Zeitfragen

Wo sind die Helden des Übergangs? (Teil 1)

Warum braucht ein ökologischer Umbau der Wirtschaft Zeit und warum führt Verbal-Aktivismus zu Real-Passivismus? Diesen Fragen geht der Autor in seinem neuen Essay nach. (Teil 1)

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Motorblock, Zahnräder, Getriebe. So wurde den meisten das Modell des Verbrennungsmotors in der Fahrschule präsentiert. Viel ausgetüftelter kommen moderne Motoren daher. Doch was wird aus all den Innovationen und den Produzenten bei einem überhasteten Schritt in die E-Mobilität?
Foto: Luc Viatour Lizenz: CC BY-SA 3.0, Mehr Infos

Teil 2 – Wo  sind die Helden des Übergangs?

 

Die Epigonen des Rückzugs sind Getrie­bene. Sie handeln unter einem Druck, der von unten und von außen kommt. Der wahre Held der Entmachtung ist dagegen selbst die treibende Kraft.“

Hans Magnus Enzensberger,

Die Helden des Rückzugs

Kann man Schnelligkeit verordnen?

„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Nur zwei Stunden und zwanzig Minuten nach diesen gestammelten Satzfetzen Günter Schabowskis in der denkwürdigen Pressekonferenz vom 9. November 1989 war die Berliner Mauer Vergangenheit. Am 25. Januar 2023 beschloss die Bundesregierung das Ende der Maskenpflicht zum 2. Februar. Ich fragte mich, was nach drei Jahren Corona in dieser einen Woche hinsichtlich der Infektionsgefahr passieren sollte. Vor allem jedoch brauchten wir keinen Umstellungs- oder Übergangszeitraum, sondern von einer auf die andere Minute hätten wir die Masken einfach weglassen können. Mit anderen Worten: Es gibt durchaus Fälle, wo eine Veränderung wenig oder gar keine Umstellungszeit, sondern einfach nur eine Willensentscheidung benötigt. Wir können uns auch im Klima- und Umweltschutz solche Felder vorstellen, wo wir, sobald wir uns eine Meinung gebildet haben, ein Verhalten oder ein Verfahren kurzfristig umstellen könnten.

Aber funktioniert das immer? Bleiben wir kurz bei den Erfahrungen der Corona-Zeit: Dort haben wir allzu häufig erlebt, wie irgendetwas verordnet oder eingeführt wurde, ohne dass die dazu erforderlichen Mittel wie Schnelltests, Masken oder Impfstoffe überhaupt vorhanden waren. Ein anderes Beispiel: Lkw und ihre Fahrer unterliegen Ruhezeiten und sonntäglichen Fahrverboten, aber an Autobahnen fehlen rund 40.000 Parkplätze, um das zu realisieren. Offenbar gibt es Bereiche, in welchen Willensentscheidungen oder gesetzliche Verordnungen allein nicht ausreichen, ja vielleicht nicht einmal das wichtigste Glied in der Kette sind.

Begeben wir uns von diesem kleinen Vorgeplänkel direkt in die Höhle des Löwen: Am 26. März 2023 fand in Berlin ein Volksentscheid statt, ob die Stadt schon 2030 klimaneutral werden solle statt 2045, wie bisher geplant. Als der Volksentscheid gescheitert war, erklärten die Initiatoren dies mit negativer Berichterstattung sowie negativer Stimmen seitens der Unternehmen. Klimaneutralität wurde also allein als Willensentscheidung interpretiert: Man muss nur wollen, dann geht es. Wer nicht die Zeitleiste verkürzt, der tut nichts gegen den Klimawandel. Wer 2030 sagt, tut mehr, als wer 2045 als Ziel nimmt. Fast zeitgleich gab es neue Initiativen, den Ausstieg aus dem Braunkohleabbau in Ostdeutschland von 2038 auf 2030 vorzuziehen. Schon bei früheren Demonstrationen wurden Bemühungen um einen geordneten Strukturwandel einfach weggewischt.1

Ist es wirklich so einfach? Erinnern wir uns an das Corona-Beispiel: War es wirklich so, dass der, der mit drei Tagen Vorlauf etwas vorschrieb, ohne die Infrastruktur bereitzustellen, mehr gegen Corona tat als derjenige, der sich zunächst darum kümmerte, dass die Vorschriften überhaupt erfüllt werden konnten?

Transformation von Realitäten statt statistischer Taschenspielertricks

Um genau diese Frage geht es im folgenden Essay. Die Überlegungen stellen dabei nicht die Klimakrise in Frage und auch nicht die Notwendigkeit, so schnell wie möglich zu handeln – sei es durch Gegensteuern oder sei es durch Anpassung an die neuen Verhältnisse. Egal ob die Annahmen und Berechnungen tatsächlich in jedem Punkt zutreffen: Ich werde im Folgenden davon ausgehen, dass es so ist. Auf dieser Grundlage werde ich dann fragen, was „so schnell wie möglich“ bedeutet und woran es liegt, dass etwas allgemein Gewünschtes nicht sofort Wirklichkeit wird.

Ein paar Dinge lasse ich dabei bewusst unberücksichtigt: Die in der Klimabewegung immer wieder anklingende Auffassung, dass die größte Belastung des Klimas ein neugeborener Mensch sei und somit die beste Entlastung darin bestehe, keine Kinder zu bekommen („Geschwister sind Klimakiller“), werde ich allein schon deshalb aussparen, weil diejenigen, die mit solchen Gedanken spielen, immer nur anderer Leute Leben meinen.2 Ebenso auch alle Lösungen, die darin bestehen, dass wir nicht mehr essen, nicht mehr heizen, uns nirgendwo mehr hinbewegen oder Ähnliches. Unter Nachhaltigkeit verstehe ich nicht, dass wir den Teufel mit Beelzebub austreiben, sondern dass wir Lösungen finden, die unsere Handlungsfähigkeit gerade auch im Wandel erhalten. Damit verwandt werde ich alle Vorschläge ignorieren, mit denen sich einzelne wie einst die Säulenheiligen profilieren können, die aber nur funktionieren, wenn die Mehrheit ihnen nicht folgt.3 Ich möchte auch außer Acht lassen, dass gerade im öffentlichen Bereich viele scheinbar ehrgeizigen Klimaziele definitorische Taschenspielertricks sind, die obendrein weniger durch reale Maßnahmen als durch Kauf von Zertifikaten oder Finanzbeteiligungen an spanischen Solarkraftwerken erreicht werden. Dasselbe gilt auch für private Ökostromverträge: Sie ändern nichts daran, dass zum Beispiel am 2. April 2023 18,1 Prozent des deutschen Stromes aus der Verbrennung von Kohle stammte und somit auch ein Elektroauto Kohle verbrennt. Ich möchte mich auf Realitäten beschränken – wenn es wirklich ernst ist mit dem Klimaschutz, dann helfen nur reale Maßnahmen. Deshalb klammere ich auch die überlangen Planungs-, Genehmigungs- und Realisierungszeiten in Deutschland aus. Das ist zwar ein trauriges Thema, das für den Umweltschutz genauso deprimierend ist wie für jedes andere Anliegen. Aber ich will es mir nicht so bequem machen, dies als Erklärung zu benutzen. Es ist eben nicht so, dass alles ganz schnell ginge, wenn es nur schneller genehmigt würde. Und schließlich ist auch klar, dass es Hindernisse und Blockaden gibt, die nicht sein müssen – sie sind jedoch nicht Gegenstand dieses Essays.

Um Missverständnissen sofort vorzubeugen: Mir liegt es fern, in diesem Essay Schwierigkeiten anzuhäufen und damit ein Nichtstun zu begründen oder zu entschuldigen. Im Gegenteil: Es geht mir um das reale Handeln. Verbal-Aktivismus endet allzu oft im Real-Passivismus. Wenn es ständig um Weltuntergang und Weltrettung geht, dann müssen uns konkrete Verbesserungen von zwei Prozent hier und 1,5 Prozent dort als belanglose Details erscheinen. Das ist fatal – ganz zu schweigen davon, dass seit jeher alle angekündigten Weltuntergänge ausgeblieben sind.4

Echte Innovationen brauchen Zeit

Für den nachhaltigen Umbau einer Wirtschaft braucht man Innovationen. Und Innovationen brauchen einfach Zeit. Wenn man die Entstehung von Innovationen und Pioniergeschichten analysiert, dann kommt man ganz robust auf zehn Jahre, die der Pionier benötigt, um ein Wissensniveau zu erreichen, das für eine neue Idee notwendig ist. Dann weitere zehn Jahre, um eine Idee zur praxistauglichen Reife zu entwickeln, also dass es nicht nur einmal im Labor, sondern tausendmal im Alltag funktioniert. Und schließlich weitere zehn Jahre, um die Idee in der Welt zu verankern und ihr Weiterleben zu sichern, auch wenn der Pionier nicht mehr da ist. Natürlich sind diese dreimal zehn Jahre nicht sklavisch zu verstehen. Natürlich gibt es viele Sonderfaktoren und natürlich spielt es sich nicht immer so schulmäßig getrennt hintereinander ab. Aber bei substanziellen Innovationen und Neuerungen geht es nicht um Wochen oder Monate, sondern um Jahre oder Jahrzehnte. Und bevor dieser Zyklus überhaupt beginnt, liegen oft jahrhundertelange Vorarbeiten hinter uns. Und entgegen den allgegenwärtigen Behauptungen über eine nie dagewesene Beschleunigung sind diese Zeiträume seit zweitausend Jahren weitgehend stabil.

Dieser Befund macht nicht nur Umweltaktivisten nervös, sondern auch in den Controlling-Bereichen von Unternehmen besteht seit jeher der Glaube, dass man Innovationen durch härtere Ziele, mehr Projektberichte, mehr Druck beschleunigen könne. Ebenso glauben viele Change-Berater, dass Veränderungen schneller vollzogen werden könnten, wenn sich die Menschen rascher und willenloser an das anpassten, was den Führern vorschwebt. Tatsächlich jedoch scheitern alle diese Versuche und erreichen oft genug das Gegenteil des Angestrebten. Erfolgreiche Pioniere und Innovatoren reden eigentlich nie von Schnelligkeit, sondern von Geduld, Hartnäckigkeit, dranbleiben, warten können, Niederlagen verkraften und Ähnlichem – und genau deshalb waren sie die Schnellsten. Die Dauer ist dabei nicht nur dem Widerstand Ewiggestriger geschuldet. Nein, auch die Pioniere wissen am Anfang wenig von dem, was ihre Erfindung am Ende tatsächlich bedeuten und bewirken wird. Stück für Stück arbeiten sie sich in Schleifen vorwärts. Und Stück für Stück ringen sie mit der Widerständigkeit der Materie und des Bestehenden; ja, die Lösung eines Problems erzeugt auf der nächsten Stufe umgehend drei neue Probleme. Es ist leicht, das zu beklagen. Aber leichte Veränderbarkeit nützte gar nichts. Was leicht zu erreichen ist, kann auch leicht durch das Nächste ersetzt werden. Eine Handbewegung in der Luft oder im Wasser trifft auf wenig Widerstand, aber hinterlässt keine bleibende Wirkung. Man könnte gar die umgekehrte These aufstellen: Nur das, was unter Anstrengung und langsam zu erreichen ist, beinhaltet eine wirkliche Veränderung.

Neuausrichtung von Unternehmen ist eine schwierige Aufgabe

Erst recht gilt dies für grundlegende Transformationen von Unternehmen, Branchen oder Infrastruktur. Ich möchte dazu ein selbsterlebtes Beispiel schildern. In der deutschen Aerospace-Industrie stellte sich in den Neunzigerjahren nach dem Ende des Kalten Krieges die überlebenswichtige Frage, wie man angesichts drohenden Wegfalls militärischer Budgets ein

Neugeschäft erzeugen könne durch die Generierung ziviler Anwendungen und Umwidmung des bestehenden Know-hows. Durch die technische Kreativität im Raumfahrt- und Verteidigungsbereich fehlte es nicht an Konversionsideen – zum Beispiel Abstandsradar für Fahrzeuge, Mini-Sprengkapseln für Gurtstraffer in Autos oder satellitengestützte Erdbeobachtung für Erntezwecke. Also ein richtiger „Schwerter-zu-Pflugscharen“-Ansatz, der für das Überleben des Unternehmens unabdingbar erschien.5

Innerhalb der Vorläufer-Unternehmen des heutigen Airbus-Konzerns wurden sogenannte Intrapreneurship-Initiativen ins Leben gerufen. Trotz großer Begeisterung bei den Intrapreneuren und voller Unterstützung seitens des Unternehmens endete das Ganze in einem Desaster. Dazu mögen Managementfehler beigetragen haben, aber das war nicht das Entscheidende.6 Man unterschätzte die Kluft zwischen staatlich finanziertem Militär- und Raumfahrtgeschäft in kleinen Stückzahlen und zivil-kommerziellen Anwendungen in Großserie. Manche Ideen wurden später zu Erfolgen, aber in einem Kontext, der mit den Ursprüngen nichts mehr zu tun hatte und nicht einmal zu einem nennenswerten Erlös durch Verkauf der Geschäftsideen führte.

Dies war auch der Glaube der Ingenieure aus der Verteidigungstechnik, die Automobile ohnehin für zweitklassige Einfachtechnik hielten. Schnell stellte sich heraus, dass allein die Anwendung in unmittelbarer Nähe zum reflektierenden Boden eine nicht triviale Herausforderung darstellte. Aber viel schwieriger war etwas anderes: Radartechnologie in einem Flugzeug, erst recht in einem Militärflugzeug wird nur in geringen Stückzahlen gefertigt, der Preis spielt keine beherrschende Rolle und die Technologie wird in kurzen Intervallen von hochqualifizierten Spezialisten gewartet. Demgegenüber muss ein Abstandsradar im Auto mit minimalem Platz auskommen, jegliche Erschütterungen aushalten, mit Schmutz zurechtkommen. Es gehört zu den Teilen im Auto, bei denen man wie bei der Hupe oder dem Türgriff erwartet, dass sie ein Autoleben lang ohne Fürsorge auskommen. Es muss mit ganz anderen Systemen zusammenarbeiten als in einem Flugzeug oder einer Flugabwehrstellung – etwa einem Tempomaten. Es muss in Millionenstückzahl gebaut werden und vor allem: Es darf nur wenige Euro kosten. Das waren Dinge, die die Radarspezialisten der Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie noch nie gemacht hatten. Es ging gegen ihr ganzes Verständnis guter Ingenieursarbeit. Es fehlten die Fabriken und die Kenntnis der Produktionstechnologie, so etwas herzustellen. Es fehlte die Anbindung an die Automobil-Zulieferindustrie und so weiter und so fort. Ich erinnere mich, dass wir Anfang der Neunzigerjahre auf der Hannovermesse Abstandsradar präsentierten, als stünde die Realisierung unmittelbar bevor. Tatsächlich dauerte es noch zehn Jahre, bis die ersten Anwendungen bei Luxusfahrzeugen in die Serie gelangten. Mit irgendwelchen Konversionen von Militärtechnologie in zivile Anwendungen hatte das Ganze nichts mehr zu tun und fand längst außerhalb unseres Unternehmens statt.

Ich habe dieses Beispiel einer Transformation so ausführlich geschildert, weil es im wahren Leben keine allgemeinen, sondern nur konkrete Transformationen gibt, die aus vielen solchen konkreten Geschichten bestehen – und in der Realität war natürlich alles noch viel komplexer als von mir geschildert. Es ist eben keine Frage der guten Absicht, sondern es geht um Tausende kleiner Lösungen, um Zielkonflikte, Kompetenzen und Ressourcen. Und man sieht an diesem Beispiel auch die verschiedenen Dimensionen: Die technische Lösung zu finden oder sie in neue Anwendungen zu übertragen, war vermutlich das kleinste Problem. Viel schwieriger war die Frage der Herstellung, der Kosten, der Stückzahl und der Lieferketten. Und schließlich auch die persönliche Seite: Nicht nur, dass die klassischen Radaringenieure wenig Ahnung von Großserienfertigung hatten, es ging ihnen, die bisher im High-End-Bereich gearbeitet hatten, in tiefster Seele gegen den Strich, jetzt etwas zu entwickeln, was sie als minderwertige Pfennigartikel empfanden. Und natürlich kann kein Unternehmen, egal ob gewinnorientiert oder gemeinnützig, und keine Volkswirtschaft, egal ob kapitalistisch oder kommunistisch, der Frage der Ressourcen ausweichen. Ressourcen sind immer begrenzt. Und immer muss man sich fragen, ob man Ressourcen in A oder in B steckt.7 Wenn der Erfolg ausbleibt, muss man sich fragen, wie lange man weitermachen will. Erfahrene Investoren glauben wenig an die optimistischen Zahlen, die ihnen von Startup-Gründern präsentiert werden. Sie fragen sich oft ganz robust, ob sie es auch machen würden, wenn es doppelt so teuer wird und doppelt so lange dauert wie gedacht. Erfahrene Investoren wissen auch, dass von zehn Investitionen in Startups nur eine oder zwei den gewünschten Erfolg bringen.

Vor solchen Fragen stehen zurzeit Tausende Zulieferunternehmen in der Automobilindustrie und anderen Sektoren. Sie arbeiten nicht an der Vernichtung der Welt, sondern vielleicht haben sie Zahnräder hergestellt oder Maschinen, die für einen bestimmten Bearbeitungsschritt bei Zahnrädern zuständig sind. Nun hat jedoch ein Elektroauto kein Getriebe und deshalb einfach weniger Zahnräder. Was macht ein solches Unternehmen? Es hat eine Verantwortung für 50 oder 200 oder 1000 Mitarbeiter, die bestimmte Qualifikationen besitzen und andere nicht. Es besitzt Hallen und Labore, die für bestimmte Dinge geeignet sind und für andere nicht. Im Mercedes-Werk in Stuttgart-Untertürkheim arbeiten seit über 100 Jahren fast 20.000 Mitarbeiter an der Herstellung von Motoren und Getrieben – von der Gießerei über die Bearbeitung bis zur Montage. Von der Entwicklung bis zur Produktion besitzen sie herausragende Fähigkeiten – Fähigkeiten, die nicht mehr gebraucht werden, denn Elektroautos haben keinen gegossenen Motorblock und keine Kurbelwelle. Was macht man mit diesen Mitarbeitern? Es überrascht nicht, dass es in mehreren Unternehmen Unruhe unter der Belegschaft und bereits erste Arbeitskämpfe gibt.

Ich sage nicht, dass es unmöglich ist. Ich glaube auch nicht an die üblichen Drohszenarien astronomischer Abeitsplatzverluste, wie sie auch im Zusammenhang mit Automatisierung und Digitalisierung verbreitet werden. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass Strukturwandel möglich ist. Ich glaube auch, dass es kein besseres Mittel für den Strukturwandel gibt als die Kreativität und Energie kleiner und mittlerer Unternehmen in einem freien Markt. Aber einen solchen Strukturwandel gibt es nicht zum Nulltarif und er passiert nicht mit einem Fingerschnippen. Er ist Arbeit, er verlangt konkrete Lösungen, er verlangt ständig Entscheidungen über Ressourcen. Er betrifft die Schicksale konkreter Menschen und ihrer Familien – wir haben doch nach der Wiedervereinigung gesehen, wie ganze Bevölkerungsgruppen in der Langzeitarbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit stranden können. Und Strukturwandel kann scheitern – wie im Beispiel der Konversion von Militär- in Ziviltechnik. Vor allem: Eine grundlegende Transformation braucht Zeit. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet begann Ende der fünfziger Jahre und endete angeblich 2015, also nach fast 60 Jahren – aber ist er heute wirklich vollendet?

Wieviel Zeit braucht Wandel eigentlich?

Schauen wir uns einen Klassiker an, den Weg von der Dampf- zur Elektrolokomotive. Erfunden wurde die Elektrolokomotive in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, praktisch zur gleichen Zeit wie die Dampflok. 1911 wurde in Deutschland die erste Elektrolok offiziell in Dienst gestellt. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts waren schon etliche Hauptstrecken elektrifiziert und 1938 wurde die Elektrolokomotive E 19 für Geschwindigkeiten bis 225 km/h ausgelegt. Aber die letzte reguläre Dampflok-Strecke wurde erst 1977 eingestellt. Das sind 66 Jahre Übergangszeit – fast ein ganzes Menschenleben, zwei Arbeitsleben und fast drei Generationen. Übrigens wurden in Deutschland ehemalige Heizer noch bis 1996 als sogenannter „Beimann“ auf schnellfahrenden Zügen eingesetzt. Die Übergangszeit betrug also eigentlich 85 Jahre.

1886 wurde das Automobil erfunden und machte vermeintlich zusammen mit Dampf- und Elektroantrieb die Pferde überflüssig und damit auch die Leute, die sich um Pferde kümmerten. Aber über 50 Jahre später setzte die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg 2,8 Millionen Pferde ein – ein Mehrfaches der eingesetzten Motorfahrzeuge von Motorrad über Kübelwagen bis Panzer. Der Motorisierungsgrad der deutschen Armee betrug 15-20 Prozent. Noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren Pferdefuhrwerke in der Innenstadt von Berlin etwas recht Normales.

Wir sollten auch nicht glauben, dass die Langsamkeit der Transformation sich nur daraus ergebe, dass eben die träge Masse nicht so schnell mitgekommen wäre, dass sie sozusagen den Prozess aufgehalten hätte. Auch aufseiten der Pioniere liegt das, was nachher tatsächlich aus der Erfindung wird, jenseits der Vorstellungskraft. Beim ARPANET, dem Vorläufer des Internets, dauerte die Entwicklung trotz großzügigster Finanzierung durch das Pentagon über 25 Jahre von 1963 bis 1989, und am Ende existierte weder real noch in den Köpfen der Beteiligten irgendetwas von dem, was wir heute mit dem Internet und seinen Anwendungen verbinden. Der Firma BBN, die jahrelang die Router für das ARPANET gebaut hatte, wurde angeboten, dies dann auch für den regulären Betrieb, für das Internet zu tun. BBN lehnte ab, weil man nicht glaubte, dass das ein nennenswertes Geschäft sein könnte. Zehn Jahre später wurde Cisco Systems mit ebendiesen Routern zum wertvollsten Unternehmen der Welt. Die Erfinder der ersten E-Mails hatten im Sinn, die Anmeldung zu wissenschaftlichen Kongressen zu erleichtern. 1993 soll Bill Gates gesagt haben: „Das Internet ist nur ein Hype.“

Das alles ist nicht anders beim gegenwärtigen Umbau hin zur Elektromobilität. Ein großes Problem der Elektromobilität ist bekanntlich die Reichweite bzw. das Gewicht und der Platzbedarf der heutigen Lithium-Ionen-Batterien. Nur ein Beispiel: Ein vollelektrischer Kompaktwagen wie der Mercedes EQA mit begrenztem Raumangebot und einer realen Reichweite von 300-350 km wiegt leer 2040 kg – ziemlich genau das Gewicht des prunkvollen Rolls-Royce Silver Shadow aus den siebziger Jahren. Egal ob fossil oder regenerativ – die Energie, um diese Masse zu bewegen, muss erzeugt werden.

Große Hoffnungen werden zurzeit in die sogenannte Festkörperbatterie gelegt. Sie soll 30 Prozent kleiner und leichter und obendrein schnell zu laden sein. Aber wann können wir damit rechnen? Einige Autokonzerne setzen sich trotz der verbleibenden Unsicherheiten ehrgeizige Ziele. So will Stellantis schon 2026 Feststoffbatterien einbauen, Mercedes-Benz und Volkswagen reden von kleinen Serien noch in diesem Jahrzehnt. Aber Vorsicht ist geboten: Je länger sich Experten mit dem Festkörper-Akku beschäftigen, desto zurückhaltender fallen die Aussagen aus. Zur Erinnerung: Dem ersten Einsatz eines Lithium-Ionen-Akkus gingen Jahrzehnte der Forschung voraus. Nobelpreisträger Akira Yoshino begann mit seiner Forschung in den 70er Jahren und meldete 1985 das entscheidende Patent für Lithium-Ionen-Batterien an. Aber erst 2008 kam mit der Hybrid-Version der Mercedes S-Klasse der erste Pkw mit Lithium-Ionen-Akku auf den Markt. Und interessant, dass sich auch hier die Frage der Produktionsstandorte stellt, nämlich ob man für die Produktion von Festkörperbatterien die gerade errichteten Lithium-Ionen-Akku-Fabriken umrüsten kann.8 Aus der jahrzehntelangen Beobachtung von Themen wie Autonomes Fahren, Sprach- und Mustererkennung oder Kernfusion werde ich misstrauisch, wenn immer wieder vom kurz bevorstehenden Durchbruch die Rede ist. Und was wäre denn, wenn es wirklich bis 2040 dauerte, bis eine taugliche und praxisgerechte Batterietechnik vorläge? Dann mögen wir die Talkshow-Träume sogenannter Klima-Aktivisten enttäuscht haben, aber tatsächlich hätten wir in wenigen Jahrzehnten eine phänomenale Entwicklung der Energiespeicherung hingelegt.

Auch in der ökologischen Transformation muss man auf die Zahlen schauen

Hilft Beschleunigung denn wenigstens dort weiter, wo sie technisch machbar ist? Machen wir eine Rechnung aufgrund gängiger und allgemein akzeptierter Zahlen: Rund 20 Prozent des CO2-Ausstoßes eines Autos entstehen bei der Produktion. 80 Prozent somit beim Betrieb – den einen Prozentpunkt für Recycling wollen wir hier vernachlässigen. Nehmen wir zum einfacheren Rechnen an, jeder Prozentpunkt wäre eine Tonne CO2 – tatsächlich ist es ungefähr die Hälfte. Ein Autoleben würde also zur Emission von insgesamt 100 Tonnen CO2 führen und davon fielen 20 Tonnen bei der Produktion und 80 Tonnen im Betrieb an. Pkw leben im Schnitt 18 Jahre. Pro Jahr fallen somit in der Herstellung rund eine Tonne CO2 und im Betrieb rund 4 Tonnen CO2 an. Und nehmen wir schließlich an, eine neue Autogeneration etwa mit Elektro- oder Hybridmotoren reduzierte die Emission um die Hälfte. Wenn man nun durch politischen Druck, durch Abwrackprämien oder andere Anreize erreichte, dass ältere Autos fünf Jahre früher aus dem Verkehr gezogen würden, dann hätte man in diesen Jahren durch den Betrieb rund zehn Tonnen CO2 eingespart, aber durch die frühere Verschrottung fünf Tonnen vergeudet – bleiben als Saldo nur noch fünf Tonnen Einsparung. Vor allem jedoch hätte man die große, punktuelle und unwiderrufliche Herstellungs-Emission um fünf Jahre vorgezogen und auf einen kürzeren Zeitraum konzentriert. Wenn alles innerhalb eines Jahres stattfände, hätte man statt einer Reduzierung eine Steigerung von vier Tonnen auf 22 Tonnen bewirkt – in einer Phase, in der man eigentlich so schnell wie möglich die CO2-Emission senken wollte.

Man kann eine ähnliche Rechnung mit Solarenergie machen. Die Herstellung von Solarzellen ist sehr energieaufwendig. Es dauerte Jahrzehnte, bis Solarzellen überhaupt eine positive Energiebilanz hatten, d. h. bis sie im Laufe ihres Lebens mehr Energie erzeugten, als für ihre Herstellung erforderlich war. Heute dauert es immer noch rund sieben Jahre, bis eine Solarzelle die aufgewendete Energie hereingespielt hat. Wenn man nun mit aller Gewalt in die Solarstromerzeugung investierte, dann würde man wie im Auto-Beispiel diese CO2– und Energie-Vorleistung auf einen kurzen und baldigen Zeitraum konzentrieren. Da Kohle und vor allem heimische Braunkohle die am leichtesten beeinflussbare Variable im Energiemix ist, würde eine übermäßige Beschleunigung der Solarzellenproduktion kurz- und mittelfristig zu einem überproportionalen Ansteigen der Braunkohleproduktion und -verfeuerung führen. Selbst wenn man aus der Kernenergie aussteigen will: Wäre es nicht eine sinnvolle Übergangslösung, zehn Jahre lang mit CO2-freiem Atomstrom so viele Solarzellen wie möglich zu produzieren?

Der Autor

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen.

Anmerkungen und Quellen

1 Vgl. Traub, Clemens, Future for Fridays? Streitschrift eines jungen Fridays for Future Kritikers, Köln 2020 S.40 „Eine Kommilitonin hat vor kurzem alles getoppt, was ich bis dahin an empathieloser Überheblichkeit in meinem »Fridays for Future«-Bekanntenkreis zu hören bekommen habe. Sie widersprach meinen Sorgen über den Kohleausstieg mit den Worten, »dass die arbeitslosen Kohlearbeiter ja selbstverständlich Hartz IV beantragen könnten«.“

2 Eine Studie der schwedischen Universität Lund hat zu folgenden Ergebnissen geführt: „Vier Maßnahmen, mit denen jeder Mensch den Ausstoß von Treibhausgasen verringern kann, empfehlen die Forscher: Ein Kind weniger auf die Welt bringen (58,6 Tonnen CO2 pro Jahr), auf ein Auto verzichten (2,4 Tonnen CO2 pro Jahr), keine Fernflüge nutzen (1,6 Tonnen CO2 pro transatlantischen Flug) und vegetarisch essen (0,8 Tonnen CO2 pro Jahr). Insgesamt könnte jeder Einzelne damit pro Jahr ungefähr 63 Tonnen CO2 einsparen.“ https://www.infranken.de/ueberregional/klimakiller-nummer-eins-ein-kind-schadet-klima-mehr-als-24-autos-art-2772257 Siehe auch Luisa Neubauer bei Markus Lanz im Oktober 2019 https://utopia.de/luisa-neubauer-markus-lanz-debatte-klimaschutz-kinder-161912/

3 Hierzu zähle ich zum Beispiel den Frutarismus, dem weltweit 10.000 Menschen anhängen, mit dem man aber kaum acht Milliarden Menschen ernähren könnte. Dazu gehört für mich aber auch die Überbewertung des Lastenfahrrades – eines Lebensstils, der noch nicht einmal die Herstellung von Lastenfahrrädern ermöglichte.

4 In einem inzwischen gelöschten Posting von Greta Thunberg im Jahre 2018 hieß es: „Ein führender Klimawissenschaftler warnt, dass der Klimawandel die gesamte Menschheit auslöschen wird, wenn wir nicht innerhalb der nächsten fünf Jahre aufhören, fossile Brennstoffe zu nutzen.“

5 Niemand wusste damals, dass der Bereich der zivilen Airbus-Passagierflugzeuge so erfolgreich wachsen und dadurch das Sinken der staatlichen Verteidigungs- und Raumfahrtbudgets überkompensieren würde.

6 Beim schwedischen Unternehmen Combitech AB, das 1992 aus ähnlichen Motiven innerhalb des Saab Scania Konzerns geschaffen worden war, hat man im Einzelnen offenbar vieles besser gemacht, aber die grundsätzlichen Probleme einer Konversion bestanden auch dort. Auch hier kehrte praktisch keine Idee als ziviles Kerngeschäft ins Mutterunternehmen zurück.

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7 Und man muss es tatsächlich entscheiden. Einer der wirklichen Managementfahler bei den damaligen Konversionsprojekten war vermutlich, dass man zu viele Dinge zu lange hat nebenher laufen lassen, ohne die einen zu schließen und die anderen richtig zu fördern.

8 Feststoffbatterie: Aktueller Entwicklungsstand: Wann ist die Feststoffbatterie serienreif? AUTO ZEITUNG 04.01.2023

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