Zeitenwende

Über das Gewaltpotential in der Gesellschaft

Kennzeichnet Aggressivität zunehmend das soziale Verhalten? Eine plausible Erklärung für Rücksichtslosigkeit im Alltag bietet nach Ansicht des Autors die Form der Vergesellschaftung im Kapitalismus: Jeder sei gezwungen, sich durchzuboxen.

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Angst und Aggressivität im Alltag nehmen mehr und mehr zu.
Foto: Iván Tamás Lizenz: Pixabay, Mehr Infos

In einem Tunnel bei Garmisch-Partenkirchen, dem Oberauer Tunnel der Bundesstraße 2, kam es zum Ferienende am 7. Januar bei starkem Rückreiseverkehr zu einem Verkehrschaos, weil clevere Autofahrer die angezeigte Sperrung der linken Spur missachteten und an den anderen vorbei nach vorne zum nördlichen Tunnelende drängten, wo sie gezwungen waren, sich wieder rechts einzufädeln. Dort stießen sie aber auf den Protest und Widerstand derer, die sich brav rechts gehalten hatten, und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Ein Sprecher der Polizei sprach von nicht mehr zu überbietender Aggressivität und Rücksichtslosigkeit.1 Das rücksichtslose nach vorne Drängen unter Missachtung von Regeln und das aggressive Verhalten hat paradigmatische Bedeutung für den Zustand unserer Gesellschaft.

Aggressivität kennzeichnet zunehmend das soziale Verhalten. Allerdings hat das, was in dem Oberauer Tunnel die Gemüter erregte, zuerst einmal viel mit der Verkehrskultur in Deutschland zu tun, die weltweit, zumindest europaweit einzigartig ist. Da sich deutsche Regierungen nach wie vor scheuen, ein Tempolimit vorzuschreiben, ist das Verhalten auf den Straßen anarchisch.

Nur eine Woche vorher weckte die Nachricht von den Sylvester-Krawallen allgemeine Empörung. Die größte mediale Aufmerksamkeit fand die Randale in Berlin-Neukölln, wo Jugendliche Feuerwehrleute und Polizisten mit Wurfgeschossen und Feuerwerkskörpern angriffen. Auch an anderen Orten, selbst in einem kleinen fränkischen Ort, gab es solche Szenen. Dass Feuerwehrleute und selbst Einsatzkräfte von Nofalldiensten angegriffen werden, ist keine Seltenheit mehr.

Die Form der Vergesellschaftung im Kapitalismus bietet eine plausible Erklärung für Rücksichtslosigkeit, die wiederum Aggressivität verständlich macht. Jedes Mitglied der Gesellschaft ist gezwungen, sein Privatinteresse, oft in Konkurrenz mit anderen oder in Gegnerschaft zu anderen, zu verfolgen, sich durchzuboxen, die Ellbogen zu gebrauchen. Jeder soll Unternehmer seiner selbst sein. Nur Markt und Vertrag verlangen gewisse Rücksichtnahmen, um die Wahrnehmung der eigenen Interessen nicht zu beeinträchtigen. Wer einwendet, die Erklärung mit dem Kapitalismus sei zu pauschal, früher habe es solche Aggressivität doch auch nicht gegeben, den muss man an den Faschismus erinnern, der das Gewaltpotential in der Gesellschaft nutzte und vielen einen Raum bot, ihre Aggressivität auszuleben. Aber im Übrigen waren früher anscheinend Konkurrenzdenken und Ellbogengebrauch noch zivilisatorisch gezähmt. Heute kann man fast jeden Tag in der Zeitung von Messerangriffen und anderen Attacken lesen, oft auf Unbekannte und oft ohne klares Motiv.

Seit die Politik gemäß der neoliberalen Agenda die Wirtschaft fast ganz außer Kontrolle lässt, seit die Marktkräfte entfesselt und soziale Sicherheiten abgebaut sind, sind Angst und Aggressivität im Alltag gewachsen. Der Arbeitsmarkt ist liberalisiert. Prekäre Beschäftigung hat enorm zugenommen. Die Lebensverhältnisse sind entsichert. Die Wut darüber ist blind, hat keine klaren Adressaten. Politischer Protest wäre die Alternative. Aber der bräuchte Programmatiker und Organisatoren.

Auch die Familie stellt nicht mehr in dem Maße wie früher einen Stabilitätsanker im System dar. Fälle von entfesselter Gewalt sind ein Indiz dafür. Die Geborgenheit der Familie mag eine bürgerliche Wunschfantasie sein, ein Ideologem. Der Familienverband war nie konfliktfrei, aber sakrosankt, und das nicht nur in bürgerlichen Kreisen. Bauern- und Arbeiterfamilien waren auf den Zusammenhalt angewiesen. Deshalb wurden Konflikte eingedämmt, nicht nur unter der Decke gehalten. Das wurde in der Kulturrevolution der 1960er Jahre verkannt, als man nur die Heuchelei anprangerte. Familiäre Konflikte eskalierten nicht so leicht wie heute. Allein an einem Tag, dem 9. Januar, konnte man drei dpa-Meldungen von „Familientragödien“ lesen. Ein junger Mann tötete seine Schwester und verletzte seine Mutter, ein anderer stand im Verdacht, seine Mutter umgebracht zu haben, ein dritter erschoss den Lebensgefährten seiner Ex-Partnerin. Diese drei Nachrichten kamen allein aus Deutschland, genauer Süddeutschland.

Konservativen fällt es schwer anzuerkennen, dass die verstärkte Gewaltbereitschaft gesellschaftlich strukturell bedingt und endemisch ist. Daher ihre Neigung, Gewaltexzesse wie die Sylvester-Krawalle zu ethnisieren, und die Einwanderung dafür verantwortlich zu machen. Daher die Frage der Berliner CDU nach den Vornamen der verdächtigten Jugendlichen. Ihre rassistische Unterstellung wurde jedoch dann durch die korrigierte Statistik blamiert, wonach entgegen den ersten Berichten nur ein Drittel der Beschuldigten eine Migrationsgeschichte hat.

Dass Migration im Kapitalismus kein Anlass zur Euphorie ist, sollten aber auch Linke eingestehen. Die Feier der bunten Vielfalt ist mehr die Sache von Sonntagsreden. Denn unter den gegebenen Verhältnissen birgt auch Migration ein Gewaltpotential, weil das System nicht in der Lage ist, alle zu integrieren, die einwandern. Die Ursachen der Migration sind ebenso im System zu suchen wie das Versagen bei der gesellschaftlichen Integration. Die einen sind hergekommen, weil ihnen aufgrund eines planlosen, von Renditeerwartungen gesteuerten Strukturwandels die Erwerbsmöglichkeiten genommen wurden. Andere hatten unter einem neokolonialen Regime zu leiden. Erwerbslosigkeit in den Ländern der Peripherie aufgrund einer von außen, zum Beispiel vom Internationalen Währungsfonds, diktierten Entwicklung ist systemspezifisch. Unterdrückung durch europahörige Despoten ist systemspezifisch. Die Klimakrise als Folge anarchischen wirtschaftlichen Wachstums ist systemspezifisch. Sehr viele Geflüchtete sind Opfer der militärischen Interventionen der westlichen Allianz unter Führung der USA.

Viele Geflüchtete haben von klein auf in ihrem Umfeld Gewalt erlebt und sind traumatisiert. Und nun haben die meisten hier so wenig eine Perspektive wie in ihrem Herkunftsland. Denn nur einige können sich eine neue Existenz aufbauen, weil strukturelle Benachteiligung systemimmanent ist. Auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt hat nicht jeder eine Chance, und wer gemäß der herrschenden „Zugehörigkeitsordnung“2 als fremd gilt, hat schon allein deshalb geringere Chancen. Die „institutionelle Diskriminierung“, wie das die Sozialwissenschaftler nennen, ist schlimmer als die Erfahrung von Vorurteilen, kleinen Schikanen und Ausgrenzung im Alltag. Denn sie behindert die persönliche Entwicklung.

Der „strukturelle Rassismus“, ein anderer sozialwissenschaftlicher Begriff dafür, wird in Deutschland noch durch die extreme Selektivität des mehrgliedrigen Schulsystems verschärft. Kinder mit Migrationsgeschichte landen überdurchschnittlich häufig auf der Hauptschule, oder wie immer dieser Schulzweig heute genannt wird, wenn sie nicht gar auf eine „Förderschule“ überwiesen werden. Und mancherorts sind die Jugendlichen aus Migrantenfamilien auf der Hauptschule fast unter sich. Mit so einem Abschluss sind die beruflichen Perspektiven eher bescheiden. Nach der Berufsausbildung zum Bäcker oder zur Einzelhandelskauffrau findet man oft keinen Job oder wird schnell wieder erwerbslos. Wenn Jugendliche mit solchen Erfahrungen auch noch häufig erleben, dass sie von der Polizei als erste verdächtigt werden und schnell auf der Wache landen – Stichwort Racial Profiling – dann staut sich da eine Wut auf, die sich bei einer rauschhaften Fete wie an Sylvester entladen könnte. Racial Profiling mag übrigens bei der Festnahme der Berliner Jugendlichen mitgespielt haben, die als gewalttätig verdächtigt wurden. Wenn man sich die Erfahrungen von Menschen mit Migrationsgeschichte, nicht nur der Jugendlichen, vor Augen führt, kann man sich nur wundern, dass bisher, anders als in Frankreich, Großbritannien und Schweden, in Deutschland gewaltsame Riots ausgeblieben sind.

Von Eingewanderten oder Geflüchteten ist kaum Gewalt zu befürchten. Sie selbst sind schon unzählige Mal Opfer von rassistischer Gewalt geworden und haben immer wieder Gewalt zu befürchten, weil manche Ansässige glauben, dass ihre Arbeitsplätze durch Einwanderung gefährdet sind, anstatt zu merken, dass Konzentrationsprozesse und Unternehmensstrategien wie Off-Shoring, Befristung von Arbeitsverträgen und Arbeitsverdichtung die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verschärfen.

Ideologische Angebote sind in diesem System für alle verführerisch, die großer Unsicherheit ausgeliefert sind oder demütigende Erfahrungen machen. Unsicherheit, ob man den Job behält, ob man sich die Wohnung noch leisten kann etc., ist typisch in diesem System. Was für die einen Rassismus, ist für die anderen Islamismus. Für einige Migranten mit ihren Diskriminierungserfahrungen sind islamistische Bewegungen attraktiv, die sich in den vom Islam geprägten Ländern in Konfrontation mit dem westlichen Imperialismus formiert haben. Die diesem Herrschaftssystem immanente Gewalt hat Gegengewalt erzeugt. Paradoxerweise haben die USA zur Sicherung ihrer Vormachtstellung den Dschihadismus gefördert, indem sie Dschihadisten vorübergehend zu ihren Verbündeten machten. Inzwischen hat sich die dschihadistische Gewalt gegen uns gewendet. Tödliche Anschläge in den Metropolen sind ein weiteres Indiz dafür, wie gewaltträchtig dieses kapitalistische Weltsystem ist.

 

Quellen

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2 Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim u. Basel: Beltz.

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