Zeitfragen

Tyrannei der „absoluten Mehrheit“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Ein Kommentar von SUSANN WITT-STAHL, 14. November 2012 –

Stefan Raab ist Besitzer einer Unterhaltungsfabrik, die seit den 1990er Jahren ganz unverhohlen nur eine einzige Ware produziert: Schwachsinn. Das ist seine Sache, die seiner Sender-Residenz ProSieben sowie all derer, die sich Wok-WMs, „Wadde, hadde dudde da“ und sonstigem Balla-Balla aussetzen wollen. Wenn er sich aber anschickt, mit seinem Schwachsinn die Sphäre der Politik zu kolonisieren, der durch Jauch und andere Hausierer des Neoliberalismus ohnehin lädierten Debattenkultur in den deutschen Medien noch den Rest zu geben, dann ist es höchste Zeit zu rebellieren.

Am Sonntag um 22.45 Uhr war es so weit: Vier männliche Politiker – Wolfgang Kubicki (FDP), Thomas Oppermann (SPD), Jan van Aken (DIE LINKE), Peter Fuchs (CDU) – und die Unternehmerin Verena Delius nahmen unter einem Bundesadler auf Raabs Sofa Platz. Und schon kannte die Witzigkeit des Entertainers, wie gewohnt, kein Pardon: Seine erste Frage an den SPD-Politiker Thomas Oppermann: „Wie lang ist Peer Steinbrück noch Kanzlerkandidat?“ Und dann jagte ein blöder Spruch und ein Kalauer den nächsten – bis zur blanken Idiotie: „Herr Fuchs, nächste Frage: Wer hat die Gans gestohlen?“

Offenbar soll dem Fernsehzuschauer das hundertste ungenießbare Produkt aus dem Hause Raab schmackhaft gemacht werden. Aber mit diesem neuen TV-Format –sollte es Schule machen – wird auch der schleichende Eindimensionalisierungsprozess in der Medienwelt kräftig angeschoben.

Der sieht bislang so aus:  Auf den Sitzgelegenheiten der Talkshow-Studios von Anne Will, Maybrit Illner, Jauch und Beckmann finden sich im Großen und Ganzen immer dieselben Diskutanten ein. Beispielsweise ist Jürgen Todenhöfer für alle Kanäle der in ständiger Rufbereitschaft verharrende Kriegsgegner und das schlechte Gewissen vom Dienst. Was die Meinungsmacher in den Sendeanstalten so sehr an ihm schätzen: Er geht niemals ans Eingemachte, spricht nicht über die neoimperialen Interessen Deutschlands – er ist einfach nur moralisch betroffen und derart larmoyant, dass es ihm sogar gelingt, das Mitleid, das den hunderttausenden von der NATO zusammengebombten Zivilisten in Afghanistan gebührt, auf sich zu lenken. Damit die Monokultur des Politik-Talks, die konsequente Ausgrenzung wahrer Opposition und die Harmlosigkeit der geäußerten Kritik nicht allzu sehr langweilt, der Konsument nicht womöglich eines Tages ernst macht und abschaltet, wird der Talkgäste-Pool ständig neu durch-, ab und zu ein Buhmann untergemischt und die Konstellation von Sendung zu Sendung gewechselt.

Als wäre das nicht schlimm und nicht schon gefährlich genug – nun setzt Stefan Raab noch einen drauf. Seine Botschaft: Erlaubt ist alles, was gefällt, Hauptsache es rappelt im Karton. Fünf prominente Talk-Gäste diskutieren drei unterschiedliche politische Themen. Ihr Ziel ist nicht Aufklärung, Kritik, Konzepte vorzustellen, sondern einzig und allein, gut anzukommen und die „absolute Mehrheit“ der Zuschauer auf ihre Seite zu bringen. Es findet ein Voting statt. Der Talker, der jeweils in einer Runde das schlechteste Ergebnis hat, scheidet aus. Er darf sich aber weiterhin an der Diskussion beteiligen, wenn er in der Publikumsgunst die „Fünf-Prozent-Hürde“ genommen hat. In der letzten Runde kämpfen die drei verbliebenen Kandidaten um die absolute Mehrheit. Wer sie erreicht, erhält 100.000 Euro. Kann keiner sie für sich erringen, landet die Summe in einem Jackpot.

In der ersten Sendung wurden die Themen Steuergerechtigkeit, Energiewende und soziale Netzwerke abgehandelt. Während sich die Gäste stritten, konnten die Zuschauer per SMS oder Telefon demjenigen ihre Stimme geben, mit dem sie am meisten übereinstimmten. „Speedmeinungsbildung“ nennt Raab das und verkauft seinen Aufruf zur Tyrannei der Mehrheit als Demokratie. Mit so einer Vorstellung von Politik arbeiten Rechtspopulisten, Stimmungsmacher, Hetzer und Propagandisten.

Für Grübler, Zögerer, Mahner und Warner, Differenzierungen, leise Töne oder gar Kritik am herrschenden Zeitgeist ist kein Platz mehr – nur noch für Platzhirsche. Und hier zählt nur das Prinzip Schwarz oder Weiß; es muss strahlende Sieger geben – und Verlierer, die so richtig schön am Boden sind. Höhepunkte der Sendung sind die Einblendungen der aus Wählerumfragen und anderen Erhebungen bekannten Balken, die vor den Augen der Konsumenten länger und länger werden oder auch nicht: „Für die einen heißt es juchee, für die anderen ohweh. Emotionen“, kommentiert der ZEIT-Rezensent Maximilian Probst und bringt ein wesentliches Problem des Raab-Politspektakels auf den Begriff: „Emokratie“.

Perfekt gelungen wäre Raabs Debüt, wenn es Tränen gegeben hätte, meint Probst. „Die hat uns der CDU-Mann Peter Fuchs leider nicht gegönnt, als er gleich nach der ersten Runde rausflog. Warum er kaum Stimmen bekommen hat? Weil er fast nie gelächelt hat, im Unterschied zu allen anderen sehr zugeknöpft mit einem Schlips da saß, und nicht verstanden hat, wie man überspitzt, pointiert, polemisiert. Er saß einfach nur da und wollte ganz normal reden. Das geht natürlich überhaupt nicht.“

Warum nicht? Ganz „normal reden“, das wäre einfach zu diskursiv; es könnte gesellschaftliche Widersprüche freilegen und offenbaren, dass es keine Steuergerechtigkeit gibt, die Energiewende von den Einkommensschwachen gestemmt und soziale Netzwerke nicht zuletzt Gängelungs- und Überwachungsinstrumente sind. Da Raabs Sendung wie alle andere standardisierten Produkte der Kulturindustrie auch vor allem Reklame für sich selbst sind, für die Ware als Ware, und es gar nicht um Inhalte geht, wurden diese „von Raab so rasant durchgepeitscht, dass die Diskutanten gar nicht anders konnten, als sich auf maximale Flachheit zu konzentrieren“, so Probst treffende Beobachtung.

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Wie erwartet – die Quote stimmte: Mit 1,79 Millionen Zuschauern erreicht Raab einen Marktanteil von 11,6 Prozent, bei den 14- bis 49-Jährigen sogar von 18,3 Prozent. Kulturindustrie hat die Funktion, falsches Bewusstsein auf den Markt zu werfen. Sie dient dem Zwang der lohnarbeitenden Bevölkerung, sich zu zerstreuen und zu erholen, um die Arbeitskraft permanent zu reproduzieren. Je stärker ihre Produkte den Menschen durch penetrantes Plugging oktroyiert werden, desto mehr werden sie zum genuinen Bedürfnis der Masse zurechtgelogen.

Das neoliberale System totalisiert sich: Offenbar reicht es nicht mehr, vor allem junge Menschen in den Trainingslagern der Singer- und Model-Contests für das sozialdarwinistische „survival of the fittest“ auf dem deregulierten Arbeitsmarkt fit und gefügig zu machen. Auch die Politik wird umfangreicher dem Diktat der Kulturindustrie unterworfen, ihre Träger werden im Boot-Camp der Ranking-Shows in Dauerwahlkampf-Stress versetzt und noch mehr zu gewissenlosen Opportunisten konditioniert. Gefragt sind Politiker, die für die „absolute Mehrheit“ nicht nur die Grenze zur Selbsterniedrigung hinter sich lassen. Deshalb ist Raabs Sendung längst nicht nur „absoluter Unfug“ (Norbert Lammert). Sie ist ein Katalysator für Manipulation und Massenbetrug.

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