Die politische Linke in der Krise

Ein Buch als Ausdruck des Niedergangs

Die Linkspartei ist nur noch durch drei gewonnene Direktmandate im Bundestag vertreten. Ihre Wählerschaft hat sie im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 mehr als halbiert. Dabei wird die politische Linke angesichts der aktuellen multiplen Krise dringend gebraucht. Zeit also für eine selbstkritische Analyse, für eine Aufarbeitung der Fehler der Vergangenheit. In der Partei findet dies derzeit nicht statt, dafür haben sich die verschiedenen Flügel so zerstritten, dass kaum ein Ausweg zu erkennen ist. Sven Brajer war Mitglied der Linkspartei. Nun hat er ein Buch vorgelegt, in dem er die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken nachzeichnen will. Leider ist es selbst Ausdruck des Niedergangs der Linken und als Hilfsmittel für eine Analyse der Misere unbrauchbar. Dritter Teil unserer losen Reihe über Bücher zur Lage der Linken.

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Sahra Wagenknecht: Die Linkspartei zerlegt sich derzeit bei Streit um den Umgang mit ihrer prominentesten Abgeordneten.
Foto: DIE LINKE Nordrhein-Westfalen, Lizenz: CC BY-SA , Mehr Infos

Die Sache ist eindeutig: Die Linkspartei liegt am Boden. Der Wiedereinzug in den Bundestag gelang 2021 nur äußerst knapp über die Grundmandatsklausel. Seitdem wird noch intensiver als zuvor über die Gründe des Niedergangs diskutiert. Schließlich erhielt die Partei im Jahr 2009 immerhin 11,9 Prozent und mehr als fünf Millionen Wählerstimmen. Vor gut anderthalb Jahren waren es 4,9 Prozent und gerade einmal knapp 2,3 Millionen Stimmen. Namhafte linke Politiker wie Oskar Lafontaine und Fabio De Masi haben mittlerweile die Partei verlassen, die sich derzeit in Grabenkämpfen insbesondere um die Positionierung zum Ukraine-Krieg befindet. Im Fokus steht vor allem Sahra Wagenknecht, die beliebteste Politikerin der Partei. Sie will nicht mehr für den Bundestag kandidieren und liebäugelt mit einer Parteineugründung. Die Linkspartei steht vor der Spaltung. Genug Stoff für eine Analyse der „(Selbst)Zerstörung der deutschen Linken“. So lautet der Titel des Buches von Sven Brajer, das aber leider keine Analyse ist und wenig Erkenntniszugewinn bietet.

Ich werde gleich begründen, warum das Buch kaum hilft, die linke Misere zu verstehen. Stattdessen ist es Ausdruck dieser Misere. Vorab möchte ich in wenigen Sätzen skizzieren, welche Kritik Brajer an der real existierenden Linken übt. Denn dass die Linke heute zum „woken Establishment“ gehört oder besser gehören will, wie Brajer schon im Untertitel andeutet, ist vielfach zu erkennen. Die Identitätspolitik hat die Kapitalismuskritik, traditionell die Basis linker Politik, in der Tat größtenteils abgelöst. Diese Kritik ist an vielen Stellen zu lesen. Die Linkspartei ist im Mainstream angekommen, will möglichst mitregieren und tut dies auch, wo es möglich ist. Faule Kompromisse inklusive. Dabei hat sie sich längst den Mechanismen des bürgerlichen Staates und seiner Medienkampagnen unterworfen. Großen Teilen der Linkspartei waren die autoritären Corona-Maßnahmen zudem nicht autoritär genug.

Die politische Entwicklung der Linken verläuft parallel, teilweise nachholend und teilweise voranpreschend zur generellen Tendenz in der politischen Landschaft der Bundesrepublik. Dabei versucht die Linkspartei die kleinbürgerliche städtische Mittelschicht zu adressieren, während sie die Masse der Lohnabhängigen und die Prekarisierten aus dem Blick verliert. Dies ist die mit wenigen Worten grob zusammengefasste Kritik Sahra Wagenknechts. Sie übt sie an den „Selbstgerechten“1, die sie im linksliberalen Milieu sieht, zu der sie große Teile der eigenen Partei zählt. Dieser Kritik folgt Sven Brajer. Aber schon bei der Beschreibung von Wagenknechts Position fängt das Problem des Buches an. Wagenknecht verfolge einen Ordoliberalismus, schreibt Brajer an einer Stelle, was sicher nicht verkehrt ist. An anderer Stelle bezeichnet er Wagenknechts Flügel innerhalb der Linkspartei als die „letzten echten Linken“. Aber was ist am Ordoliberalismus „links“? Was ist überhaupt „links“? Die Sozialdemokratie nach dem Godesberger Programm der SPD? Soziale Marktwirtschaft? DDR-Staatssozialismus?

Okay, es kommt auf den Standpunkt an. Und genau hier ist das Problem von Brajer: Er hat keinen analytischen Standpunkt, nur einen moralischen. Er kritisiert die Zerstörung der Linkspartei, weil sie ihm nicht gefällt, weil er sich anderes erhofft hatte, als er vor einigen Jahren eingetreten ist. Das aber reicht für eine Analyse mit dem Ziel, die Hintergründe einer Entwicklung zu verstehen, nicht aus. So verschafft das Buch seinen Lesern keinen Erkenntnisgewinn. Brajer zeichnet mit vielen langen Zitaten aus Programmen, programmatischen Schriften wichtiger Akteure und diversen aktuellen (und kaum analytisch-wissenschaftlichen) Artikeln die Entwicklung nach. Das kann man machen. Für ein Buch, das die Geschichte der Linken in den vergangenen dreißig Jahren darstellen will, ist das aber viel zu wenig. Denn gerade in der Defensive kommt es darauf an, selbstkritisch zu verstehen, was Grundlage der Misere ist.

Das aber geschieht in der politischen Linken zu wenig und deswegen ist das Buch Teil der Misere. Wer sich über eine Fehlentwicklung empört, der kann dies gerne in einem Kommentar tun. Oder auch sich in einem Blogbeitrag den Frust von der Seele schreiben. Ein Buchautor sollte tiefer in die Materie eintauchen, Zusammenhängen nachspüren und diese dann darstellen.

Brajers Buch wirft wiederholt die Frage auf, ob der Autor überhaupt versteht, was er da schreibt. Es folgen ein paar Beispiele: Da wird die „fordistische Massenproduktion“ zum historischen Gegenmodell der Agenda-Reformen Schröders, aber man kann doch kein Produktionsmodell mit einer politischen Antwort auf dessen Krise vergleichen. An anderer Stelle heißt es, ein Tempolimit von 100 führe dazu, dass in Deutschland gar nichts mehr funktioniert. Nun gibt es in fast allen anderen Ländern Europas Tempolimits. Funktioniert da auch nichts mehr? Das ist viel zu kurz gegriffen. Laut Brajer wird schließlich eine Vermögenssteuer zur Abwanderung der DAX-Konzerne führen. Nun ja, wenn, dann stört eine solche Steuer den Mittelstand. Zusammengefasst macht sich Brajer überspitzte Kritiken an linken Positionen zu eigen, ohne nähere Begründung. Einige davon haben zudem eindeutig neoliberalen Hintergrund. Immer wieder gibt es darüber hinaus verwirrende Sprünge im Text und zuweilen auch unerklärliche Fehler, wie beispielsweise drei Schreibweisen des Namens von Susanne Hennig-Wellsow auf einer Doppelseite (an anderer Stelle ist dann noch eine vierte zu finden).

Dass Brajer zudem Grundlagen der Kapitalismusanalyse einfordert oder auch die Dialektik hochhalten will, davon aber selbst nichts versteht, soll das folgende Beispiel darstellen. Es gibt in Gänze einen guten Einblick in die Arbeitsweise des Autors. Brajer hat sich für sein Kapitel über die Unterwanderung der Linken durch antideutsche Strömungen einen Artikel von Hintergrund vorgenommen.2 Er zitiert ihn über weite Strecken, angeblich weil dieser aus Zensurgründen nicht erreichbar war. Zensur aber hätte die Hintergrund-Redaktion mitbekommen. Außer weniger Stunden aus technischen Gründen war der Text seit Jahren immer online. An den Antideutschen kritisiert Brajer (unter anderem) „idiotische Identitätspolitik“, „wahnhafte Deutschland-Hasserei“ und ihren „irren Kult“ um Israel. Nun gibt es an den Antideutschen viel zu kritisieren, aber solch sprachliche Entgleisungen wären vielleicht etwas für ein polemisches Flugblatt. Im Buch stört es. Vor allem dann, wenn hinter der Kritik kein Inhalt steht oder dieser dann auch noch abgeschrieben ist. Bei Hintergrund-Autor Jens Mertens und bei anderen.

Schauen wir dafür auf einen zitierten Satz, den Brajer offenbar durch sein fehlendes dialektisches Verständnis des Kapitalismus nicht verstanden hat. Er ist ebenfalls eine Übernahme von Mertens und stammt aus einem Aufruf des linksradikalen „Ums Ganze“-Bündnisses aus dem Jahr 2007. Brajer hält ihn für eine Blüte der antideutschen „Ideologiekritik“, dabei haben die Linksradikalen, die keine Antideutschen sind, bei ihrem Demoaufruf eine schlichte Tatsache im Kapitalismus ausgesprochen: „Unter den Vorzeichen der Alternativlosigkeit hat der Prolet sehr wohl ein Interesse daran, ausgebeutet zu werden – denn er hat ja sonst nichts, was ihm die Existenz sichert.“3

In einfachen Worten erklärt: Im Kapitalismus haben die Arbeiter nur ihre Arbeitskraft, die sie an die Ausbeuter, die Besitzer der Produktionsmittel, die Kapitalisten verkaufen können. Gleichzeitig, und das ist die dem Kapitalismus innewohnende Dialektik, können nur sie selbst durch ihre Organisation, die Arbeiterbewegung, gegen diese Ausbeutung vorgehen und sie bestenfalls politisch transformieren. Jede Reform innerhalb des Kapitalismus reproduziert auf die eine oder andere Weise das eben grob skizzierte Verhältnis. Mit der Alternativlosigkeit, von der in dem „Ums Ganze“-Text die Rede ist, ist das Fehlen einer wirklichen Arbeiterbewegung gemeint. Nun spielt es überhaupt keine Rolle, ob die Linksradikalen es überhaupt hätten schaffen können, eine solche Arbeiterbewegung wieder zum Leben zu erwecken. In jedem Fall hat Brajer den Aufruf nicht verstanden. Er meint, die zitierte Auffassung sei mit der Agenda-SPD oder den Realo-Grünen vereinbar und keine linke Position. SPD und Grüne sind allerdings der Meinung, der neoliberale Kapitalismus sei alternativlos.

Das „Ums Ganze“-Bündnis vertritt im zitierten Text eine gegenteilige Ansicht, kritisiert deshalb die vermeintliche Alternativlosigkeit und versucht, ihr eine neue Bewegung entgegenzusetzen. Und wer sich ein wenig mit der Geschichte (und der Theorie) der Linken beschäftigt hat, der weiß, dass die objektive Klassenlage noch nicht automatisch ein Klassenbewusstsein schafft. Diese Erklärung liefert der Aufruf mit. Man könnte einwenden, dass bereits im Hintergrund-Text, aus dem Brajer zitiert, das beschriebene Missverständnis enthalten ist. Das aber macht es eher schlechter. Denn Brajer hat den Aufruf selbst vermutlich nie gelesen. Dafür spricht, dass er die Quelle direkt von seinem Gewährsmann Mertens übernimmt. Unter der angegebenen URL ist der zitierte Text aber längst verschwunden. Er ist seit langem nur noch im Internetarchiv zu finden. Käme so etwas einmal vor, wäre es zu vernachlässigen. Bei Brajer hat dieses unreflektierte Abschreiben System.

Es könnten viele weitere Stellen aufgezählt werden, an denen Brajers Text hakt. An anderen interpretiert er an den von ihm seitenweise zitierten Artikel vorbei. Zusammengenommen kann das Buch als Materialsammlung verstanden werden, die die moralische Empörung von Brajer untermauert. Wobei das Buch an einigen Stellen, an denen ausführlich zitiert wird, noch am besten ist. Hätte er einige analytische, tiefgründigere Texte zurate gezogen, vielleicht wäre es insgesamt brauchbarer geworden. Zumindest als Materialsammlung.

Brajers Buch zeichnet zwar grob eine Entwicklung nach, bleibt aber an der Oberfläche stecken und erklärt wenig. Wer sich mit dem Autor über die Entwicklung der Linken empören will, der wird sich bestätigt finden. Ratlos bleibt aber zurück, wer verstehen will, warum das alles geschehen ist. Warum die deutsche Linkspartei nicht in der Lage war, nach einer Vereinigung der beiden linken Grundströmungen des 20. Jahrhunderts die falsche Dualität zu überwinden. Letztlich stand die PDS in der Tradition des bolschewistischen Kommunismus und die WASG in jener der reformistischen Sozialdemokratie. Beiden Linien ging es schließlich immer um die Übernahme der Staatsmacht. Dass Brajer dies nicht versteht, gehört ebenfalls zur Misere der Linken, denn dass sie es nicht geschafft hat, eine adäquate Bildungsarbeit zu machen und gleichzeitig sich selbstkritisch den eigenen Fehlern zu stellen, fällt auf sie zurück. Zusammengenommen: Die Partei agiert an der Oberfläche und wird nicht radikal, geht nicht an die Wurzeln des Übels. Damit ist sie in der Logik des Parteiensystems stecken geblieben.

Interessant wäre für eine tiefgründige Analyse beispielsweise die Frage, warum die Linkspartei nicht die vielen Traditionslinien eines dritten Weges produktiv aufnehmen konnte? Warum sie zum einen auf das Feld der Identitäten ausgewichen ist und zum anderen (auch damit) darum wirbt, endlich anzukommen und prinzipienlos in der Regierung mitmachen zu dürfen? Auch der Frage, warum viele Linke die Corona-Maßnahmen am liebsten noch autoritärer gesehen hätten – Stichwort Zero Covid – könnte man nachgehen. Das sind nur einige der Fragen, die ein Buch über die Selbstzerstörung der Linken beantworten oder zumindest aufwerfen sollte. Und sich nicht nur empören. Für eine tiefe Analyse der Linken wäre viel mehr nötig. Brajers Buch hat leider eine Chance verpasst. Und reiht sich, so könnte man etwas flapsig konstatieren, damit nahtlos in die Geschichte der deutschen Linken ein.

Sven Brajer, Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment, Wien 2023, 229 Seiten, 22 Euro

Quellen

1 Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt a.M. 2021

2 https://www.hintergrund.de/politik/inland/die-linke-von-innen-umzingelt/

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Die politische Linke in der Krise – Rezensionen

Teil 1: Artur Becker, Links, Westend 2022
Teil 2: Göran Therborn, Die Linke im 21. Jahrhundert, VSA 2023
Teil 3: Sven Brajer, Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Promedia 2023

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