Zeitfragen

Sarrazin und die Verantwortung der SPD

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Von THOMAS WAGNER, 3. November 2010 –

Die SPD hat das Ausschlussverfahren gegen den früheren Berliner Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin am Mittwoch offiziell eröffnet. Die Anträge des Bundesvorstands und des Berliner Landesverbands gegen den 65-Jährigen seien bei dessen Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf eingegangen, bestätigte der Kreisvorsitzende Christian Gaebler. „Wir leiten das Paket nun an die Schiedskommission weiter, die es eingehend prüfen wird.“

Die Frage, ob Thilo Sarrazin sein SPD-Pateibuch auch nach Abschuss des Verfahrens noch behalten darf, hat durchaus symbolischen Wert. Denn seine Angriffe und Beleidigungen richten sich nicht nur, was schlimm genug wäre, gegen muslimische Bürger, sondern auch gegen Erwerbslose, die sogenannte Unterschicht und viele andere. „In seinem Pamphlet wechselt der Autor zwischen Biologismus bzw. Rassismus und einer Ideologie, wonach statt Armut und Ausgrenzung der mangelnde Wille der Betroffenen zu problematisieren sei.“ (1)

Indem er versucht, Menschen mit geringem Einkommen und Erwerbslosen die Schuld für ihre Situation in die Schuhe zu schieben, verstößt Sarrazin gegen sozialdemokratische Grundüberzeugungen. Zumindest nominell versteht sich die SPD immer noch als eine Partei, die sich für die Interessen jener Gruppen einsetzt, gegen die Sarrazin polemisiert.

Deshalb schrieb der Partvorsitzende Sigmar Gabriel zutreffend zu Sarrazin Buch: „Es ist ein Buch über ‚oben’ und ‚unten’ in unserer Gesellschaft und darüber, warum es nicht nur gerecht, sondern auch aus biologischen Gründen völlig normal ist, dass es dieses ‚Oben’ und ‚Unten’ gibt. Dass in Sarrazins Buch Muslime vorkommen, liegt vor allem daran, dass sie in unserer Gesellschaft meist ‚unten’ anzutreffen sind. Für Thilo Sarrazin sind sie fast zufällige Beispiele in einer wesentlich grundsätzlicheren Debatte.“ (2)  

Tatsächlich geht es im Kern von Sarrazins Argumentation nicht primär um die ethnische Zugehörigkeit, sondern primär darum, dass er „die Zugehörigkeit zu einer Unterschicht oder das gesellschaftliche Urteil, in diese Gruppe sozusagen hineingeboren zu sein oder sich dort nicht herausentwickeln zu können, in Verbindung bringt mit dem Erbfaktor.“ (3)  

Keine Universalität von Herrschaft

Für Sarrazin waren und sind Gesellschaften gleichsam naturnotwendig in obere und untere Klassen eingeteilt. Diese weit verbreitete Auffassung von der Univeralität von Herrschaft und der Unauflöslichkeit der Klassen ist empirisch nicht haltbar und politisch fatal für eine Partei, die einst angetreten war, die Klassenherrschaft zu überwinden. Der Soziologe Christian Sigrist hat daher bereits in den sechziger Jahren die von Ralf Dahrendorf wieder aufgewärmte These von der Universalität von Herrschaft in seiner bereits klassischen Studie Regulierte Anarchie aus dem Jahr 1967 widerlegt.  

Die aus den Erkenntnissen der Social anthropology gewonnen Erkenntnisse über Gleichheit und Selbstorganisation bei sogenannten primitven Gesellschaften wurden seitdem durch zahlreiche Studien bestätigt. (4)

Grund und Boden ist Kollektivbesitz. Ökonomische Überschüsse werden umverteilt, um dauerhafte Besitzasymmetrien zu verhindern. Dabei helfen verschwenderische Feste. Sigrist spricht von einem ausgeprägten „Teilzwang“. Wer durch eigene Tüchtigkeit oder Glück Besitz anhäuft, nicht teilen will und sich über seine Mitmenschen erhebt, wird gemieden, geächtet oder auf andere Weise kollektiv bestraft. Sozial geschätzt werden die ökonomisch Erfolgreichen nur dann, wenn sie ihren Überschuss freigiebig wegschenken und beweisen, dass sie den weniger Erfolgreichen nicht ihren Willen aufzwingen wollen. Das soziale Leben richtet sich nach Gleichheitsnormen, die in Erzählungen, Musik, Spielen, Körperschmuck und Architektur auch symbolisch dargestellt werden. Gleichheitsnormen bilden die Grundlage für die Ausrichtung der Erziehung und die Organisation von Gruppen.

Mitverantwortung der SPD

Worüber Gabriel schweigt, ist die Mitverantwortung seiner Partei für die Popularität von Sarrazins Thesen. Denn ihre Vordenker, Spitzenpolitiker und Funktionäre waren es, die das Konzept des Klassenkampfs verabschiedet und durch die illusionäre Vorstellung ersetzt haben, dass eine gerechte Gesellschaft primär über Bildung zu erreichen wäre. Ihr Angebot lautet Bildung im Sinne einer Chancengerechtigkeit. Für einzelne Individuen soll es möglich sein, den sozialen Aufstieg zu schaffen. „Damit hat sie eine Plattform errichtet, auf der eine Radikalisierung der Vorstellung, dass gesellschaftliche Veränderung nicht möglich ist, in Gestalt solcher naturalistischen Festschreibungen, wie sie Sarrazin vornimmt, überhaupt möglich wird.“ (5) Dadurch trägt die SPD einen großen Teil der Verantwortung daran, dass ein Phänomen wie Sarrazin überhaupt möglich ist.

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Wann die Schiedskommission, die über Sarrazins Parteiverbleib entscheidet, zusammentritt, steht noch nicht fest. Das Gremium hat sechs Monate Zeit, Sarrazin eine Einladung zur Anhörung zukommen zu lassen. Unterdessen wurde bekannt, dass die prominente Sarrazin-Unterstützerin Necla Kelek an diesem Samstag in Frankfurt/Main den Freiheitspreis 2010 der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung erhält.  Die Laudatio bei der Verleihung des undotierten Preises in der Frankfurter Paulskirche soll die Publizistin Alice Schwarzer halten.


(1)  http://www.jungewelt.de/2010/09-23/041.php
(2)  http://www.zeit.de/2010/38/SPD-Sigmar-Gabriel
(3)  http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0053.html
(4) Vgl. http://www.br-online.de/wissen-bildung/collegeradio/medien/sozialkunde/anarchie/hintergrund/, Christian Sigrist: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, Münster 2005, Rüdiger Haude/Thomas Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen. Studien zur Logik ihrer Symbolisierungen und zur Logik ihrer theoretischen Leugnung, Baden-Baden 1999, Thomas Wagner: Irokesen und Demokratie. Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation. Münster 2004
(5)  http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0053.html

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