Kriege

Ukraine: Kämpfe trotz Waffenstillstand

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von REDAKTION, 18. Februar 2015 – 

Schon wenige Tage nach Inkrafttreten scheint das Minsker Friedensabkommens gescheitert. Während die Waffenruhe an den meisten Frontabschnitten eingehalten wird, halten die Kämpfe um den strategisch wichtigen Verkehrsknotenpunkt Debalzewo nach wie vor an.

Dort befinden sich die Kämpfer der selbsternannten „Volksrepubliken“ auf dem Vormarsch. Die Aufständischen hatten am Dienstag weite Teile der Kleinstadt nach erbitterten Gefechten unter ihre Kontrolle gebracht. „Nur ein paar Wohnviertel sind noch übrig, dann haben wir den Ort völlig unter Kontrolle“, sagte Eduard Bassurin, stellvertretender Stabschef der Armee der „Volksrepublik Donezk“, am Dienstag. Mehr als dreihundert ukrainische Soldaten seien gefangengenommen worden, es gebe „viele Tote“, so Bassurin. Er warf Kiew vor, die Waffenruhe gebrochen zu haben. Die ukrainische Regierung wies zunächst die Behauptungen über eine größere Anzahl Gefangener zurück. Inzwischen räumte Präsident Petro Poroschenko jedoch den Abzug von Regierungseinheiten aus der umkämpften Stadt ein. Bisher hätten vier Fünftel der Soldaten den strategisch wichtigen Ort „organisiert“ verlassen, teilte er am Mittwoch in Kiew mit – eingekesselt sind sie allerdings immer noch.

Einmütig weisen Kiew und seine westlichen Partner den Separatisten die Schuld am Bruch der Waffenruhe zu. Die Bundesregierung verurteilte die Einnahme Debalzewos durch die Aufständischen in scharfer Form. Das militärische Vorgehen breche die seit Sonntag geltende Waffenruhe und verstoße massiv gegen das in der vorigen Woche im weißrussischen Minsk vereinbarten Maßnahmenpaket, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin. Die neue Gewalt belaste und verletzte dieses Abkommen und die Friedenshoffnungen schwer. „Das bringt ohne jede Rücksicht großes Leid, weitere große Not über die Bevölkerung der Region.“ Auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat das Vorgehen der Separatisten in Debalzewo als klaren Verstoß gegen die Waffenruhe gewertet. Russland und die Separatisten hätten unverzüglich die Vereinbarungen von Minsk umzusetzen, forderte Mogherini am Mittwoch in Brüssel.

In einem Telefonat mit Kanzlerin Angela Merkel am Dienstagabend bezeichnete Poroschenko die Entwicklung bei Debalzewo als „zynischen Angriff auf die Minsker Vereinbarungen“. Die republikanischen US-Senatoren John McCain und Lindsey Graham kritisierten Merkel, gegenüber Putin zu nachgiebig zu sein. Es sei „unentschuldbar, an einem gescheiterten Waffenstillstandsabkommen festzuhalten“, während Russland und seine „Erfüllungsgehilfen“ die Kämpfe in der Ostukraine verschärften, kritisierten sie.

Unterdessen bat Präsident Poroschenko nach Angaben aus Kiew in einem Telefonat mit US-Vizepräsident Joe Biden erneut um Waffenlieferungen an die Ukraine. Der russische Duma-Vorsitzende Sergej Naryschkin warnte, ein solcher Schritt würde den Friedensplan zum Scheitern bringen. Die einseitigen Schuldzuweisungen des Westens Richtung Moskau und der Separatisten decken sich jedoch nicht mit der Faktenlage. Schon während des Zeitpunkts der Minsk-Verhandlungen  waren bei Debalzewo zwischen fünf- und achttausend ukrainische Soldaten eingekesselt. Die Separatisten boten Kiew an, für die eingeschlossenen Truppen einen Abzugs-Korridor zu öffnen, wenn diese ihre Waffen niederlegen. „Lasst die Waffen da und geht“, hatte Bassurin vergangene Woche erklärt. (1)

Die ukrainische Regierung schlug das Angebot nicht nur aus, sondern beharrt bis zum heutigen Tage darauf, dass ihre Truppen nicht eingekesselt seien. Poroschenkos diesbezügliche Position grenze an „Realitätsverweigerung“, heißt es in einem Kommentar auf Spiegel-Online: „Kam zuletzt die Rede auf die umzingelte Stadt Debalzewo, sprach der ukrainische Staatschef Petro Poroschenko von einem ‚Brückenkopf‘. Das hörte sich nach einem gezielten Manöver seiner Militärs an, nach voller Kontrolle.“ (2) Russlands Präsident Putin dürfte mit seiner Einschätzung richtig liegen, wonach eine Fortführung der Kämpfe bei Debalzewo „absehbar“ gewesen sei. „Die ukrainischen Offiziellen sollten ihre Soldaten nicht daran hindern, die Waffen niederzulegen“, sagte er. Dann würde die Waffenruhe auch Bestand haben.

Mit massiven Angriffen auf Stellungen der Aufständischen versuchten die ukrainischen Truppen in den vergangenen Tagen erfolglos, aus dem Kessel auszubrechen. Die Separatisten hatten zuvor angekündigt, sich auch nach Inkrafttreten der Waffenruhe jedweden Ausbruchversuchen der ukrainischen Truppen mit Waffengewalt zu widersetzen. So hatte der Regierungschef der „Volksrepublik Donezk“, Alexander Sachartschenko, nach Anordnung der Feuerpause in der Nacht zum Sonntag erklärt, man werde bei Debalzewo „niemanden entkommen“ lassen.

Beide Seiten haben dort zu keinem Zeitpunkt die Kampfhandlungen eingestellt – dennoch richten sich die Vorwürfe des Westens, damit gegen die Waffenruhe zu verstoßen, ausschließlich an die Separatisten. Kritik an die Adresse der ukrainischen Regierung blieb auch aus, als Kiew am Montag erklärte, sich nicht an den für Dienstag vereinbarten Beginn des Abtransports schwerer Waffen zu halten. Dennoch haben die Separatisten laut der Agentur Interfax ihrerseits damit begonnen, schweren Waffen aus der vereinbarten Pufferzone in jenen Frontabschnitten zurückzuziehen, in denen es in den vergangenen Tagen ruhig geblieben war.

Derweil rief der UN-Sicherheitsrat in New York die ukrainische Führung und die Separatisten auf, die Ergebnisse des Minsker Krisengipfels umzusetzen, wie es in einer von den 15 Mitgliedern am Dienstagabend einstimmig verabschiedeten Resolution heißt. Moskau hatte den Entwurf eingebracht. Russlands Vertreter bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, meinte, nun bestehe eine reelle Chance für eine Besserung der Lage.

Westliche Diplomaten werteten die Verabschiedung als Erfolg, weil sich der Sicherheitsrat darin erstmals ausdrücklich zu den Ergebnissen des Minsker Gipfels bekennt. Aber sie äußerten auch Skepsis. „Vereinbarungen hat es vorher schon gegeben“, warnte der britische UN-Botschafter Mark Lyall Grant. „Diesmal müssen Taten folgen.“ Die Präsidenten Russlands, Frankreichs und der Ukraine sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel wollen nach Angaben aus Paris am Abend die Lage in der Ukraine erneut beratschlagen – die Situation in Debalzewo dürfte dabei im Mittelpunkt stehen.


 

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mit dpa

(1) http://ria.ru/world/20150212/1047400807.html
(2) http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-kiew-muss-donbass-aufgeben-kommentar-a-1019022.html

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