Weltwirtschaft

250 000 gegen TTIP

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Hunderttausende demonstrierten am vergangenen Samstag in Berlin gegen das umstrittene Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA – 

Von WILLI EFFENBERGER, 12. Oktober 2015 –

Es war die größte Demonstration der jüngeren Geschichte Deutschlands, nur übertroffen von der gegen den NATO-Doppelbeschluss im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten. Nach Angaben der Veranstalter haben sich  am letzten Sonnabend 250 000 Menschen im Berliner Regierungsviertel versammelt, um gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, das zwischen den USA und der Europäischen Union verhandelt wird, und das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA, welches zwischen der EU und Kanada vereinbart werden soll, zu protestieren.

Ein breites Bündnis aus Umweltschutzorganisationen, Kirchenverbänden, NGOs und Parteien hatte zu der Demonstration mobilisiert. Es forderte in seinem Aufruf, „die Macht von Konzernen und Finanzmarkt-Akteuren zu begrenzen, statt sie zu vergrößern“ und „Umwelt-, Sozial-, Daten- und Verbraucherschutzstandards zu erhöhen, statt sie zu senken oder auszuhebeln“. Es solle „transparent und offen verhandelt werden – statt geheim und in Hinterzimmern.“

Der Zuspruch zu der Demonstration zeigte zweifellos: Das Thema interessiert breite Kreise der hiesigen Zivilgesellschaft. Die Menschenmenge war so unüberschaubar, dass die Spitze des Aufmarsches bereits den Endpunkt erreichte, während immer noch Teilnehmer auf dem Platz der Auftaktkundgebung standen. Die jeweiligen Gründe für den Protest sind dabei vielfältig. „Ich habe Angst, dass es zu Änderungen im Gesundheitswesen kommen und dass die Krankenzeit auf amerikanische Standards angepasst werden könnte“, erklärt die Rentnerin  Rosemarie Haier gegenüber Hintergrund. Auch als Rentnerin stört sie sich an einer möglichen Verkürzung der Krankenzeit denn, diese „bedeutet, dass es meinen Enkeln richtig schlecht gehen wird“.

Doch auch bei ihr wie bei vielen anderen Gegnern des Freihandelsabkommens steht TTIP vor allem für das große Fragezeichen. Aus den Geheimverhandlungen sickert nur ein Bruchteil durch, Einsicht in die Vertragspapiere dürfen selbst gewählte Regierungsvertreter nur in „abgesicherten Räumen der US-Botschaften“ nehmen, erklärt Sascha Böhm, Bundesleiter der Naturfreundejugend bei der Auftaktkundgebung. „Demokratisch legitimierte Repräsentanten des Volkes werden hier ausgeschlossen“, so Böhm weiter. Es ginge dabei nicht einmal wirklich um Wirtschaftswachstum, wie die Pro-TTIP-Propaganda betont, sondern „nur um eine Stärkung der Kapitalmacht“.

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Die wenigen Passagen des Vertragstextes, die bislang öffentlich bekannt sind, lassen genau diese befürchtete Durchsetzung von Konzerninteressen erwarten. Eines der publik gewordenen Details betrifft die Einführung von sogenannten Schiedsgerichten. Diese übernationalen Instanzen sollen dann in Aktion treten, wenn ein Konzern geplante Gewinne aus Investitionen durch die Politik eines Landes, welches in ein Investitionsschutzabkommen eingebunden ist, gefährdet sieht. Wenn also beispielsweise der Arbeitsschutz verbessert oder die Sozialstandards erhöht werden sollen, könnte dagegen von Konzernseite geklagt werden. In diesem Falle werden von den Streitparteien Privatpersonen ernannt, welche dann – im Geheimen und ohne die Möglichkeit auf Revision – ein bindendes Urteil sprechen.

„Das hebelt unsere gesamte demokratische Grundordnung aus“, findet auch Ringo, ein Demonstrant der aus Brandenburg angereist ist. „Wir müssen unsere Grundwerte inzwischen wieder verteidigen. Es ist höchste Zeit, der Politik und den Mächtigen dieser Welt zu sagen, was geht und was nicht geht.“ Auch ihn stört am meisten der Ausschluss von Öffentlichkeit und Regierungsvertretern bei den Verhandlungen. „Wenn über unser aller Zukunft entschieden wird, dann hat das gefälligst nicht geheim zu sein“, resümiert er.

Die zunehmend organisierten Einsprüche der Kritiker des Abkommens haben mittlerweile offenbar auch bei denjenigen, die TTIP durchzusetzen versuchen, Wirkung gezeigt. Am gestrigen Sonntag meldete die Süddeutsche Zeitung, die EU-Kommission plane, den Bedenken gegen TTIP entgegenzuwirken und versuche nun, „die USA beim Handelsabkommen TTIP auf ein hohes Schutzniveau festzulegen“. Soweit dem Bericht der Zeitung zu entnehmen ist, geht es dabei um Selbstverständlichkeiten wie das Recht auf Streik, die  zu „weitreichenden Vorschlägen zu Sozial- und Umweltschutz“ hochgeschrieben werden. Genau beurteilen kann man allerdings auch das nicht – auch das Papier der EU-Kommission ist geheim.

Was jenseits wohlklingender Versprechen von Freihandelsabkommen dieser Dimension zu erwarten ist, konnte auf der Großdemonstration Larry Brown, Schatzmeister der Gewerkschaft der Angestellten im öffentlichen Dienst aus Kanada, berichten: „Wir müssen seit Jahren mit den Auswirkungen des Nordarmerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA leben. Auch uns wurden Versprechungen gemacht. Versprechungen auf Jobs und Wohlstand. Diese Versprechungen sind Lügen!“ Die Löhne in Mexiko seien gesunken statt gestiegen, weiß Brown. Und sowohl in den USA als auch in Kanada seien hunderttausende Arbeitsplätze durch das NAFTA-Abkommen vernichtet worden. „Die sogenannten Handelsabkommen haben mit Handel nichts zu tun. Sie tun nichts, außer Unternehmen die Möglichkeit zu geben, sich jeglicher Kontrolle durch Regierungen zu entziehen.“ Ähnliches stünde Deutschland auch bevor, sollte TTIP wirksam werden, befürchtet der Parteivorsitzende der Linkspartei Bernd Riexinger. TTIP sei „ein Freifahrtschein für die Profitinteressen großer Konzerne“, er wolle nicht, dass sein „Kind wettbewerbsfähig erzogen wird“ und dass „Kranke und Alte profitinteressengeleitet gepflegt werden“.

Breites Bündnis: Umweltorganisationen, Gewerkschaften, Parteien und Initiativen machen gemeinsam gegen das Freihandelsabkommen mobil

Welche Antwort auf diese Herausforderung durch die Widerstandsbewegung zu geben sei, ist allerdings auch auf der Demonstration umstritten. Während ein größerer Teil Hoffnungen anhängt, es könne so etwas wie einen „fairen Welthandel“ im Kapitalismus geben, beharren linke Demonstranten auf der Analyse, nur durch die Überwindung der kapitalistischen Weltordnung seien die Ursachen zu beseitigen, die zu Armut, ungerechter Verteilung des Wohlstands und Arbeitsausbeutung führen.

So betonen die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und deren Jugendorganisation SDAJ, die auf der Anti-TTIP-Demonstration einen „antikapitalistischen Block“ stellten, dass „wir diesen Kampf gegen die Jagd nach Profit auf unsere Kosten aber nur gewinnen können, wenn wir die großen Banken und Konzerne enteignen, ihren Staat zerschlagen und unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen“.


 

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Fotos: Willi Effenberger

 

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