bevölkerung, da der IWF von den Regierungen fordert, das Geld von den Aufwendungen für die öffentlichen Dienste abzuziehen, die eben jenen Schichten zugute kommen. Was der IWF damit eigentlich bewirkt, ist ein Transferieren von Mitteln der breiten Volksschichten hin zu den Banken. Das nennt man dann „die Kreditwürdigkeit der Staaten für die Finanzmärkte wiederherstellen“.

Dieser Transfer von Mitteln ist, von seiner Ungerechtigkeit einmal abgesehen, auch enorm ineffizient. Das Scheitern der Politik der Sparsamkeit, die vom IWF für Staaten in der Krise propagiert wird, ist sehr wohl bekannt, was auch das schlechte Ansehen dieser Institution erklärt. Der IWF ist seit der Zeit von Präsident Reagan nach den Worten von Joseph Stieglitz diejenige Finanzinstitution, die den Bevölkerungen der Länder, die ihre „Hilfe“ erhielten, größte Opfer auferlegt hat – mit überaus negativen wirtschaftlichen Ergebnissen. Es sind nicht die Märkte, sondern die Interessen der Banken und ihrer Verbündeten, unter denen der IWF und die Europäische Zentralbank hervorstechen, die diese Opfer beschließen. Wir sollten die Verantwortlichen wenigstens beim Namen nennen.

1) Financial Times 15/5/2010

2) siehe meinen Artikel ‘Wer trägt die Kosten für den Euro/Quien paga los costes del euro?’ auf www.navarro.org


Der Artikel erschien im Original unter dem Titel: ¿Qué mercados financieros? auf der Webseite des Autors, www.vnavarro.org.

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Der Autor:
Vicenç Navarro wurde in Barcelona, Spanien geboren. Er studierte Medizin an der Universität von Barcelona. Er musste Spanien aus politischen Gründen – wegen seiner aktiven Beteiligung am antifaschistischen Untergrund – verlassen. Er studierte Volkswirtschaft am International Institute of Economic Studies, Sozialpolitik in der London School of Economics, Health Administration an der Universität Edinburgh und Public Policy an der Johns Hopkins University. Er ist auch der Direktor des Observatorio Social de España.
In Spanien wurde er außerordentlicher Professor für Wirtschaftswissenschaften in der Compentense Universität in Madrid, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Barcelona und Professor für Politik- und Sozialwissenschaften an der Universität Pompeu Fabra sowie Professor für Gesundheits-und Sozialpolitik an der Johns Hopkins University.

Übersetzung: Hergen Matussik

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