Finanzwelt

Phantàsien wartet auf die Inflation

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von NICOLAI HAGEDORN, 15. Oktober 2013 –

Obwohl weltweit weiter Geld in die Wirtschaft gepumpt wird, bleibt die gemessene Inflation erträglich. Politik und Wissenschaft rätseln über die Gründe. Erst ein Perspektivwechsel bringt Aufklärung.
 
In seinem wohl berühmtesten Roman Die unendliche Geschichte schildert Michael Ende den mählichen Untergang der Parallelwelt Phantàsien. Das so genannte „Nichts“ verschlingt unaufhaltsam die von allerlei Phantasiegestalten bevölkerten Ländereien und ein ramponierter Bergtroll erklärt dem Helden Atreju den Schlamassel so: „Die Vernichtung breitet sich aus, wächst und wächst und wird jeden Tag mehr – falls man von nichts überhaupt sagen kann, dass es mehr wird.“

Was 1979 im Reich der Phantasie stattfand, klingt 2013 wie eine Beschreibung der kapitalistischen Existenzkrise, denn auch hier wird etwas mehr, das eigentlich nichts ist. Das Nichts der Wirklichkeit klafft in Form gigantischer Vorgriffe auf die Zukunft, die als Schulden und Eigentumstitel in die Gegenwart gepumpt wird, um eine Wert-Maschine am Laufen zu halten, die allen Bemühungen zum Trotz nur immer neue Krisenschübe produziert. Trotz der Wirtschaftsförderung über niedrige Zinsen und das Aufkaufen von Staatsanleihen und so genannter toxischer Eigentumstitel durch die verschiedenen Notenbanken, halten sich die Inflationsraten weltweit in Grenzen. Zuletzt wurden in den USA eine Inflationsrate von 1,5 Prozent gemessen, in der Eurozone 1,1 Prozent, in Großbritannien 2,7 Prozent, in China 2,5 Prozent und in Japan 0,7 Prozent
 
Wer dieser Tage einen Blick in die deutschen Meinungsmedien wirft, wird sich über die Tatsache wundern, dass viele Kommentatoren eine „maßvolle“ Inflation befürworten. „Moderate Geldentwertung wäre der beste Weg, die Länder Südeuropas zu entlasten und zu stabilisieren“, schreibt etwa der Süddeutsche Zeitung-Gastautor Adam Tooze, immerhin Wirtschaftsprofessor in Yale. Tooze erklärt zwar, der Versuch, realwirtschaftliche Probleme über gezielt erhöhte Inflation zu lösen, sei „veraltet“. Da er aber auch keine bessere Idee hat, spricht er sich letztlich verblüffender Weise doch dafür aus.

Die politischen Eliten gehen indes davon aus, Inflation sei eine Art Naturereignis, das man allerdings bis zu einem gewissen Grad beeinflussen könne. So genannte Inflationsziele gelten als wichtige geldpolitische Orientierungspunkte und der britische Wirtschafts- und Finanzminister George Osborne demonstrierte, dass er noch immer an die Magie der Inflation glaubt, als er Ende 2012 verkündete, die Bank of England nehme eine höhere Inflation in Kauf, um das Wachstum anzukurbeln.

Gleichzeitig wird gerätselt, warum die seit Jahren betriebene Geldschwemmen-Politik gar nicht zu der gewollten bzw. befürchteten Konsequenz, nämlich deutlich höheren Inflationsraten geführt hat.
 
Nach landläufiger Ansicht steigt die Inflation, wenn zusätzliche Geldmengen etwa gleichbleibenden Warenmengen gegenüberstehen. Die volkswirtschaftlichen Messungen beziehen sich dabei ausschließlich auf die Symptome in Form von Preissteigerungen.

Wenn aber die US-Zentralbank Fed amerikanische Staatsanleihen aufkauft, gelangt das Geld erst einmal in die Staatskasse, von wo aus es einerseits zur Schuldentilgung, andererseits für Investitionen und Lohnzahlungen verwandt wird. Dadurch steigt tatsächlich die im Umlauf befindliche Geldmenge, allerdings in erster Linie die der Finanzmärkte. Nur der Teil des Geldes, der tatsächlich konsumtiv wirksam wird, ist auch inflationsrelevant hinsichtlich der Teuerungsrate alltäglicher Güter. In Europa und neuerdings auch in Japan wird eine ähnliche Geldpolitik betrieben. Doch auch hier lohnt es sich mehr, das geliehene Geld für Finanzmarktprodukte zu verwenden als für realen Konsum oder direkte Investitionen in die Warenproduktion. Claus Peter Ortlieb wies jüngst in konkret zurecht darauf hin, dass sich die Inflation „von den Konsumgüter- auf die Aktienmärkte“ verschoben hat, und das Handelsblatt erklärte, Inflation zeige sich zwar nicht in Verbraucherpreisen, wohl aber in den Vermögenspreisen, also da, wohin das Geld über Finanzspekulationen zu einem etwas größeren Teil fließt: „Und hier zeigt sich sehr wohl Inflation: Immobilien werden mit einer Jahresrate von sechs Prozent pro Jahr teurer, bei Aktien sind die Raten sogar zweistellig.“

Dass das inflationäre Potenzial noch viel größer ist, zeigt ein Blick gewissermaßen „hinter die Kulissen“.

Die produzierten Waren sind unter kapitalistischen Bedingungen im Grunde nur ein Abfallprodukt der Wert- und Mehrwertproduktion. Für den kapitalistischen Betrieb ist Produktion von Gütern nur dann sinnvoll, wenn dabei ein Mehrwert erzielt werden kann. Anders als über die Anwendung von menschlicher, wertproduktiver Arbeit ist das aber nicht möglich. Bei Wert und Mehrwert handelt es sich jedoch um eine abstrakte, nicht-gegenständliche Sache, die auch nicht im Nachhinein stofflich „verteilt“ werden kann. Er vermittelt sich stattdessen „hinter dem Rücken der Akteure“ über die produzierten Waren bzw. deren Äquivalent, das Geld.

Letzteres repräsentiert in seiner quantitativen Gesamtheit aber nicht direkt den (abstrakten) Wert der Waren, sondern fungiert als „Gegenstück“ zu den Waren selbst. Geld kann im Gegensatz zu Wert und Mehrwert im Grunde unendlich „produziert“ werden und zwar unabhängig von der gleichzeitig produzierten Masse realen Werts.

Solange das konsumwirksame Geldmengenwachstum mit einem Warenbergwachstum einhergeht, hält sich Inflation in Grenzen, Deflation und Inflation heben sich mehr oder weniger gegenseitig auf.
 
Die eigentlich wichtige Größe zur Bestimmung des tatsächlichen Inflationspotenzials ist aber das Verhältnis der gesamten Geldmenge inklusive der in den Finanzmärkten zirkulierenden Geldmassen sowie aller möglichen Formen von undeklarierten Geldvermögen zur realen Wertmasse. Nur ist letztere statistisch nicht erfassbar, nicht konkret quantifizierbar. Messungen etwa des Arbeitsvolumens erfassen nur die geleisteten Arbeitsstunden; inwiefern diese real wertproduktiv sind, bleibt vollkommen unklar. Wieweit Geld und Waren insgesamt einer Entwertung unterliegen, ist also empirisch gar nicht zu erfassen.

Wird aber tendenziell weniger menschliche Arbeit angewendet, und werden dabei immer mehr Waren produziert, welche in wachsenden Geldmengen ihr Äquivalent haben, kommt es zu Entwertung sowohl von Waren als auch von Geld im Verhältnis zum dabei produzierten Wert: „Auch die Entwertung des Werts oder die Entsubstantialisierung des Kapitals ist somit eine doppelte, die sich auf der Ebene der Warenproduktion (Entwertung des Humankapitals, des Sachkapitals und des Warenkapitals) ebenso Bahn bricht wie auf der Ebene des allgemeinen Äquivalents (Entwertung des selbstzweckhaften Geldmediums).“ (Robert Kurz:  Geld ohne Wert. Berlin  2012) Wenn dabei fiktive Geldberge entstehen, die vorerst gar nicht in den realen Umlauf gelangen, wächst das tatsächliche Inflationspotenzial gleichsam unsichtbar ins Gigantische, ohne dass sich das in messbaren Inflationsraten niederschlagen würde.

Die Entwertung des Geldes muss aber früher oder später zutage treten, sofern die Geldbesitzer nicht geneigt sind, ihren „Reichtum“ im Kamin zu verheizen. Es ist auch unerheblich, ob die Geldberge bis dahin in Spielkasinos gebunden sind, da sie zwar hinsichtlich der realen Wertproduktion fiktiv sind, aber in ihrer Eigenschaft als Geld durchaus real. Solange die Geldmittel aber zum größten Teil in den Finanzmärkten verbleiben, werden nur solche Waren von Inflation betroffen sein, die den wenigen Profiteuren geeignet scheinen, ihre Geldmeere noch weiter zu vergrößern oder Wert unabhängig von der Geldentwertung zu erhalten, also in erster Linie Vermögenswerte wie Immobilien oder Aktien und solche Güter, die tatsächlich nur begrenzt oder einmalig zu produzieren sind, wie Rohstoffe oder Kunstwerke. Letztere erleben aufgrund ihrer Exklusivität, die unter kapitalistischen Bedingungen realen Wert suggeriert, derzeit absurde Wertsteigerungen, selbstverständlich allein hinsichtlich ihres Geldwertes.
 
Solange sich also Deflations- und Inflationsbewegungen ausgleichen und sich die Geldschwemme noch nicht in real steigenden Konsumentenpreisen niederschlagen, sondern in einem immer größeren Handelsvolumen der Finanzmärkte, kann man aus Sicht der verantwortlichen Politik tatsächlich zu dem Ergebnis kommen, die Bereitstellung von billigem Geld, das Aufkaufen von Staatsanleihen und das Horten toxischer Wertpapiere oder auch die staatliche Unterstützung von Geldschöpfung aus dem Nichts seien nicht weiter problematisch und man könne entsprechend bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag damit weitermachen. Solange mit dem zusätzlichen Geld vor allem zusätzliche Eigentumstitel generiert werden, während in der Produktionssphäre Überkapazitäten wachsen, kann es sogar zwischenzeitlich zu Deflation kommen. So geschehen in Japan mit der fatalen Konsequenz immer weiter fallender realer Profitraten und einer maßlosen Staatsverschuldung.

Die Vermögensverwalter Martin Mack und Herwig Weise urteilen in der Wirtschaftswoche über Japan: „Die drittgrößte Industrienation der Welt ist mit einer Verschuldung von über 1.000 Billionen Yen und einem Schuldendienst von aktuell 22,2 Billionen Yen, der bei absoluten Niedrigzinsen heute bereits über 50 Prozent der Steuereinnahmen (43,1 Billionen Yen) verschlingt, schlicht und ergreifend … pleite!“ Die Entwertungsspirale dreht sich derweil munter weiter und wird von den politischen Entscheidern angeschoben. In Japan nennt man das nach dem Premierminister Schinzo Abe „Abenomics“. Abe versucht, die deflationären Tendenzen durch inflationäre Geldpolitik zu kompensieren, was zwar in der Tat geeignet ist, die Wirtschaftstätigkeit des Landes und damit auch die Wertproduktion anzuregen.

Folge dieser Vorgehensweise ist aber  eine Beschleunigung der Entwertungsbewegung, denn die Geldschwemme hat ja politisch letztlich nur den Zweck, Wachstumsraten zu erhalten, wo es hinsichtlich des durch menschliche Arbeit produzierten (Mehr-)wertes, um den es eigentlich geht, längst kein Wachstum mehr geben kann. So befeuern sich Geldmengensteigerung und Warenentwertung gegenseitig, ohne dass bei diesem Vorgang ein substantieller Zuwachs an realem (Mehr-)wert zustande käme.

Um  das fiktive Kapital in ausreichender Menge in die reale Wertproduktion zu drücken, muss das Geld über die Finanzmärkte geschleust werden, wo aber eben der größte Teil davon verbleibt. Deshalb muss der Einsatz, also die gesamte Summe des zusätzlich geschöpften Geldes immer um ein Vielfaches größer sein als der Betrag, der schließlich tatsächlich in der Realwirtschaft ankommt. Wozu das notwendigerweise führen muss, zeigen aktuelle Zahlen der Bank For International Settlement (BIS). Demnach hat der Devisenhandel im Jahr 2013 ein Volumen von täglich ca. 5,3 Billionen US-Dollar erreicht, während es der weltweite Handel mit Waren und Gütern nur auf ein Ergebnis von ca. 0,05 Billionen bringt. Der gesamte Welthandel von Waren und Gütern schafft also in etwas mehr als drei Monaten das gleiche US-Dollar-Volumen wie der Handel mit Devisen an einem einzigen Tag.

Einen weiteren Eindruck des tatsächlichen Inflationspotenzials liefert der Blick auf die angehäuften Geldgebirge. Laut einer Untersuchung des „Tax Justice Networks“ werden weltweit bis zu 32 Billionen US-Dollar allein auf Schwarzgeldkonten gebunkert, zum größten Teil Gewinne aus dem offenbar äußerst lohnenswerten Geschäft namens Steuerhinterziehung. Man kann sich ausmalen, wie die Inflationsraten aussähen, würde dieses Geld, immerhin etwas mehr als die Hälfte des „Bruttoweltprodukts“, den Weg in die Konsumtion von alltäglichen Gütern finden. Dass derartigen Geldbergen längst kein real erschaffener Wert in ausreichendem Maße mehr gegenübersteht, dürfte einleuchten.

Auch die Hoffnung, man könne diese Summen durch Steuern oder internationale Abkommen abschöpfen, sie „gerecht“ verteilen und damit gut keynesianisch ein überdimensionales Wirtschaftswachstum entfachen, sind Illusionen. Dass sich das Geld bei wenigen Einzelpersonen und Institutionen in diesen Dimensionen sammeln konnte, ist ja gerade der Tatsache geschuldet, dass es gar keinen kapitalistischen Sinn mehr hat, wirkliche Arbeitskraft in wirklicher Produktion anzuwenden, weil das seit der digitalen Revolution kaum mehr lohnenswert ist. Großangelegte Geldverteilung an nicht wertproduktive Massen führt auf der heutige Produktivitätsstufe unweigerlich zu hohen Inflationsraten bei nur wenig sinkenden Arbeitslosenzahlen.

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