Finanzwelt

Mit Sicherheit Abzocke

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die Assekuranzbranche erleichtert mit vorzeitig geplatzten Altersvorsorgeprodukten ihre Kunden jährlich um Milliardensummen. Kritik von Verbraucherschützern  –

Von RALF WURZBACHER, 16. November 2011 –

Besser nicht Allianz versichert – und Finger weg auch von der Hamburg-Mannheimer, Aachen Münchener, R+V, AXA, und wie sie alle heißen. Wer für sein Alter finanziell vorsorgen will, ist bei der privaten Versicherungswirtschaft ziemlich schlecht aufgehoben. Nach den Ergebnissen einer aktuellen Studie treiben die Anbieter ihre Kunden millionenfach in riskante Anlagen und erleichtern sie systematisch um viel Geld. Allein mit vorzeitig geplatzten Kapitallebens- und Rentenversicherungen soll die Branche in den zurückliegenden zehn Jahren 160 Milliarden Euro eingestrichen haben. Für Gerd Billen, Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV), ist das „staatlich geduldete Wirtschaftskriminalität“.

Die Untersuchung „Bei Abschluss: Verlust?“ wurde Ende vergangener Woche von der Verbraucherzentrale Hamburg vorgestellt. In deren Rahmen hat Andreas Oehler, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Bamberg, anhand einer im April 2011 vorgenommenen Stichprobe von 1.115 frühzeitig gekündigten Verträgen und eines Vergleichs mit sicheren Anlageformen einen Gesamtschaden von „mehr als 160 Milliarden Euro in der abgelaufenen Dekade 2001 bis 2010“ hochgerechnet. Die tatsächlichen Verluste sind mitunter noch größer. Das Modell wurde auf Basis „weitgehend konservativer Datenannahmen“ getroffen, die die Anbieterseite eher begünstigen würden. Zugrund gelegt wurde eine Stornoquote von sechs Prozent. Selbst im Falle eines Vier-Pozent-Anteils vorzeitig aufgelöster Policen hätten sich die Einbußen noch auf „deutlich mehr als 100 Milliarden Euro“ belaufen, heißt es in der Studie.

Hinter den moderat anmutenden Stornoquoten verbergen sich in Wahrheit gewaltige Ausfallraten. Die Werte beziehen sich nicht auf die absolute Zahl vorfristig abgebrochener Kontrakte, sondern spiegeln nur wieder, wie viele Kunden im Schnitt pro Jahr die Segel streichen. Tatsächlich halten demnach nur die allerwenigsten bis zum Ende durch. Nach Oehlers Angaben werden mehr als 75 Prozent aller auf 30 Jahre angelegten Verträge vorzeitig gekündigt und rund 55 Prozent der 20 Jahre laufenden. Bei einer Stornoquote von sechs Prozent wären in der vergangenen Dekade 40 Millionen Kontrakte geplatzt, bei einer Vierprozentrate immerhin 26 Millionen. In vielen Fällen werde gar kein Geld ausgezahlt, oder aber der sogenannte Rückkaufswert falle deutlich geringer aus als die bis dahin getätigten Einzahlungen, schreibt die Hamburger Verbraucherzentrale in einer Medienmitteilung. Über die Angemessenheit der Rückkaufswerte ist seit Jahren ein Rechtsstreit im Gange. Sowohl die Versicherungsreform von 2008 als auch die neuere Rechtsprechung versprechen eigentlich Abhilfe durch geringere Ausfallrisiken für die Verbraucher. Allerdings hat die Versicherungswirtschaft die Urteile nicht anerkannt und höhere Instanzen angerufen. Mit einer Entscheidung vor dem Bundesgerichtshof wird erst im nächsten Jahr gerechnet.

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Einen Reibach machen also bis auf Weiteres die Versicherer und in den seltensten Fällen die Kunden. Oehler beziffert den fälligen Schaden mit durchschnittlich 4.000 Euro. Bereits zum Vertragsstart sei ein „Verlust regelrecht absehbar, da die Abschluss- und Vertriebskosten samt Provisionen den sofortigen Aufbau eines Sparanteils behindern und den in der Werbung gerne hervorgehobenen Zinseszinseffekt deutlich verzögern“, konstatierte der Ökonom. Verstärkt werde dies noch dadurch, dass „laufend Verwaltungskosten von den Einzahlungen des Versicherten einbehalten werden“. Zu den Gründen für vorzeitiges Ausscheiden zählt die Verbraucherzentrale einschneidende Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, Existenzgründung, Immobilienerwerb oder die Erkenntnis, „dass ein schlechter Vertrag unterschrieben wurde“. Laut VZBV-Vorstand Billen offenbart die Studie „dramatische Missstände am Finanzmarkt und deren milliardenschwere Folgen“. Er plädierte am Freitag für stärkere Marktkontrolle und eine staatliche Finanzaufsicht, die auch den Verbraucherschutz zum Ziel habe. Mit einem funktionierenden Frühwarnsystem könnten „falsche Anreize, unfaire Vertriebsmethoden und schädliche Produkte unterbunden werden“.

Oehler spricht von einer „hohen Inflexibilität“, die zu vielen Lebenslagen nicht passe. Zudem seien offenbar vielen Kunden von den Anbietern realistische Schadensschätzungen vorenthalten worden. Auch vor einem Ausstieg „scheinen wohl Beratungs- und Informationsdefizite vorzuliegen, in welchem Ausmaß, vor allem zu späten Zeitpunkten, welche Schäden entstehen“. Neben mangelnder Aufklärung und Transparenz benennt der Wissenschaftler ein weiteres „großes Defizit in der deutschen Verbraucherfinanzwirklichkeit: Viele Verträge erbringen faktisch für die Versicherten gigantische Verluste, die durch einfache, preiswerte und flexible Lösungen vermeidbar sind.“ Im Sinne größerer Flexibilität in der „Verfügbarkeit und Disponierbarkeit von knappen Finanzmitteln“ empfiehlt Oehler eine Trennung von Versicherung und Geldanlage bzw. Vorsorge. Der „großen Mehrheit“ rät er zu einem „Nein“ zu riskanten, starren und zeitlich unüberschaubaren Abschlüssen.

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