Ein Blick ins tatsächliche Deutschland (Teil 1)

Rechts oder links oder was? Ein Versuch, sich dem zu nähern, was die Menschen in unserem Lande bewegt.

Die AfD liegt in Umfragen bei zwanzig Prozent und gleichauf mit der SPD, die Grünen befinden sich eher im freien Fall. In zwei Gemeinden erringt die AfD bei der Stichwahl gar die absolute Mehrheit. Die Aufregung ist groß und die verschiedensten Deutungen kursieren. Axel Klopprogge rückt in seinem Essay den Blick auf deutsche Befindlichkeiten zurecht. (Teil 1)

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“Die Menschen in Deutschland wollen reden. Es ist nicht schwer, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. An der Ladentheke. In der Gaststätte oder im Biergarten.”
Foto: Christiane Birr Lizenz: CC BY-SA 2.0, Mehr Infos

Es ist falsch, wenn man die Betonung auf die Frage legt: »Wer soll regieren? Das Volk (der Pöbel) oder die wenigen Besten? Die (guten) Arbeiter oder die (bösen) Kapitalisten? Die Mehrheit oder die Minderheit? Die Partei von links oder die Partei von rechts oder eine Partei der Mitte?« Alle diese Fragen sind falsch gestellt. Denn es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann. Jede Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, dass man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiß, dass man sie nicht so leicht loswerden kann.“

Karl Popper (1902-1994)

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Die einen erklären den Erfolg der Rechtspopulisten mit dem Rechtspopulismus, als könne eine Partei oder Bewegung selbst entschieden, wieviel Erfolg sie habe. Andere meinten, das Hauptproblem sei die Zuwanderung und jede Tagesschau mit Gendersprache treibe die Wähler in die Arme der AfD. Bei den Grünen kursieren Forderungen, die AfD zu verbieten. Echt? Kann eine Fünfzehnprozentpartei eine Zwanzigprozentpartei verbieten? Oder eine Dreiundfünfzigprozentpartei wie in Sonneberg? Wer sind denn die Menschen, die AfD wählen? Ist es vielleicht das Drittel, das angeblich Gewalt gegen Frauen für akzeptabel hält? Der frühere AfD-Vorsitzende Erich Meuthen konstatierte kürzlich, die AfD propagiere inzwischen einen „völkischen Sozialismus“. Das mag so sein und es ist schlimm genug, aber was hat es mit den Wählern zu tun? Die Wählerwanderungen zeigen ja, dass die Wähler der AfD keine anderen Menschen sind als diejenigen, die vorher SPD, CDU, FDP, Linke oder Grüne gewählt haben.1 Aber warum tun es die Menschen dann?

Expeditionen zu Eingeborenen – so nah und doch so fern

Der französische Philosoph Gaspard Koenig ritt im Sommer 2020 mit seiner Stute Destinada 2.500 km durch Frankreich, Deutschland und Italien – von Bordeaux über München bis Rom. Wo immer möglich wohnte er in Privatquartieren und sprach mit den Einheimischen nur in der Landessprache. Er berichtet: „Die Menschen reden nie von dem, was in den Medien vorkommt. In Paris gab es kein Dinner, bei dem nicht von Macron die Rede war. In den zweieinhalb Monaten, die ich Frankreich durchquerte, sprach ich mit Hunderten von Menschen. Nie hat jemand, ich schwöre es, Macron erwähnt.“2 Aber wovon reden die Menschen dann? Was bewegt sie?

Ich selbst mache seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf unterschiedliche Weise ähnliche Erfahrungen. Während meines Studiums arbeitete ich jedes Jahr mehrere Monate als Briefträger – damals kam man noch in die Wohnungen und mit Menschen aller Schichten und Milieus ins Gespräch. Zwischen 1993 und 2013 wanderte ich zusammen mit meinem Schwager und unseren Söhnen einmal um Deutschland herum.3 In den letzten Jahren haben meine Frau und ich fast alle deutschen Flüsse mit dem Fahrrad abgefahren. Wir sind zu Fuß von München nach Venedig gewandert.4 Außerdem haben wir in einem gezielten Projekt mit dem Arbeitstitel „Deutsches Mittelmaß“ 25 deutsche Mittelstädte erkundet. Wir haben den Osten Deutschlands, der mir durch jährliche Familienbesuche zu DDR-Zeiten ohnehin vertraut war, so intensiv erkundet, dass meine Frau schließlich forderte, jetzt wolle sie zur Abwechselung mal was im Westen sehen. Seit jeher habe ich beruflich die Gelegenheit und die Aufgabe, mit Menschen aller Schichten Gespräche zu führen – von der Reinigungskraft bis zum Vorstand oder Minister. Hinzu kommen noch die vielen Gelegenheiten, die der Alltag bietet – im Zug, im Geschäft, am Strand, irgendwo im Biergarten, mit dem Kellner im Restaurant, bei Familienfeiern oder im Freundeskreis. Ich habe diese Gespräche immer gesucht und ich habe sie immer geliebt. Ich habe ihnen unendlich viel zu verdanken. Ich habe unendlich viel aus ihnen gelernt, über die unterschiedlichsten Lebensmodelle, über Lebensverhältnisse, über Biografien. Ich liebe die tolerante Gelassenheit, die Weisheit5, das „Leben-und-leben-lassen“, das die Menschen ausstrahlen.

Ich möchte diese Erfahrungen benutzen, um ein Bild von dem zu skizzieren, was die Menschen bewegt, wovon sie reden und wovon nicht. Natürlich ist dieses Bild subjektiv, aber Hunderte Gespräche und viele Beobachtungen über mehrere Jahrzehnte sind dann doch ein ordentliches Stück empirischer Sozialforschung. Und vor allem: Nicht nur ist das Bild von meiner Auswahl geprägt, sondern ich selbst und mein Blick auf die Welt wurden von diesen Gesprächen und Beobachtungen geformt.

Die Menschen wollen reden

Bevor ich zu einzelnen Themen komme, möchte ich auf das vielleicht Wichtigste hinweisen: Die Menschen in Deutschland wollen reden. Es ist nicht schwer, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. An der Ladentheke. In der Gaststätte oder im Biergarten. Man redet mit dem Nebentisch oder man setzt sich einfach dazu. In der Bahn, besonders natürlich im dichtgedrängten Fahrradabteil. Man kommt mit Jung und Alt genauso ins Gespräch wie mit Menschen, die nicht blond und blauäugig sind. Man muss keine Angst haben, irgendwo ins Fettnäpfchen zu treten. Die Menschen sind nicht zimperlich. Man kann über Berufliches und Privates genauso reden wie über Politisches oder Frivoles. Man kann auch Fragen stellen. Dann erzählen die Menschen freudig und bereitwillig. Einen Safe Space braucht hier niemand. Bisweilen zuckte ich über die indiskreten Fragen meiner Frau zusammen, aber tatsächlich hat es den Menschen nie etwas ausgemacht, sondern sie haben den Ball gerne aufgenommen, ohne Scheu oder mit einem Lachen die Frage beantwortet und ebenso offen zurückgefragt. Zwei Stichworte oder Fragen – und schon erfährt man ganze Lebensgeschichten. Nicht selten kommt man mit Wildfremden nach wenigen Minuten vertraulicher über heikle Themen ins Gespräch als mit langjährigen Freunden. Ich habe nie erlebt, dass in solchen Gesprächen den Menschen mit Migrationshintergrund irgendeine Frage unangenehm oder peinlich war. Bereitwillig erzählen sie über ihre Heimat – und manchmal ist diese Heimat einfach Deutschland. Oft machen sie sich über sich selbst und die Klischees lustig. Und natürlich redet man meistens über Themen jenseits der angeblichen Identitäten: Mit Managern redet man nicht über Management, sondern über Fußball. Mit unserer Trans-Nachbarin nicht über Transsexualität, sondern über Kräuter- und Tomatenanbau. Mit unseren schwulen Freunden nicht über Queerness, sondern über Zahnmedizin und mongolische Geschichte.

Was ich hier beschreibe, sind nicht nur die eigenen Gesprächserfahrungen, sondern jeder kann es auch beobachten. Beim alteingesessenen Italiener einer fränkischen Stadt trifft sich eine heitere und freundschaftliche Runde älterer Männer – wie sich herausstellt, waren es früher Chefärzte am örtlichen Krankenhaus. In der Kneipe einer Kleinstadt kommt der Pfarrer nach der Messe mit seinem Vikar vorbei, trinkt eine Maß Bier und redet mit diesem oder jenem. An einem Bierstand an der Werra erzählt ein Bergmann von der Arbeit untertage im Salzbergbau. In einem dörflichen Gasthof sitzen der ältere Pfarrer und eine noch ältere Frau auf der Ofenbank, trinken ihren Schoppen oder auch mehrere und erzählen sich in tiefstem Bairisch nicht immer stubenreine Witze, bis ihnen vor Lachen die Tränen kommen. In einer Dorfkneipe auf Rügen diskutiert man an der Theke über Politik und, ob wir wollen oder nicht, werden wir nach kurzer Zeit einbezogen. Einer der Diskutanten ist wohl ein lokaler Öko-Freak mit Zopf, der andere will ständig Deutschland retten und glaubt, bei Adolf und Erich wäre schneller entschieden worden. Man streitet heftig, aber man geht sich nicht aus dem Weg, sondern trifft sich wahrscheinlich jeden Abend an diesem Ort. Bei einer Weinprobe bedankt sich meine Frau bei einem jungen schwulen Paar scherzhaft dafür, dass sie den Altersdurchschnitt des wohlsituierten Publikums senkten und spontan wechseln die beiden an unseren Tisch. Ein perfekt Deutsch sprechender afghanischer Jugendlicher, der mit seiner großen Familie per 9-Euro-Ticket durch Deutschland reist, fragt mich im Zug, was man eigentlich gemacht hat, als es noch kein Internet gab.

In vielen Gegenden spricht man Dialekt – in unterschiedlichen Härtegraden vom Akzent bis zu ganz anderen Worten und grammatischen Strukturen. Nach eigenen Angaben sprechen 60 Prozent der Menschen in Deutschland Dialekt. In den südlichen zwei Dritteln Deutschlands wahrscheinlich mehr als im Norden. Die regionale Mundart gibt dem Gesagten einen anderen Charakter. In der Regel duzt man sich im Dialekt. Man kann, ja man muss ungeschminkter und grober reden, aber trotzdem wirkt es weicher und herzlicher. Der Wärmeaustausch funktioniert interessanterweise auch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Dialekten, mehr jedenfalls als mit Leuten, die Wert auf ihr Hochdeutsch lagen.

Von allen diesen Touren und Begegnungen kann ich bestätigen: Niemand spricht Gendersprache, niemand hat Sehnsucht danach. Wenn man ausdrücklich darauf zu sprechen kommt, dann rollen die Menschen nur die Augen. Eine schwäbische Altenpflegerin kommentiert: „Wenn mer sonschd nix zu do hed!“ Die Menschen empfinden das Gendern als selbstgerechte Anmaßung, als arroganten Eingriff in ihr Recht, frei Schnauze zu reden. Ohne dass sie diese Vokabel benutzen: Es ist für sie keine linke, sondern eine zutiefst rechte Oberschichtidee. Vor allem jedoch wird man mit einer selbstgerechten Sprache nicht an der offenen und herzlichen Kommunikation teilnehmen, die ich gerade skizziert habe. Und deshalb wird man auch nichts von dem erfahren, was ich im Folgenden zu beschreiben versuche.

Mir geht es nicht darum, eine konfliktfreie Idylle zu konstruieren. Selbstverständlich gibt es alle Probleme, Konflikte, Gemeinheiten in Gaußscher Normalverteilung. Die Millionen arbeitenden Menschen in diesem Land stehen mit beiden Beinen auf dem Boden und deshalb ist ihnen nichts Menschliches fremd. Wenn man aber nicht mit ihnen redet und sich nicht einlässt auf die robuste Herzlichkeit, dann wird man auch nie den unermesslichen Reichtum sehen, der in den menschlichen Beziehungen enthalten ist.

Ein Volk auf dem Weg nach rechts?

Das eigene Volk unter Generalverdacht

Im Juni 2023 wurde der jährliche Bericht der Antidiskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung vorgestellt. Danach gab es im Berichtsjahr 8.827 gemeldete Fälle von Diskriminierung aller Art, davon 43 Prozent mit rassistischem Charakter.6 Die Beauftragte sprach von einem strukturellen gesellschaftlichen Problem, von einer Dunkelziffer und davon, dass man mehr Meldestellen einrichten müsse. Ich wunderte mich über die Zahl: 8.827 Fälle bei einer Einwohnerzahl von 84 Millionen? Das sind 0,01 Prozent! Natürlich ist jeder einzelne Fall zu viel, aber gibt es deshalb ein strukturelles Problem? Die Zahl zeigt doch eher, dass wir kein strukturelles Problem haben – und das gilt selbst dann, wenn, wie ich vermute, die Zahl der tatsächlichen Fälle viel höher liegt.

Zum Vergleich: Pro Jahr gibt es in Deutschland rund 15.000 Autodiebstähle, rund 350.000 Ladendiebstähle, 150.000 Fälle von Körperverletzung und rund 1.200 Fälle von Mord. Des Weiteren 800.000 Fälle von Betrug, davon allein 70.000 Fälle von Tankbetrug. Und es soll 60.000 Satanisten und 200 Kannibalen geben. Und so weiter und so fort. In den Unternehmen, in denen ich gearbeitet habe, gab es große Werke mit Zehntausenden Mitarbeitern. In diesen Werken gab es alles, was es eben auch in einer mittelgroßen Stadt gibt: Diebstahl, Drogenmissbrauch und Drogenhandel, Mobbing, Prostitution, Kinderpornografie, Ausländerfeindlichkeit und Streitigkeiten zwischen Ausländern, übrigens auch Spionage – genauso wie es auch alle anderen menschlichen Eigenschaften von Fußpilz bis Raucherhusten in repräsentativer Verteilung gab. Wo Verstöße offenbar wurden, gingen wir sofort mit polizeilichen und arbeitsrechtlichen Mitteln dagegen vor, genauso wie es die Staatsanwaltschaft und Polizei im öffentlichen Raum macht. Aber sind deshalb die Menschen in Deutschland oder die Mitarbeiter von Mercedes oder Airbus alle latente Diebe, Mörder, Pädophile, Spione – und das natürlich nicht nur individuell, sondern strukturell?

Also machen wir uns auf den Weg in den Urwald zu unserem Eingeborenenstamm. Es ist viel die Rede von rechten Milieus, von einem Rechtsruck, von Rechtspopulisten. Die Vorwürfe, transphob, Klimaleugner, frauenfeindlich oder rassistisch zu sein, setzen implizit voraus, dass es in den gesellschaftlichen Werten verankert ist, nicht so zu sein – sonst müsste man ja erst einmal Überzeugungsarbeit leisten. Genauso kann der immer wieder erhobene Populismusvorwurf nur funktionieren, wenn er an etwas appelliert, was im Populus, also dem Volk an Wünschen, Werten, Erwartungen schon vorhandenen ist. Im Brennpunkt solcher Links-Rechts-Zuordnungen steht meistens ein kleiner Katalog von Themen – Frauen, Ausländer, Schwule und Klimawandel. Vielleicht noch Europa. Schauen wir uns diese Themen genauer an.

Ein Volk von patriarchalischen Frauenfeinden?

Eigentlich möchte ich zu diesem aus der Zeit gefallenen Thema gar nichts mehr sagen. Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung aus. Sie sind überall. Sie machen alle Arbeiten, sie leiten Geschäfte. Sie sind Kanzler und EU-Kommissionspräsident oder Busfahrer und Haupkommissar. Sie zahlen im Restaurant genauso wie Männer. Sie sprechen an und lassen sich ansprechen, genauso wie Männer das machen. Junge Frauen wandern allein über die Alpen oder sind mit dem Rad unterwegs. All diese wunderbar selbstbewussten und lockeren Frauen sind so weit entfernt von den Opferthemen, die uns ständig präsentiert werden. Nie hatte ich den Eindruck, dass diese Frauen die männliche Hälfte der Bevölkerung für unheilbar toxisch halten. Im Gegenteil: Der aktuelle Opfer-Feminismus stößt bei den selbstbewussten Frauen noch mehr auf Ablehnung als bei den Männern. Eine Unternehmerin sagte vor der letzten Bundestagswahl: „Eigentlich wollte ich die Grünen wählen. Aber als sie nach Baerbocks Fälschungs- und Plagiatsgeschichte die Frauen-Opfer-Karte zogen, waren sie für mich gestorben.“ Generell ist mein Eindruck, dass die selbstbewussten Frauen noch vehementer gegen Frauenquoten sind als die Männer. Die Männer sagen meist gar nichts mehr dazu und halten sich an Wilhelm Buschs Regel: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“

Vom Vorwurf der Frauenfeindlichkeit habe ich bei meinen Gesprächen nie etwas gehört. Im Gegenteil, während wir Männer die Frauen sowieso ganz wunderbar finden, reden Frauen oft sehr selbstkritisch oder auch selbstironisch über sich und ihre Geschlechtsgenossinnen. Man lästert über Männer, man lästert über Frauen, ohne auch nur im Entferntesten in diese toxischen Verdächtigungen und Schuldzuweisungen abzurutschen. Man kann Komplimente machen. Man darf frivol sein – und die Frauen sind es auch. Die meisten schmutzigen Witze habe ich sowieso von Frauen gelernt. Ich liebe seit jeher die lockeren selbstbewussten Frauen, die Arbeiterinnen, die Geschäftsfrauen, die Bäuerinnen, aber auch die Mütter, die Haushalt und Familie managen. Ich erkenne hier das, was Simone de Beauvoir sich wünschte und was sie schon vor 70 Jahren den arbeitenden Frauen zuschrieb.7

Ein Volk von Homophoben und Transphoben?

In all den Gesprächen ist mir nie begegnet, dass man abwertend über Schwule und Lesben geredet hätte. Und auch Transsexuelle waren nie ein Thema. Die Menschen sind weder schockiert vom Christopher Street Day noch von Dragqueens im Fernsehen. Das alles ist für Menschen nicht im Entferntesten so wichtig, wie es die mediale Aufregung erscheinen lässt. Und selbst wenn es wirklich nicht ihr Ding sein sollte, dann läuft es einfach mit in der ganz normalen alltäglichen Toleranz oder von mir aus auch Gleichgültigkeit, die die Menschen im Alltag gegenüber vielen Dingen praktizieren, die von ihrem Geschmack abweichen.

Bei der Behauptung, dass das biologische Geschlecht nicht binär und sowieso nur ein gesellschaftliches Konstrukt sei, steigen die Menschen allerdings aus. Schließlich wissen die meisten aus eigener Erfahrung, wie man Kinder macht. Und auf dem Land erleben sie auch im Stall eine ziemlich binäre Geschlechtlichkeit. Während sie über solche Theorien eher großzügig lächelnd hinweggehen, finden sie es weniger lustig, wenn der Bevölkerung in den Medien ständig Transphobie, Misogynie und ähnliche Dinge unterstellt werden. Sofern man die Schwulen überhaupt noch besonders bemerkt: Sie sind einfach zu einem bestimmten Prozentsatz ganz normal dabei, bei der Arbeit, in Hotels und Restaurants oder als Minister. Niemand hält sich damit auf. Und ebenso wenig möchten die Menschen unter irgendeinen Generalverdacht gestellt werden.

Ein Volk von Klimaleugnern?

Umweltschutz ist seit vielen Jahren, ja seit Jahrzehnten in der Mitte der Bevölkerung angekommen. Die Menschen sind gerne in der Natur. Sie genießen es, dass die Flüsse und Seen sauber sind. Sie trennen Müll und halten ihre Kinder zu umweltfreundlichem Verhalten an. Obwohl die meisten nie Hunger erlebt haben, mögen sie es nicht, Essen wegzuwerfen. Der typische Deutsche, der ohne Rücksicht auf Umwelt und Tierschutz jeden Tag drei Schnitzel und zwei Schweinshaxen verschlingt, ist mir nicht begegnet. Die Menschen hängen auch nicht an stinkenden Auspuffen (die es ohnehin schon lange nicht mehr gibt), sondern werden ohne Weiteres ein Elektroauto fahren, wenn es die nötige Praxistauglichkeit hat und bezahlbar ist. Sie machen keinen Ölwechsel über dem Gullideckel. Es gibt keine wilden Müllkippen mehr, aber in jedem Ort eine Kläranlage. Und die Menschen haben längst verstanden, dass der Klimawandel ein entscheidendes Thema ist, dem wir uns widmen müssen und das bestimmte Dinge genauso verändern wird wie frühere Maßnahmen des Umweltschutzes.

Trotzdem gibt es ein großes Unverständnis gegenüber „Fridays for Future“ und noch mehr gegenüber den Klimaklebern der „Letzten Generation“. Und dies hat beileibe wenig mit Alt gegen Jung, mit Babyboomer gegen „Gen Z“ zu tun. Es hat auch – anders als in Zeitungsberichten oder Talkshows zu hören – wenig damit zu tun, dass sich die Leute auf dem Weg zur Arbeit von Verkehrsstaus gestört fühlten. Nein, wie schon oft bei Streiks gesehen, haben die Menschen im Prinzip viel Verständnis für Protestaktionen, selbst wenn sie von den Folgen betroffen sind. Im kleinstädtischen oder ländlichen Raum wurden die Pendler sowieso nicht gestört. Der Groll, ja eine regelrechte Verachtung beruht auf einem ganz anderen Gedankengang: Für die arbeitenden Menschen, die in ihrer Arbeit jeden Tag erleben, dass man nicht erntet, wenn man nicht säht, dass der Abfluss nicht frei wird, wenn man ihn nicht repariert, dass man keine Kunden hat, wenn man nicht um sie wirbt – diese Menschen verstehen nicht, dass man angeblich ein unendlich wichtiges Anliegen vertritt, aber dann nichts für reale Lösungen tut, sondern Freitags das Lernen einstellt, sich festklebt, Bilder mit Suppe begießt oder unablässig in Talkshows lamentiert, dass nicht genug passiere und sowieso noch nie was passiert sei.

Der Eigentümer eines Handwerksbetriebs, mit dem wir auf dieses Thema kamen, dachte überhaupt nicht an pro oder contra Klima, sondern verfolgte eine ganz andere Gedankenkette: Die ganze Bau- und Handwerks-Branche hat mit furchtbarem Arbeitskräftemangel zu tun. Es geht nur noch mit Arbeitskräften aus anderen Ländern – Menschen, die jede mögliche Stunde arbeiten und unter schrecklichen Bedingungen leben, nicht weil die Arbeitgeber ihnen zu wenig zahlen, sondern weil sie möglichst viel nach Hause schicken wollen. Ähnliche Geschichten haben wir immer wieder gesehen – etwa in Hotellerie und Gastronomie. Viele Menschen haben großen Respekt gegenüber den Arbeitsmigranten, die an vielen Stellen den Betrieb aufrechterhalten. Umso mehr ärgern sie sich über Diskussionen unter der Fahne „Work-Life-Balance“, über Meldungen, dass die Zukunft der Arbeit mit dem Laptop am Strand stattfinde, über die Bahn, die mit Homeoffice wirbt oder über Werbesprüche wie „Für eine Welt, in der Innovationen reibungslos verlaufen“. Handelnde Menschen wissen, dass in der realen Welt nichts reibungslos zustande kommt, nicht einmal das Backen eines Kuchens, geschweige denn Innovationen. Und sie wissen, dass man realen Problemen nur durch reale Lösungsarbeit zu Leibe rücken kann.

Ein Volk von Kolonialisten?

Außenpolitik spielt in solchen Gesprächen eigentlich keine große Rolle – erstaunlicherweise nicht einmal der Ukraine-Krieg. Irgendwelche Rufe nach „Raus der EU“ habe ich in all den Jahren nicht vernommen. Natürlich nehmen die Leute an, dass eine europäische Regierung noch weiter weg ist von ihrer Alltagsrealität als eine Bundesregierung, der sie das ja auch unterstellen. Aber die Menschen schätzen und nutzen den grenzenlosen europäischen Raum. Ich habe in all den Jahren niemanden getroffen, der wieder Grenzkontrollen oder nationale Währungen zurückhaben wollte. Natürlich wird es auch Menschen geben, die so denken, aber dass hier ein großer rechter Mob an den Ketten zerrte und nur mit Mühe am Ausstieg aus EU und NATO gehindert werden könnte, kann ich nicht erkennen.

Nichts könnte weiter weg sein von irgendeiner Lebenswirklichkeit der Menschen als die Behauptung, wir müssten jetzt, über hundert Jahre nach unserem ohnehin kümmerlichen Kolonialbesitz, irgendeine kolonialistische Schuld abtragen – allein schon, weil wir Weiße sind. Wer die Geschichte um die Rückgabe der Benin-Bronzen registriert hat, lacht über die Posse. Die Vorfahren der meisten Menschen in Deutschland waren übrigens weder Sklavenhalter noch Sklavenhändler, sondern selbst Sklaven – nämlich Leibeigene auf den Gütern adeliger oder kirchlicher Grundbesitzer.

Ohne diesen Begriff zu verwenden, empfinden es die Menschen als „kolonialistisch“ und auf jeden Fall als peinlich, wenn die Außenministerin überall in der Welt als moralische Zuchtmeisterin auftritt – vor allem dann, wenn man fünf Minuten später wegen Rohstoffen und Handelsbeziehungen den Kotau macht. Das Gleiche gilt für den Binden-Auftritt der Innenministerin bei der Fußball-WM. Außer Cem Özdemir selbst interessiert sich in Deutschland niemand für den türkischen Migrationshintergrund unseres Landwirtschaftsministers. Aber die Menschen fanden es peinlich, dass ein deutscher Minister den türkischen Wählern auf Türkisch erklärt, was sie wählen sollen.

Die Menschen fanden es nicht gut, als Trumps Botschafter in Deutschland der Bundesregierung Ratschläge geben zu müssen glaubte. Und gleichermaßen empfinden sie es als anmaßend, wenn deutsche Politiker dasselbe mit anderen Ländern machen. Viele Menschen haben polnische Kollegen oder Handwerker und reden mit ihnen, vielleicht auch über die Lage in Polen. Weder die PIS in Polen noch Orban in Ungarn haben sich selbst an die Regierung gebracht, sondern sie wurden von einer Mehrheit der Menschen gewählt – vielleicht vom genannten Kollegen oder Handwerker, der dafür Gründe hatte.8 Für die Menschen ist die Beziehung Deutschlands zu anderen Ländern so etwas wie eine Beziehung zu Arbeitskollegen oder Geschäftspartnern, also zu jemand auf gleicher Ebene, und sie stellen sich vor, dass sie in ihren Arbeitsbeziehungen wenig Lust auf einen Oberlehrer hätten.

Ein Volk von Rassisten?

Migration soll einer der größten Punkte der Unzufriedenheit sein, wegen dessen die Menschen AfD wählen. Seltsam: In all den Jahrzehnten kann ich mich an keine Situation erinnern, wo über Migranten oder Menschen, die nicht blond und blauäugig waren, einfach wegen ihrer Herkunft abfällig geredet wurde. Nicht einmal vor zwanzig Jahren in den Neuen Bundesländern, als dort 20 Prozent Arbeitslosigkeit herrschte und man leicht irgendwelche Legenden konstruieren konnte, dass die Ausländer den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen. Ich weiß, dass das kein vollständiges Bild ist und gewiss gab es den NSU und Ausfälle gegen Zuwanderer, allein schon, weil es alles gibt in einer Gesellschaft von 84 Millionen Menschen. Aber ich wollte es dennoch bewusst erwähnen, weil es trotz seiner Unvollständigkeit der Alltagsrealität näherkommt als die reflexartige Etikettierung von allem und jedem als Rassismus, vor allem als ein Rassismus, der nicht nur als Effekt, sondern bereits als Absicht unterstellt wird.

Deutschland ist seit jeher ein Einwanderungsland und das sieht man allenthalben. Aber niemand redet von „Entvolkung“ – allein schon deshalb, weil niemand so schwülstige Begriffe benutzt. Die Menschen erleben doch jeden Tag, was sie an Zuwanderern haben. Die Zuwanderer arbeiten überall. Wenn alles geschlossen ist und die Deutschen ihre Work-Life-Balance pflegen, haben die türkischen Dönerbuden und die Vietnamesen geöffnet. Und man redet miteinander. Mehr als einmal habe ich erlebt, wie Migranten die Deutschen gegen den Vorwurf des Rassismus verteidigt haben. Und wunderbar wird es, wenn Migranten genauso über ihre eigene Herkunft witzeln, wie das Deutsche verschiedener Gegenden untereinander machen. Und genauso wenig wie Bayern oder Sachsen stören sich die Migranten an der angeblich so verpönten Frage: „Woher kommst du?“ Türkische Gemüsehändler, italienische oder griechische Restaurants, osteuropäische Handwerker und vieles mehr sind längst Teil der „deutschen“ Alltagskultur geworden. Und ich bin sicher, das wird auch mit denen passieren, die in den letzten Jahren aus weiter entfernten Kulturen gekommen sind.

Zum Beispiel so: Einen biederen Handwerker, der – um das Klischee zu vollenden – auch noch Taubenzüchter war, fragte eine syrische Familie, ob sie den Taubendreck haben könnte. Misstrauisch fragte er, wozu sie das denn brauchten – vielleicht dachte er an Ammoniak zum Bombenbau. Die Syrer antworteten, sie hätten einen kleinen Gemüsegarten und wollten damit düngen. Der Taubenzüchter gab ihnen den Taubendreck und nach einiger Zeit stand die syrische Familie mit Gemüse vor der Tür und lud zu einem syrischen Essen ein. Heute trifft man sich regelmäßig und der brave Taubenzüchter wurde zum Fan der orientalischen Küche. Wie muss man eine solche Geschichte deuten? War der Taubenzüchter Rassist wegen seines Vorurteils? Oder ist es nicht vielmehr ein wunderbarer Beweis, dass Vorurteile überwunden werden können, wenn Menschen ins Gespräch kommen.

Ein solcher Prozess braucht Zeit, aber man kann überall beobachten, dass er funktioniert. Auch hier im Ort war es am Anfang einfach ungewohnt, als die ersten Schwarzafrikaner auftauchten. Aber inzwischen hat man sich daran gewöhnt. Weiße und schwarze Mädchen freunden sich an und laufen nach der Schule ganz normal Hand in Hand nach Hause. Und auf den Fußballplätzen des Sportparks sind schwarze Jugendliche eine ganz normale Erscheinung – und wahrscheinlich die heimlichen Stars jeder Mannschaft.

Eine wichtige Rolle spielt der ganze Bereich der Arbeit. Für die urbane Mittel- und Oberschicht mag die Zusammenarbeit mit Migranten etwas Neues sein, aber in den Fabriken, in Handwerksbetrieben, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, bei der Müllabfuhr und anderen öffentlichen Dienstleistungen, in Gastronomie und Hotellerie ist die Zusammenarbeit mit Migranten seit Jahrzehnten Alltag. In dem Unternehmen, wo ich Aufsichtsrat bin, besitzen die 2.500 Mitarbeiter 80 verschiedene Nationalitäten. Natürlich gibt es jede Sorte von Problemen und niemand hätte etwas gegen ein bisschen weniger Diversität, aber am Ende bekommt man es hin. In Arbeitsteams, egal ob rein deutsch oder gemischt, wird ständig gehänselt, aber Arbeit verbindet und im Zweifel hält man zusammen wie Pech und Schwefel – zum Beispiel gegen den Vorgesetzten oder einen nervigen Kunden. Das habe ich in meiner Zeit als Briefträger täglich erlebt. Arbeit schafft Respekt füreinander (oder eben nicht – gegenüber dem Deutschen oder Migranten, der nicht gut arbeitet).

Die Grünen-Politikerin Claudia Köhler, die sich seit 2015 viel für die Arbeitsintegration von Flüchtlingen eingesetzt hat, hat recht, wenn sie Arbeitgebern rät, keine Angst zu haben, etwas falsch zu machen: „Zu viel Vorsicht kann mehr ausschließen als der robuste Umgangston im Arbeitsalltag. Gemeinsames Arbeiten ist einfach die beste Form der Integration. Es strukturiert den Tag, es zwingt Menschen zur Kommunikation. Ja vielleicht ist Arbeitsintegration gerade wegen ihrer Robustheit die einzige Form der Integration, die wirklich funktioniert.“9 Und nicht nur Kollegen, sondern auch die Kunden haben sich nicht nur längst daran „gewöhnt“, sondern sie sind froh, dass es diese Menschen gibt und dass sie dazu beitragen, das Land am Laufen zu halten. Wenn Menschen schimpfen oder lästern, dann nicht über Migranten, sondern eher über junge Deutsche, die nach ihrer Meinung keine Lust mehr zum Arbeiten haben.

Niemand im Volk verlangt danach, dass ein Politiker einmal pro Woche etwas gegen Flüchtlinge raushaut, um irgendwen an irgendeinem imaginären rechten Rand mitzunehmen. Ein Populismus, der an etwas appelliert, was der Populus gar nicht will, ist nicht nur schädlich, sondern auch dämlich. Vor einigen Jahren gingen in Bayern die CSU-nahen Handwerker auf die Barrikaden, als die CSU-Regierung die Arbeitsintegration von Flüchtlingen willkürlich erschwerte und hintertrieb.

Ist also alles erfunden und gibt es gar kein Problem? So einfach ist es leider nicht. Natürlich gibt es riesige Probleme, wenn innerhalb kurzer Zeit und ohne Planung und Vorbereitung Hunderttausende Menschen aus fernen Gegenden zu uns kommen – wie sollte es anders sein! Und es gibt eine Reihe von Dingen, die die Menschen gewaltig ärgern – und die hier ansässigen Menschen mit Migrationshintergrund nicht weniger als die Bio-Deutschen. Die Menschen gehen davon aus, dass für diejenigen, die nach Deutschland kommen, erst einmal die Regeln und Werte Deutschlands gelten – so wie die meisten Deutschen im Ausland auch die dortigen Normen und Werte einzuhalten versuchen. Dies beginnt mit der Sprache. Die gewiss unverdächtige Grünen-Politikerin Claudia Köhler rät Unternehmern und Arbeitskollegen: „Immer Deutsch mit den Geflüchteten sprechen – gnadenlos. Nicht eigene Fremdsprachenkenntnisse einsetzen, um es den Geflüchteten vermeintlich leichter zu machen.“ Die Menschen verstehen nicht, warum Weihnachtsmärkte nicht weiter Weihnachtsmärkte heißen sollen, zumal kein Migrant oder Flüchtling eine Umbenennung verlangt hat.10 Sie verstehen nicht, warum Anerkennungsverfahren so lange dauern und man auf diese Weise eine große Gruppe von Menschen schafft, die ohne Bleibeperspektive und ohne Arbeitserlaubnis irgendwo rumlungern. Die Menschen verstehen nicht, dass die meisten Straftäter aus der Gruppe der Flüchtlinge vor ihren schweren Straftaten schon länger als Gefährder bekannt waren, aber nicht abgeschoben wurden. Die Menschen verstehen nicht, warum man über Jahre akzeptiert, dass es No-Go-Areas mit Clanstrukturen gibt, in welche sich selbst die Polizei nicht mehr hineinwagt. Sie verstehen nicht, was daran rassistisch sein soll, solche Strukturen aufzubrechen. Die Menschen verstehen nicht, warum man sagen darf, dass ein Verdächtigter reich, männlich oder jung ist, aber nicht, dass er aus Algerien stammt. Die Menschen verstehen nicht, wenn unter dem Schutz der Religionsfreiheit islamistische Radikalisierungen stattfinden. Die Leute verstehen nicht, wie ein vernünftiger Unterricht stattfinden soll, wenn in manchen Vierteln nur noch eine Minderheit der Schüler Deutsch spricht.

Das alles hat nichts mit irgendeinem Rassismus zu tun. Die Menschen verstehen nämlich umgekehrt auch nicht, warum man Flüchtlinge, die schon in den Arbeitsprozess integriert waren und sogar Steuern bezahlen, plötzlich herausreißt und in die Gemeinschaftsunterkünfte zurückschickt. Die Menschen verstehen ebenso wenig, warum man nicht die Einheimischen, die in Afghanistan für die Deutschen gearbeitet haben, nach allen Kräften vor der Rache der Taliban schützt, d.h. nach Deutschland bringt.

Im 500 Einwohner-Dorf Upahl in Mecklenburg-Vorpommern sollten ohne vorherige Abstimmung 400 Flüchtlinge in Containern untergebracht werden. Der Widerstand der örtlichen Bevölkerung wurde in den Medien sofort als rassistisch gedeutet. Man schaue sich die Berichterstattung in der taz an, in der sofort von „Nazidorf“, von Parallelen zu Rostock 1992 und „völkischen Siedlern“ die Rede ist und natürlich alles mit ostdeutscher Sozialisation erklärt wird. Und Tagesschau oder Süddeutsche Zeitung sind nicht weit von solchen Schnellurteilen entfernt. Basisdemokratie und zivilgesellschaftliches Engagement gibt es offenbar nur für ausgewählte Anliegen.11

Man stelle sich vor, in den Münchener Nobelvierteln, in denen die Grünen stärkste Partei, aber die Ausländeranteile unterdurchschnittlich und die Waldorfschulen typischerweise ausländerfrei sind, würden plötzlich ohne Abstimmung mit der Bevölkerung in demselben Maßstab wie in Upahl Flüchtlinge untergebracht: 18.000 Flüchtlinge im Stadtteil Solln mit seinen 23.000 Einwohnern. 76.000 Flüchtlinge in Bogenhausen mit 95.000 Einwohnern. Würden die Bogenhausener und Sollner einen solchen Zuzug fröhlich als kulturelle Bereicherung begrüßen? Wohl kaum! Aber wie würden sie die Ablehnung begründen? Vielleicht damit, dass Container und Traglufthallen die Lebensräume seltener Tierarten am Isarufer bedrohen? Oder würden sie im Sinne feministischer Integrationspolitik zu bedenken geben, dass die meist muslimischen Männer ein archaisches Frauenbild hätten – und deshalb lieber bei den „völkischen Siedlern“ in Upahl untergebracht werden sollten?

Die Gemeinden, egal von welcher Partei sie geführt werden, klagen über die Belastungen durch simple organisatorische Probleme und natürlich über die Kosten. Die Bürger und auch die zuständigen Mitarbeiter in den Ämtern ärgert zum Beispiel, wenn plötzlich in der größten Wohnungsnot Wohnraum problemlos zur Verfügung steht, weil die öffentliche Hand für die Unterbringung Mieten zahlt, die normal arbeitende Privatleute nicht aufbringen können – sozusagen eine neue Variante des Airbnb-Problems. Arbeitende Menschen wissen, welch gefährlicher Cocktail gebraut wird, wenn Flüchtlinge jahrelang auf engem Raum in Gemeinschaftsunterkünften herumlungern. Die Menschen sind hilfsbereit gegenüber syrischen ebenso wie ukrainischen Flüchtlingen und sie suchen nach Lösungen, aber es ärgert sie, wenn jeder Hinweis auf Probleme in den Medien sofort als rassistisch gedeutet und mit rechten Gruppierungen in Verbindung gebracht wird, während gleichzeitig der Protest weniger Klimakleber zum unverzüglichen Handlungsauftrag hochstilisiert wird.

Eine andere letzte Generation?

Obwohl all dies die Menschen ärgert, falls es in der Nähe stattfindet und etwa das ordentliche Funktionieren von Schulen beeinträchtigt: Es ist in den Gesprächen gar nicht das beherrschende Thema. Größte Sorge vieler Ladeninhaber, Gastwirte, Handwerker und sonstiger kleiner Unternehmer ist der Personalmangel – und zwar nicht nur von Fachkräften, sondern von Arbeitskräften generell. Und nach den Geschäftsleuten spüren es bald die Kunden und jeder Einwohner. Als Durchreisender merkt man es vielleicht an geschlossenen Geschäften oder Gaststätten, aber Einheimische bestätigen, dass es für viele Felder gilt, für Ärzte, Schulen, Handwerker und den öffentlichen Personenverkehr. In einer zufällig entdeckten Mitteilung auf meiner Bahn-App heißt es: „Durch Engpässe an einsatzbereitem Personal kann das Stellwerk in Halle-Nietleben bis einschließlich 09. Dezember 2023 zeitweise nicht besetzt werden“ – mit gravierenden Auswirkungen auf den Bahnverkehr zwischen Halle und Leipzig. Irgendwann reißen die örtlichen Dienstleistungsnetzwerke, so wie im Großen die Lieferketten unterbrochen werden. Mobilfunkabdeckung fehlt nach wie vor an vielen Stellen. Nicht nur in abgelegenen Dörfern, sondern auch in Klein- und Mittelstädten stellt sich die Frage, ob man noch dort leben kann. Vor zwanzig Jahren habe ich in den neuen Bundesländern trostlose Dörfer durchwandert mit Armut, Verfall, Entvölkerung. Heute sind es scheinbar propere Orte in Ost wie in West, die zunehmend einen trostlosen Eindruck machen. Läden schließen wegen Personalmangel. Dinge werden nicht in Ordnung gebracht. Wie früher in der DDR gehört es heute zum Alltag, dass statt der Reparatur nur ein Schild „Defekt“ angeheftet wird. Ältere Gastwirte und andere kleine Unternehmer, die jahrzehntelang erfolgreich gearbeitet haben und denen es auch heute nicht an Kunden fehlt, fühlen sich tatsächlich wie eine Art „Letzte Generation“.

Ein Unternehmer ereiferte sich, dass man mit weniger als 4.000 € im Monat kaum eine Familie ernähren könne. Und er forderte, dass der Staat bis zu solchen Grenzen keine Steuern erheben sollte. Ich selbst habe als junger Mitarbeiter erlebt, dass auch mit einem guten Einkommen die Bäume nicht in den Himmel wachsen, wenn man als Alleinverdiener in einem Ballungsraum eine vierköpfige Familie ernähren muss. Wenn ich sehe, mit welchen Einkommen Halbtagskräfte in Hilfstätigkeiten trotzdem Allein- oder Hauptverdiener sind, dann frage ich mich oft, wie um Himmels willen sie damit in München oder Stuttgart überleben.

Etwas anderes ist aber noch seltsamer: Wenn man mit diesen Menschen spricht, dann jammern sie als erstes überhaupt nicht über die Bezahlung und selbst wenn man sie Wünsche äußern lässt, dann kommen recht moderate Forderungen. Arbeiter, Kellner, Unternehmer beklagen dagegen gleichermaßen die mangelnde Wertschätzung von Arbeit, nicht nur was die Bezahlung betrifft, sondern einfach den Respekt für Arbeit als Quelle jeder Wertschöpfung. Ein Trupp von Handwerkern oder Bauarbeitern kommt nach der Arbeit müde und in schmutziger Arbeitskleidung in die Kneipe. Sie wollen nicht bemitleidet werden, sondern wissen, dass sie heute etwas geleistet haben – ihre Arbeit enthält mehr „Purpose“, als sich diejenigen vorstellen können, die ständig von Purpose reden. Sie wollen einfach ein Bierchen trinken und über Fußball, Urlaubsziele, technische Probleme oder den Chef reden. Pflegekräfte lieben ihre Arbeit, aber mehr und mehr ärgert sie nicht nur die Bürokratisierung ihrer Tätigkeit, sondern auch das Mitleid in der öffentlichen Diskussion. Es erweckt den Eindruck, dass Pflegekräfte zwar besonders gute Menschen, aber auch ein bisschen blöd seien.

In Stellenanzeigen zu vielen höchst nützlichen Berufen ist viel von abstrakten Anforderungen wie Teamgeist oder Selbständigkeit und von Aufstiegsperspektiven und Diensthandy die Rede, aber wenig von dem, um das es doch geht: bei der Putzkraft um das Toilettenreinigen, beim Kfz-Mechaniker ums Autoreparieren, beim Friseur ums Haareschneiden, bei der Küchenhilfe ums Kartoffelschälen.12 Schämen wir uns solcher Tätigkeiten, auf die wir doch alle angewiesen sind? Neulich habe ich eine Studie ausgewertet, in der als Anfangshypothese vorausgesetzt wurde, dass Fabrikarbeit und körperliche Arbeit etwas so Schlimmes seien, dass Menschen allein schon deshalb zu rechtsradikalen Parteien neigten – die Befragten fanden aber ihre Arbeit gar nicht schlimm.13 Der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wirft seiner eigenen Partei, den Sozialdemokraten vor, sich von den Alltagssorgen in der Bevölkerung entkoppelt zu haben. „Wie die Sozialisten in Frankreich ist auch die SPD in Gefahr, sich mehr um Antidiskriminierungspolitik und Lifestyle-Themen zu kümmern und darüber die Befindlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft außer Acht zu lassen.“ Glauben wir, dass die Millionen arbeitenden Menschen eine solche Haltung als links und fortschrittlich empfinden? Und ist es ein Wunder, wenn der Müllmann Marcel Pütz in einem Zeitungsinterview lakonisch darauf hinwies, dass die Arbeiter sowieso längst AfD wählten?14

Oder vielleicht ein Volk ehrlicher Menschen?

Kein Mensch mit Lebenserfahrung ist naiv hinsichtlich dessen, was passiert und was passieren kann. „Caveat emptor“ (Der Käufer möge aufpassen) war schon ein Prinzip des Römischen Rechtes. Aber dennoch sieht die alltägliche Realität anders aus. Die Menschen sind ehrlich. Ein Beispiel: Kürzlich hatte ein Verwandter beim Losfahren die Papiere auf dem Autodach liegen lassen und trotz sofortigem Suchen hatten wir sie nicht mehr wiedergefunden. Die Geldbörse enthielt alle Ausweise, Kreditkarten, Autopapiere und eine ordentliche Menge Bargeld. Ich war guten Mutes, dass die Brieftasche wieder auftauchen würde. Und so war es auch. Am nächsten Tag rief die Polizei an, dass die Brieftasche von einem ehrlichen Finder abgegeben worden sei. Nichts fehlte. Meine Verwandten besuchten die Finder – eine Familie aus Ex-Jugoslawien, die auf engem Raum lebte und das Geld bestimmt hätte gebrauchen können. Niemand hätte es herausgefunden, wenn sie es für sich behalten hätten – haben sie aber nicht, sondern stattdessen den weiten Weg zur Polizeiwache zurückgelegt. Natürlich hat mein Verwandter sich revanchiert, aber das war gar nicht so wichtig. Die Finder fuhren Kaffee, Kuchen und Schnäpse auf und man erzählte sich Geschichten aus dem Leben.

Solche Verhaltensweisen habe ich immer wieder erlebt, zum Beispiel als ich in meiner Studienzeit als Briefträger mit viel Geld unterwegs war und mich natürlich hin und wieder verzählte. Bei vielen meiner mittelständischen Kunden gab es nicht ein Stück Papier Vertragsvereinbarung. Es war einfach klar, dass keiner den anderen übers Ohr hauen würde. Oft genug wurden die Rechnungen vor der Zahlungsfrist beglichen. Natürlich gibt es kriminelle Energie und natürlich wird Vertrauen bisweilen missbraucht. Aber das ist der Preis, den man für den viel größeren Nutzen des Vertrauens bezahlen muss. Einen großen Teil regeln die Menschen unter sich – man macht eben keine Geschäfte mit Leuten, denen man nicht vertraut. Oder es ist einfach ein Fall für Polizei und Gerichte. Es entspricht nicht den Tatsachen, dass man alle Unternehmer, alle Männer oder gleich die ganze Gesellschaft unter Generalverdacht stellen müsste und für alle diese Themen Meldestellen, Beauftragte, Awareness Teams oder gar Denunziationsportale einrichten sollte. Das ärgert die Menschen, vor allem dann, wenn die Moralapostel mit ihren eigenen Verfehlungen äußerst großzügig umgehen – von Fälschung des Lebenslaufs über Missmanagement einer Flutkatastrophe oder der Schulen in der Coronazeit bis zur Unfähigkeit, eine Wahl zu organisieren.

Fortsetzung: Teil 2 des Artikels -> HIER

 

Der Autor

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Er ist Mitbegründer des renommierten Goinger Kreises. Gerade erschien sein Buch „Methode Mensch oder die Rückkehr des Handelns“.

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Quellen und Anmerkungen

2 F.A.Z. 29.09.2020

3 Bulla, Wilhelm / Klopprogge, Axel / Lanz, Dieter / Klopprogge, Moritz, Grenzgänger. 21 Jahre Deutschland, Ostfildern 2016

4 Klopprogge, Axel, Wandern in Zeiten der Cholera. Zu Fuß über die Alpen im Sommer 2020, Unterhaching 2021

5 Gaspard Koenig spricht in diesem Zusammenhang von „les sages“.

6 https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Jahresberichte/2022.html

7 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Hamburg 1951 S.150 „Es muß unbedingt betont werden, daß während des gesamten Ancien Régime die Frauen der arbeitenden Klassen unter ihren Geschlechtsgenossinnen die meiste Selbständigkeit hatten. Die Frau war berechtigt, ein Geschäft zu betreiben und hatte alle Befugnisse, die zur autonomen Ausübung ihres Gewerbes nötig waren. Sie war als Weißnäherin, Wäscherin, Poliererin, Zwischenhändlerin etc. an der Produktion beteiligt. Sie arbeitete entweder zu Hause oder in kleinen Betrieben. Durch ihre materielle Unabhängigkeit konnte sie sich sehr freie Sitten erlauben: die Frau aus dem Volk konnte ausgehen, in Schenken verkehren, fast so über ihren Körper verfügen wie ein Mann. Sie war Partnerin ihres Ehemanns und ihm gleichgestellt.“

8 Unser polnischer Anstreicher antwortete lapidar auf meine kritischen Bemerkungen zur PIS-Regierung: „Tusk hat was für die Banken getan. Die Kaczyńskis haben was für die Menschen getan.“

9 Goinger Kreis e.V. (Hrsg.), Grenzüberschreitungen zwischen Unternehmen und Gesellschaft. Herausforderungen im System Arbeit gemeinsam bewältigen, Hohenwarsleben 2019 S.123

10 Wer in islamischen Ländern zu tun hatte, weiß, wie respektvoll Muslime mit den Traditionen der dort lebenden Christen umgehen.

11https://taz.de/Rechte-Ausschreitungen-in-Ostdeutschland/!5910591/

12Zum Thema „Wie reden wir über Arbeit?“ vgl. Klopprogge, Axel / Deller, Jürgen / Eberhardt, Carola / Heuer, Katharina / Hoyndorf, Karen, Überbrückungshilfe. Zusammenhalt der Gesellschaft – wodurch er gefährdet wird und was wir in Unternehmen für ihn tun können. Eine Studie des Goinger Kreises 2022 https://www.goinger-kreis.de/files/theme-goinger-kreis/downloads/themen/gesellschaftlicher-zusammenhalt/goinger-kreis-studie-ueberbrueckungshilfe.pdf S.32ff.

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13Beck, Linda / Westheuser, Linus, Verletzte Ansprüche. Zur Grammatik des politischen Bewusstseins von ArbeiterInnen, Berliner Journal für Soziologie 32 (2022) S.279-316; siehe demgegenüber Klopprogge, Axel / Burmeister, Anne / Erdmann, Christina / Jakobi, Eberhardt / Mauterer, Heiko / Sauerwein, Nadja, Ortsbesichtigung. Warum manche Arbeiten an Orte gebunden sind und wie sich das durch die Virtualisierung verändern könnte. Eine Studie des Goinger Kreises 2022 https://www.goinger-kreis.de/files/theme-goinger-kreis/downloads/themen/new-work/Goinger-Kreis_Studie_Ortsbesichtigung-zu-New-Work.pdf

14Schäfer, Christoph, „Die Leute sind nicht umweltbewusster“, FAZ 23.12.2019

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