Kriege

Ukraine: Friedensabkommen droht endgültig zu scheitern

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

1427175313

Von SEBASTIAN RANGE, 24. März 2015 –

Von einer Waffenruhe im ostukrainischen Kriegsgebiet kann seit dem vergangenen Wochenende nicht mehr die Rede sein. Die mit der Überwachung der Umsetzung des Minsker Friedensabkommens beauftragte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) berichtete über Dutzende Fälle von schwerem Beschuss in der Konfliktregion, ohne die Verantwortlichkeit festzustellen. Trotz eines vereinbarten Abzugs großkalibriger Waffen werde in den Regionen Donezk und Lugansk noch immer schwere Militärtechnik gesichtet, teilte die OSZE mit.

„Die Sicherheitslage im Donbass ist fließend und unberechenbar, und die Waffenruhe hält nicht überall“, heißt es in einem OSZE-Bericht, der mehrere Beispiele aufführt, wie sowohl Aufständische als auch das ukrainische Militär die OSZE-Beobachter bei ihren Kontrollen behindert hätten. (1)

Kiew warf den Aufständischen am Sonntag wiederholte Verstöße gegen die Feuerpause vor. Drei Soldaten seien innerhalb von 24 Stunden verletzt worden, sagte Militärsprecher Andrej Lyssenko in Kiew.

Die Separatisten warfen ihrerseits Kiew vor, die Waffenruhe in den letzten beiden Tagen mehr als fünfzig Mal gebrochen zu haben. Erstmals seit der vereinbarten Waffenruhe hätten die ukrainischen Truppen entlang der gesamten Frontlinie den Beschuss wieder aufgenommen und dabei auch schwere Waffen eingesetzt. Unter anderem wurde der Bahnhof von Donezk getroffen. Die ukrainische Armee bestreitet jegliche Beteiligung. „Wenn Kiew tatsächlich schwere Waffen abgezogen hat, dann hat sich der Bahnhof von Donezk wohl selbst beschossen“, so der sarkastische Kommentar der russischen Zeitung Moskowski Komsomolez.

Das russische Außenministerium bezichtigt Kiew, die OSZE in der Frage des Abzugs schwerer Waffen zu täuschen. Filmaufnahmen der Nachrichtenagentur Reuters würden belegen, dass sich noch immer schwere Artillerie an der Front befindet. (2) Reuters hatte am 20. März ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie das Nazi-Bataillon Asow Schussübungen mit D-30 Haubitzen durchführt, die über eine Reichweite von 22 Kilometern verfügen. Als Ort wurde in dem Bericht das Dorf Schirokin angegeben, das sich östlich von Mariupol und direkt an der Front befindet. (3) Unmittelbar nach der Erklärung des russischen Außenministeriums veröffentlichte Reuters das Filmmaterial erneut, behauptet nun jedoch, die Aufnahmen seien im 45 Kilometer westlich von Mariupol gelegenen Urzuf entstanden – dort verstößt die Anwesenheit schwerer Waffen nicht gegen das Minsker Abkommen. (4)

Der Bericht der Agentur „zeigt deutlich, dass die Aufnahmen in der Nähe des Dorfes Urzuf“ entstanden seien, wies daraufhin das ukrainische Außenministerium mit Genugtuung „die falschen Anschuldigungen“ Russlands zurück, unterschlug dabei jedoch, dass der ursprüngliche Reuters-Bericht von Schirokin sprach. (5)

Ungeachtet dieser Randnotiz im Propagandakrieg gehen die Vertreter der abtrünnigen „Volksrepubliken“ davon aus, dass die Ukraine einen neuen Angriff auf den Donbass vorbereitet. Die Konzentration von ukrainischen Truppen im Südwesten Donezks dient ihrer Ansicht nach als möglicher Ausgangspunkt einer künftigen Offensive. Die an der Frontlinie nördlich von Lugansk eingeleiteten Maßnahmen des ukrainischen Militärs hätten hingegen defensiven Charakter. Um einen Vormarsch der Separatisten im Fall des endgültigen Scheiterns des Minsker Abkommens zu verhindern, sprengten Kiews Truppen bereits am Donnerstag eine Brücke in der Ortschaft Stanytsia Luganska, die die von Kiew und den Separatisten kontrollierten Gebiete miteinander verbindet. Gegenüber den OSZE-Vertretern äußerten Einwohner ihre Sorge über die damit verbunden wirtschaftlichen Konsequenzen, da sie nun von den Märkten in Lugansk abgeschnitten seien. (6)

Öl ins Feuer: Rada beschließt Gesetz zum Sonderstatus

Das Minsker Abkommen droht nicht nur aufgrund der jüngsten Kampfhandlungen zur Makulatur zu werden. Für weiteren Zündstoff sorgt der Streit um den darin vereinbarten Sonderstatus, der den von den Separatisten kontrollierten Gebieten größere Autonomie einräumen soll. So wurde festgelegt, dass bereits „am ersten Tag“ nach Abzug der schweren Waffen „ein Dialog über die Modalitäten lokaler Wahlen“ in dem Konfliktgebiet beginnen soll, und dass das ukrainische Parlament zu diesem Zweck innerhalb von dreißig Tagen die Gebiete festlegen soll, für die der Sonderstatus gemäß des Gesetzes über die „temporäre lokale Selbstregierung in bestimmten Bezirken der Oblasten Donezk und Lugansk“ gelten soll. Die Wahlen sollen dann im Rahmen der sogenannten Kontaktgruppe, – bestehend aus Vertretern der Ukraine, Russlands, der „Volksrepubliken“ sowie der OSZE – vorbereitet und international überwacht werden.

Fristgemäß verabschiedete das ukrainische Parlament vergangene Woche ein Gesetz über den Sonderstatus, das jedoch dem Minsker Abkommen zuwider läuft. Von dem dort vereinbarten Dialog zur Umsetzung des Sonderstatus’ will Kiew nichts wissen. Zu Gesprächen mit den Vertretern der „Volksrepubliken“ ist die Regierung von Präsident Petro Poroschenko nach wie vor nicht bereit. Stattdessen unterzeichnete Parlamentspräsident Wladimir Groisman eine Verordnung, die die abtrünnigen Regionen Donezk und Lugansk zu „okkupierten“ Gebieten erklärt. Laut dem Beschluss der Rada sollen diese zuerst „befreit“ werden, um dann anschließend „freie Wahlen“ zu organisieren.

„Wir hatten dem Sonderstatus für den Donbass innerhalb einer erneuerten Ukraine zugestimmt, obwohl unsere Bevölkerung die völlige Unabhängigkeit will,” erklärte der Präsident der „Volksrepublik Donezk“, Alexander Sachartschenko, nach dem Beschluss der Rada gegenüber Associated Press. Man habe der Minsker Vereinbarung dennoch zugestimmt, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Mit dem nun verabschiedeten Gesetz habe die ukrainische Regierung unter Beweis gestellt, dass sie nicht zu Verhandlungen bereit sei. (7)

Auch Moskau sieht in dem Vorgehen einen Verstoß gegen die Minsker Friedensvereinbarungen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow forderte Kiew mit Nachdruck zur sofortigen Umsetzung des Sonderstatus’ für das Konfliktgebiet auf. Er warnte Kiew davor, die abtrünnigen Gebiete mit militärischer Gewalt zurückzuerobern. „Die öffentlichen Mitteilungen der ukrainischen Führung säen keinen Optimismus“, sagte Lawrow einem am Samstag veröffentlichten Manuskript zufolge. Das von Kiew angenommene Gesetz verstoße „gegen Geist und Buchstaben der Minsker Vereinbarungen“, betonte auch der russische OSZE-Botschafter Andrej Kelin. (8)

Es sei ein weiterer Beweis für Kiews „Politik der Untergrabung des Minsker Abkommens“, die sich zuvor bereits in den Appellen an den Westen nach mehr Waffenlieferungen und den „fortwährenden Drohungen, das Problem im Donbass mit Waffengewalt zu lösen“, manifestiert habe, heißt es in einer Stellungnahme des russischen Außenministeriums. (9)

In einem Telefonat mit Poroschenko begrüßte US-Vizepräsident Joe Biden hingegen den Bruch mit den Minsker Vereinbarungen, ohne diesen als solchen anzuerkennen. Im Gegenteil behauptete er, die Entscheidung der Rada über das Sonderstatus-Gesetz stünde mit den Minsker Abkommen in Einklang. (10)
 
„Wenn Washington diese Maßnahme willkommen heißt, (…), dann können wir nur zu dem Schluss kommen, dass Washington Kiew dazu anstiftet, die Angelegenheit mit militärischen Mitteln zu lösen“, kommentierte Lawrow die Aussage des US-Vizepräsidenten.

Offenbar sieht sich Kiew zunehmend für einen erneuten Waffengang gerüstet. Poroschenko teilte am Wochenende mit, dass inzwischen elf Staaten der Ex-Sowjetrepublik militärisch-technische Hilfe geleistet hätten, wobei er kein Land namentlich nannte. In der Ukraine sind bereits britische Militärausbilder im Einsatz, auch US-Soldaten werden in Kürze dort für Trainingszwecke erwartet. Zudem hofft Kiew auf eine Ausweitung westlicher Waffenlieferungen. Unbestätigten Meldungen zufolge soll Polen bereits Panzer aus alten Beständen geliefert haben, darunter russische T-72.

„Die ukrainische Armee hat einmalige Kampferfahrungen bei Hybridkriegen gesammelt und ist jetzt so stark wie noch nie zuvor“, erklärte Poroschenko während eines Treffens mit der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite am Samstag in Kiew.

(mit dpa)

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren


 

Anmerkungen
(1) http://www.osce.org/ukraine-smm/145931
(2) http://www.mid.ru/brp_4.nsf/0/36A7191DA9F613F843257E1100306590
(3) http://uatoday.tv/politics/azov-416533.html
(4) http://uatoday.tv/politics/ukraine-s-azov-battalion-trains-near-mariupol-ready-to-defend-city-416838.html
(5) http://ukraineunderattack.org/en/mfa-of-ukraine-denies-russian-accusations-of-azov-batallion-using-howitzers.html
(6) http://www.osce.org/ukraine-smm/145931
(7) http://bigstory.ap.org/article/6f809b8bf29141ac858e54d6897f25fe/ukraine-rebels-warn-they-could-abandon-cease-fire
(8) http://de.sputniknews.com/politik/20150319/301567376.html
(9) http://www.mid.ru/brp_4.nsf/0/E8969627C9E62C9A43257E0B0045B2A3
(10) https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2015/03/18/readout-vice-president-s-call-ukrainian-president-petro-poroshenko
(11) http://de.sputniknews.com/militar/20150322/301595113.html

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Kriege Kampf ums Überleben
Nächster Artikel Kriege Syrien: Dschihadisten erobern Provinzhauptstadt