Terrorismus

Der Anschlag auf Charlie Hebdo – Versuch einer Rekonstruktion

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

1422652405

Von ANDREAS VON WESTPHALEN, 31. Januar 2015 –

Die Attentate von Paris haben zu einer Fülle teilweise kruder Spekulationen im Internet geführt. Sie stützen sich vor allem auf das rare Bildmaterial in Form einiger Videos, sowie auf Zeugenaussagen, die in den Medien zitiert wurden. Andreas von Westphalen hat für Hintergrund nicht nur die vorhandenen Informationen sorgfältig zusammengetragen, analysiert und auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft, er war auch vor Ort und hat das vorhandene Bildmaterial und die Zeugenaussagen mit den Gegebenheiten im 11. Pariser Arrondissement abgeglichen. Sein Fazit: Abseits aller Spekulationen gibt es wichtige offene Fragen, die umgehend untersucht und beantwortet werden müssen.

Am 7. Januar wird die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris Ziel eines Anschlages. Zwölf Menschen sterben, elf werden zum Teil schwer verletzt. Seit dem Bombenanschlag auf den Schnellzug Straßburg–Paris im Jahr 1961 durch die militärische Untergrundorganisation OAS (Organisation de l’armée secrète) ist dies der verheerendste Anschlag auf französischem Boden.

Ziel dieses Artikels ist eine detaillierte Rekonstruktion der Ereignisse des 7. Januars, um dem Leser in der Flut der Informationen die Möglichkeit zu geben, einen genauen Überblick über die sehr komplexen Ereignisse zu gewinnen. Diese Komplexität ist sicherlich auch ein Grund, weshalb rund 20 Prozent der jungen Franzosen der Meinung sind, dass sich die Ereignisse dieses Tages anders zugetragen haben, als sie offiziell dargestellt werden – sie gehen von einem Komplott aus.(1) Bereits am Tag des Anschlages erschienen die ersten Videos im Internet, die massive Zweifel an der offiziellen Darstellung anmelden.(2)

Schritt für Schritt geht diese Rekonstruktion die Ereignisse des Tages durch, die möglichst präzise dargestellt werden sollen. Dabei werden fast ausschließlich französische Quellen benutzt, da einige wichtige Zeugen und entscheidende Details nur in den französischen Medien erwähnt sind. Wenn ein Punkt in der Rekonstruktion nicht eindeutig zu klären ist, werden die widersprüchlichen Aussagen dargestellt und nicht der Stringenz des Ablaufs geopfert. Ziel ist es, jene Fragen herauszukristallisieren, die noch offen sind und einer Klärung bedürfen. Dass gut drei Wochen nach dem Anschlag noch Punkte ungeklärt und einige Beweise noch nicht veröffentlicht sind, da die offizielle Untersuchung noch andauert, ist nachvollziehbar. Qualität und Glaubwürdigkeit dieser Untersuchung wird sich aber daran messen lassen müssen, ob sie zur Klärung der offenen Fragen beiträgt.

Falscher Eingang

Die Rue Nicolas Appert nach dem Anschlag. Man erkennt im Vordergrund die Hausnummer 6, hinter dem Gendarmerie-Fahrzeug liegt der Eingang Nr. 10. Dort war die Redaktion von Charlie Hebdo. Foto: Andreas v. Westphalen

Erstaunlicherweise beginnt die Tat gleich mit einem Irrtum. Nachdem die Täter gegen 11.20 Uhr einen schwarzen Citroën C3 an der Ecke Rue Nicolas Appert und Allée Verte im Pariser Stadtzentrum geparkt haben, begeben sie sich mit kugelsicherer Weste, Sturmhaube und Kalaschnikow zu einem Haus mit zwei Eingängen. Ein Eingang hat die Nummer 10, dort befindet sich die Redaktion von Charlie Hebdo, der zweite Eingang hat die Nummer 6. Die Täter stürmen zur Hausnummer 6.

Seit dem 1. Juli 2014 befindet sich der Sitz von Charlie Hebdo in der Rue Nicolas Appert.(3) Nach einem Brandanschlag war die Redaktion hierher umgezogen und um wenig Aufmerksamkeit zu erregen, ziert kein Logo den Eingang. Dennoch wäre es ein Leichtes gewesen, die korrekte Adresse der Redaktion über das Internet zu finden, zum Beispiel auf der Homepage der Zeitung oder in den Gelben Seiten(4). Ein Blick auf Google Street View hätte zudem das Problem der beiden Eingänge offenbart.(5)

In Paris ist jede Haustür mit einem Code gesichert. Die Täter nutzen die Ankunft einer Postbotin, um hinter ihr durch den Eingang der Nummer 6 zu schlüpfen. Die Briefträgerin muss ein Einschreiben abgegeben, das von einem Mann in Empfang genommen wird.(6) Unmittelbar nach dem Attentat berichtete die Briefträgerin der Presse: „Ich habe zwei schwarz gekleidete Männer eintreten sehen, die maskiert und schwer bewaffnet waren. Sie haben uns gefragt, wo der Eingang zu Charlie Hebdo sei, weil sie das nicht wussten. Sie haben Schüsse abgegeben, um uns zu beeindrucken.“(7) Das Erscheinen der beiden Täter an der falschen Adresse wird von einem weiteren Zeugen bestätigt. Yve Cresson, ein Mitarbeiter der Medienagentur Bayoo, die dort ihren Sitz hat, twittert am Nachmittag, dass zwei maskierte und bewaffnete Männer den Zutritt der Briefträgerin genutzt hatten, um in das Haus einzudringen. (Dabei bestimmt er die Uhrzeit mit 11.25 Uhr.)(8) Wenig später am Nachmittag twittert er zudem das Photo einer Kugel, die im Haus gefunden wurde.(9) Ein Notruf aus der Hausnummer 6 wurde jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht abgegeben, wie die Staatsanwaltschaft später erklärte.(10)

Das erste Opfer

Die Google Street View Aufnahme vom August 2014 zeigt, dass damals die Polizei rund um die Uhr präsent war. Rechts im Bild der Eingang zur Redaktion von Charlie Hebdo. Foto: Google Street View

Nachdem die Täter ihren Fehler erkannt haben, begeben sie sich zum richtigen Eingang. Betrachtet man das Gebäude von Charlie Hebdo bei Google Street View, kann man ein Polizeiauto und zwei Polizisten vor dem Eingang sehen – das Foto stammt allerdings vom August 2014. Wenig später wurde in Absprache mit der Redaktion der Polizeischutz reduziert. Daher gab es neben dem reinen Personenschutz nur noch einen sogenannten dynamischen Schutz. Jede halbe Stunde fuhr eine Streife am Sitz der Redaktion vorbei.(11)

Auch die Haustür der Nummer 10 hat einen Sicherheitscode und müsste in aller Regel verschlossen sein. Die Täter nehmen hier jedoch nicht die Briefträgerin als Geisel, um ihren besonderen Zugangsschlüssel nutzen zu können. Wie sie genau in das Haus hineinkommen, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Viele Medien berichten über den Anschlag erst ab dem Zeitpunkt, wo die Täter bereits im Haus sind und ignorieren diesen wichtigen Aspekt. Einige berichten, dass Corinne Rey, genannt Coco, eine Cartoonistin von Charlie Hebdo, gerade zu ihrer Arbeitsstelle zurückkommt, nachdem sie ihr kleines Kind von der Kindertagesstätte abgeholt hatte. Die Täter zwingen sie den Code einzugeben, der die Tür öffnet.(12) Diese Darstellung beruht allerdings einzig auf einem Interview, das Coco gut zwei Stunden später der Zeitung Humanité gab. Ihre sehr bruchstückhafte Aussage, die sie wahrscheinlich noch unter Schock machte, präzisiert aber nicht, ob sie den Code an der Haustür oder an der Eingangstür zu den Büroräumen von Charlie Hebdo im zweiten Stock eingeben musste.(13) Dass sie dort später den Code eingegeben hat, steht außer Zweifel. Für die zentrale Frage, wie die Täter in das Haus eindringen konnten, gibt es aber noch eine andere Darstellung. Eine Journalistin von Premières Lignes, einer Presseagentur, die sich die Etage mit Charlie Hebdo teilt, berichtete, dass die Eingangstür gewartet wurde und man problemlos in das Haus hineinkam.(14)

Im Foyer wenden sich die Täter laut Staatsanwaltschaft an zwei männliche Putzkräfte und fragen, wo sich Charlie Hebdo befinde (die Tatsache, dass sie offenbar nicht Coco befragen, deutet darauf hin, dass die Täter ohne Code in das Haus gekommen sind). Sie erschießen Frédéric Boisseau, einen der beiden Putzkräfte, vermutlich weil dieser nicht mit einer Antwort aushelfen kann.(15) Er verstirbt in den Armen seines Kollegen Jérémy Ganz.(16) Der erste Mord wird auch von einem weiteren Zeugen berichtet. Matthieu, ein Mitarbeiter von Premières Lignes erklärte, er sei die Treppe hinuntergegangen, um zu rauchen, als er durch eine Glasscheibe zwei maskierte Männer mit Kalaschnikows gesehen habe. Er sieht, dass sie schießen.(17) Matthieu eilt zurück in seine Büroräume im zweiten Stock.

Geiselnahme

Die Täter nehmen nach den Schüssen auf Frédéric Boisseau Coco und ihr Kind als Geisel und zwingen sie, ihnen die Räume von Charlie Hebdo zu zeigen. Die Cartoonistin gibt später an, dass die Täter perfekt Französisch sprachen und sich auf Al Qaida beriefen.(18) Die meisten Medien berichten nun, dass die Täter direkt in die Redaktionsräume geführt wurden. Le Monde beschreibt jedoch, dass Coco ein Ausweichmanöver versucht hat. Da an der Eingangstür von Charlie Hebdo nicht der Zeitungsname, sondern nur „Les Éditions rotatives“ steht, führt sie die Täter nicht in die zweite, sondern in die dritte Etage. Ein Zeuge von Premières Lignes berichtete, dass die Täter die Mieter im dritten Stock bedroht haben, bevor sie zur zweiten Etage geführt werden und Coco den Türcode eingibt.

Seitdem die Täter den falschen Eingang der Hausnummer 6 verlassen haben und davon ausgehen müssen, dass die Polizei gerufen wurde, sind bisher schätzungsweise vier Minuten vergangen.

Das Attentat

Wie jeden Mittwochmorgen findet eine Redaktionssitzung statt. Die Runde ist nicht ganz vollzählig. Der Chefredakteur Gérard Biard hält sich in London auf. Der Journalist Antonio Fischetti nimmt an der Beerdigung seiner Tante teil. Der Mediziner Patrick Pelloux, der neben seiner Tätigkeit im Krankenhaus regelmäßiger Kolumnist bei Charlie Hebdo ist, nimmt zu dieser Zeit als Präsident der Vereinigung französischer Notärzte an einer Versammlung unweit der Rue Nicolas Appert teil.(19) Der Karikaturist Willem bleibt wie immer den Sitzungen fern. Die beiden Karikaturisten Luz und Catherine Meurisse haben sich verspätet. Es wird ihnen das Leben retten.(20)

Der Angriff erfolgt kurz nach 11.28 Uhr. Zu dieser Zeit versendet Philippe Honoré seine letzte Karikatur via Twitter.(21) Nachdem die Täter in die Redaktionsräume stürmen, versteckt sich Coco mit ihrer Tochter unter einem Tisch. Was dann geschah, lässt sich insbesondere durch die Aussage von Sigolène Vinson, der überlebenden Gerichtsreporterin von Charlie Hebdo, rekonstruieren. Die Aussagen des Redakteurs Laurent Léger(22) sind weniger detailliert, widersprechen ihr aber in keinem Punkt. Ebenso wenig die spätere Darstellung der schwerverletzten Kollegen Laurent Sourisseau, alias Riss, (23), Philippe Lançon(24) und Fabrice Nicolini(25).

Zuerst schießen die Täter dem Webmaster Simon Fieschi, dessen Büro sich unmittelbar am Eingang befindet, zwei Kugeln in Lunge und Schulter. Er überlebt und wird anschließend eine Woche lang im Koma liegen.(26) Im Redaktionsraum wundern sich die Anwesenden, ob die Geräusche von Feuerwerkskörpern stammen können. Franck Brinsolaro, ein Polizist zum persönlichen Schutz des Herausgebers Stéphane Charbonnier, genannt Charb, erhebt sich und mahnt, dass sich niemand ruckartig bewegen solle. Dann geht die Tür auf und die Täter dringen in den Raum ein. Sie schreien „Allahu Akbar„ (Gott ist groß), und „Wo ist Charb?“. Dann erschießen sie Charb, den Zeichner der ersten französischen Mohamed-Karikatur. Der Überlebende Laurent Léger, der sich in einer Ecke unter einen Tisch versteckt, betont, dass entgegen einiger Medienmeldungen die einzelnen Opfer nicht namentlich aufgerufen und nach und nach exekutiert wurden.(27)

Der leitende Staatsanwalt François Molins gibt später bekannt, die Ermittler hätten 31 Patronenhülsen Kaliber 7,62 in den Büroräumen gefunden (Kalaschnikow AK-47) sowie 25 Hülsen eines anderen Kalibers.

Während Schuss für Schuss durch den Saal hallt, gelingt es Sigolène Vinson in ein benachbartes Büro zu kriechen und sich unter einem Tisch zu verstecken. In der Nähe kauert auch der Layouter Jean-Luc. Einer der Attentäter findet Sigolène Vinson und schaut sie an. Später erinnert sie sich: „Ich habe ihn angeguckt. Er hatte große schwarze Augen, einen sehr sanften Blick. Ich fühlte einen Moment die Schwierigkeiten, die er hatte, als sei er auf der Suche nach meinem Namen. Mein Gehirn funktionierte sehr gut. Ich habe schnell gedacht und verstanden, dass er Jean-Luc nicht unter dem Tisch gesehen hatte.“ Der Täter sagte zu ihr: „Habe keine Angst, beruhige dich. Ich werde dich nicht töten. Du bist eine Frau. Wir töten keine Frauen. Aber denke darüber nach, was du tust. Das, was du tust, ist schlecht. Ich verschone dich und weil ich dich verschone, wirst du den Koran lesen.“(28) Nach einem längeren Blick ruft er dem zweiten Täter zu: „Wir töten keine Frauen“. (Tatsächlich ist zu diesem Zeitpunkt die Kolumnistin Elsa Cayat aber bereits erschossen worden. Vier Frauen konnten jedoch unverletzt überleben.) Wenig später sind die Täter verschwunden. Danach alarmiert Sigolène Vinson die Feuerwehr und Jean-Luc ruft Patrick Pelloux an, der als Notarzt in drei Minuten vor Ort ist.(29) Der leitende Staatsanwalt François Molins erklärte später, die Ermittler hätten 31 Patronenhülsen Kaliber 7,62 in den Büroräumen gefunden (Kalaschnikow AK-47) sowie 25 Hülsen eines anderen Kalibers.(30)

Bei dem Attentat sterben: Die Karikaturisten Stéphane Charbonnier (genannt Charb), Philippe Honoré, Bernard Verlhac (genannt Tignous), Jean Cabut (genannt Cabu), George Wolinski, der Redaktionsmitarbeiter Mustapha Ourrad, der Ökonom und Kolumnist Bernhard Maris, die Psychoanalytikerin und Kolumnistin Elsa Cayat, der Leibwächter Franck Brinsolaro und der Journalist Michel Renaud, der als Gast an der Konferenz teilnahm.

Die Augen- und Ohrenzeugen schätzen die Dauer des Attentats in den Redaktionsräumen auf fünf bis zehn Minuten.(31) Seitdem die Täter den falschen Eingang verlassen haben, sind somit etwa neun bis 14 Minuten vergangen.

Spekulationen im Internet

Es kursieren zwei Spekulationen, die die offizielle Darstellung bis zu diesem Punkt in Zweifel ziehen. So berichtete eine Frau im Fernsehen von den „blauen Augen“ eines Täters.(32) Die Augen der beiden mutmaßlichen Täter sind hingegen auf den Passfotos eindeutig dunkelbraun. In dem auf Youtube zu sehenden Ausschnitt dieser Sendung von France 2 gibt jene Frau, Caroline Fourest, Ex-Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, jedoch lediglich die Angaben von Sigolène Vinson wider. Zudem schränkt sie ihre Aussage selbst ein und erklärt, dass sie die Augenfarbe nicht mehr genau weiß („des yeux bleues, je ne sais plus“). Die Aussagen von Sigolène Vinson hingegen sind eindeutig. Sie spricht stets von schwarzen Augen.

Eine zweite Spekulation betrifft einen Bürostuhl. So wird angemerkt, dass der Bürostuhl des zweimal angeschossenen Webmasters keine Blutspuren aufweist und zudem am Nachmittag auf der Straße stand. Abgesehen von der bizarren Unterstellung, die Toten und Verletzten von Charlie Hebdo seien ein Fake, entbehrt die Spekulation jeglicher Grundlage, da nicht einmal bekannt ist, in welcher Körperhaltung Simon Fieschi angeschossen wurde. Dass später ein typischer Bürodrehstuhl auf der Straße zu finden ist, dürfte am einfachsten dadurch zu erklären sein, dass es sich um einen Standardmodell handelt, vom dem es viele in dem Gebäude gibt. Die Rettungskräfte nutzten sie offensichtlich als Sitzmöglichkeiten für unter Schock stehende Überlebende.

Polizei nicht erreichbar

Vier Mitarbeiter der Presseagentur Premières Lignes, die ihre Arbeitsräume direkt gegenüber von Charlie Hebdo haben, beschreiben, was geschah, nachdem ihr Kollege Matthieu von der Anwesenheit der bewaffneten Männer berichtet hatte. Sie verbarrikadieren sofort den Eingang zu ihrem Büro, flüchten auf das Dach und verstecken sich dort hinter Schornsteinen. Um 11.47 Uhr twittert der Journalist Martin Boudot: „Angriff zweier maskierter Menschen in den Räumen von Charlie Hebdo. Wir haben uns aufs Dach geflüchtet.“(33) Von dort aus filmt er das Geschehen auf der Straße, als die Täter dort wieder erscheinen. Diese Bilder werden die ersten direkten Zeugnisse für Außenstehende sein, die zeigen, was sich vor Ort abspielt. Im Internet werden unmittelbar Stimmen laut, die Zweifel an dem Entstehen dieses Videos und an der Menschengruppe auf dem Dach hegen. Ihr Hauptargument ist, mindestens ein Beteiligter trage eine kugelsichere Weste. Allerdings ist es nichts Ungewöhnliches, dass in den Büros einer Presseangetur kugelsichere Westen bereitliegen, die die Journalisten bei Reisen in Krisengebiete mitnehmen können.(34) Des Weiteren ist Boudot nicht der Einzige, der mit seinem Handy ein Video macht, auch sein Kollege Benoît Bringer – wahrscheinlich der Träger der kugelsicheren Weste – filmt.(35)

Die Spur der Täter nach dem Attentat bei Charlie Hebdo
1 – Die Täter erscheinen bei ihrem geparkten Auto und beschießen Polizisten auf dem Fahrrad.
2 – Schießerei mit dem ankommenden Polizeifahrzeug, der Streifenwagen setzt zurück.
3 – Das Polizeiauto kollidiert beim Zurücksetzen mit einem parkenden PKW und bleibt stehen.
4 – Die Täter lassen ihren Citroen auf der Fahrbahn stehen und gehen zu Fuß zu dem
5 – am Boden liegenden Ahmed Merabet, den sie aus nächster Nähe erschießen.
Karte: Google Maps Grafik: Hintergrund

Zudem gibt es von der Abfahrt der beiden Täter noch ein weiteres Video aus einer anderen Perspektive. Daher kann an den Aussagen und Filmen der beiden Journalisten kein Zweifel bestehen. Sie treten auch bald an die Öffentlichkeit. So erklärt Boudot in einem Fernsehinterview(36) und sein Kollege Bringer im Radio(37), sie hätten sofort die Polizei informiert. Eine Kollegin, die nicht genannt werden möchte, äußert sich ausführlicher: „Wir haben versucht, die Polizei anzurufen, aber die war unerreichbar. Es war unbegreiflich.“(38) Erst als sie auf dem Dach sind, gelingt es ihnen schließlich, die Polizei zu erreichen.(39) Die Staatsanwaltschaft hält sich bisher bedeckt, was den genauen Zeitpunkt des eingegangenen Notrufes angeht.(40) Das gilt es im Rahmen der weiteren Untersuchungen unbedingt zu klären: Wann ist der erste Notruf eingegangen und war die Polizei tatsächlich nicht erreichbar? Und wenn ja – wie ist so etwas möglich?

Erste Schießerei auf der Straße

{youtube}4IFKG9zZm-s{/youtube}

In der Videoaufnahme vom Dach des Hauses Rue Nicolas Appert 10 kann man bei Sekunde 5 drei dunkelgekleidete Fahrradfahrer erkennen, die sich auf der Straße von der Kamera entfernen. Ihnen gilt wohl auch die gerufene Warnung „A gauche, à gauche! Là! Là! Là!“. Was auf den Aufnahmen nur erahnbar ist, bestätigen Boudot und Bringer in ihren Aussagen. Es handelt sich bei den drei Fahrradfahrern um Polizisten. (Fahrrad fahrende Polizisten sind in Frankreich und auch in Paris keine Seltenheit.) Die Polizisten biegen nach rechts ab und flüchten vor den Tätern.(41) Diese erscheinen im Bild und beschießen die Fahrradfahrer. Einzig der Umstand, dass die Polizisten nach knapp zwanzig Metern erneut abbiegen und damit den Schüssen ausweichen können, dürfte ihr Leben gerettet haben. Eine Nachbarin bestätigt diese Sequenz.(42)

Was anschließend geschieht, kann man besser in einem zweiten Film sehen:

{youtube}Z5ELCf-XFDE{/youtube}

Die beiden Täter rufen auf Arabisch, dass sie den Propheten gerächt haben. Anschließend scheint es, als ob der Fahrer die AK-47 für seinen Partner nachlädt. Danach starten sie ihren schwarzen Citroën und fahren in die Allée Verte. Man erkennt, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die Heckscheibe des Autos zerstört ist. Was kann der Grund dafür sein? Der gesamte Hergang auf der Straße – bis die zwei Männer abfahren – dauert eine Minute und zwanzig Sekunden. Rechnet man noch eine Minute dazu, die es dauerte, die Redaktionsräume zu verlassen, ergibt sich seit dem Verlassen des falschen Hauseingangs eine geschätzte Gesamtzeit von gut elf bis 16 Minuten. Zeit, in der die Täter mit dem Auftauchen der Polizei rechnen mussten. Sie agieren jedoch relativ gelassen und wirken wenig gehetzt.

Erstes Aufeinandertreffen mit der Polizei

Unmittelbar nachdem sich der schwarze Citroën auf der Allée Verte in Bewegung setzt, erscheint ein Polizeiwagen mit Blaulicht, der die Einbahnstraße in entgegengesetzter Richtung befährt. Diese Streife sei aufgrund eines Notrufes erschienen, berichtet die Zeit und beruft sich dabei auf die Staatsanwaltschaft. Da das Blaulicht eingeschaltet ist, kann man davon ausgehen, dass das stimmt.(43) Laut Polizeiangaben sollen zwischen Anruf und Erscheinen der Polizei zehn bis zwölf Minuten vergangen seien.(44) Diese Zeitspanne entspricht der eigenen Schätzung (s.o.). Die Polizei ist zu diesem Zeitpunkt mit nur einem kleinen ungesicherten Einsatzwagen am Tatort anrückt, dieses Fahrzeug wird für längere Zeit das einzige in der Umgebung von Charlie Hebdo bleiben.

Da das Polizeifahrzeug die Straße regelrecht versperrt, hält der Citroën an und die beiden Täter eröffnen das Feuer auf die Polizei. Die Beamten setzen eilig zurück, bis ihr Wagen auf dem Boulevard Richard Lenoir mit einem parkenden Wagen leicht kollidiert und zum Stehen kommt. Auf dem zweispurigen Boulevard fährt in diesem Moment kein Auto, möglicherweise stand die etwa zwanzig Meter entfernte Ampel auf Rot. Nur ein Fahrradfahrer überquert die Straße, wird aber nicht tangiert. Die Aussage der Redakteurin Sandrine Tolotti , die in der Nähe arbeitet, bestätigt den Ablauf, der auf der Videoaufnahme zu sehen ist.(45)

Statt eiligst zu fliehen, verfolgen die Täter das Polizeiauto. Es kommt zu einer weiteren Schießerei. Schlussendlich befinden sich beide Fahrzeuge nur zwei Meter voneinander entfernt. Dann biegt der Citroën links ab, entgegen der Fahrtrichtung des Boulevards. Die drei Autoren der Zeit, die bisher als einzige eine detaillierte Rekonstruktion der Ereignisse versucht haben, wundern sich: „Warum fahren sie nach links, weil sie nach Norden wollen? Weil sie aufgeregt sind? Und was passiert danach? Immerhin tauchen sie kurz darauf auf der anderen Straßenseite auf, dieses Mal in der richtigen Fahrtrichtung. Sie müssen also gewendet haben. Doch warum?“(46)

Auch das Verhalten der Polizisten wirft Fragen auf. Hat die Polizei auf den Citroën geschossen? In der Frontscheibe des Wagens werden später keine Einschusslöcher zu sehen sein. (Hingegen trafen 15 Schüsse den Polizeiwagen.(47) Dabei soll es jedoch keine Verletzten gegeben haben). Weshalb verfolgt die Polizei den Citroën nicht? Sicher wäre das aufgrund der deutlich besseren Bewaffnung der Täter nicht ungefährlich. Oder war der Polizeiwagen nach der Kollision fahruntüchtig? Schießen die Polizisten hinter dem Täterfahrzeug her und geben sie der Zentrale die Beschreibung des gesuchten Autos durch?

Die Ecke Boulevard Richard Lenoir und Allée Verte, wo der Polizeiwagen stehen bleibt, liegt gut zwanzig Meter von einem Metroeingang entfernt. Zudem säumen fünf- bis zehnstöckige Häuser den Boulevard. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Reihe Passanten und Anwohner Zeugen dieser Situation waren, ihre Aussagen wären sehr hilfreich, um Licht in die Vorgänge an der Kreuzung zu bringen.

Bis der schwarze Citroën links abgebogen ist, sind weitere fünfzig Sekunden vergangen. Ingesamt dauert die Operation seit dem Verlassen des falschen Hauseinganges nun nach Schätzungen zwischen zwölf und 17 Minuten. Doch außer dem kollidierten, angeschossenen Polizeiauto sind weit und breit keine weiteren Sicherheitskräfte zu sehen.

Umweg

An diesem Punkt verliert sich für kurze Zeit die Spur des Citroën, der dann jedoch wenig später auf der anderen Seite des Boulevard Richard Lenoir (in richtiger Fahrtrichtung) erscheinen wird. Die beiden Fahrbahnen des Boulevards sind durch einen knapp zwanzig Meter breiten Grünstreifen getrennt, der mit einem PKW nicht zu überqueren ist. Was sich in der Zwischenzeit ereignete, lässt sich nur schemenhaft rekonstruieren. Der Staatsanwalt spricht auf seiner ersten Pressekonferenz von einer danach folgenden Schießerei mit Polizisten auf Fahrrädern.(48) Auch einige Medien hatten dies am gleichen Tag berichtet (wobei meistens nicht festzustellen ist, ob sie sich auf die bereits dargestellte Schießerei in der Allée Verte beziehen oder auf einen weiteren Schusswechsel)(49). Le Monde benennt die Rue Pelée als Ort der nächsten Schießerei (spricht allerdings von einer Begegnung mit einem Polizeiauto).(50) Diese Straße kommt tatsächlich infrage. Daraus lässt sich schließen, dass die Täter ein kurzes Stück in falscher Fahrtrichtung auf dem Boulevard Richard Lenoir gefahren und dann sofort in die nächste Straße links, die Rue Pelée, abgebogen sind. Zwei Zeugen konnten das Geschehen von ihrem Balkon aus in besagter Straße beobachten: „Wir haben zwei Polizisten ohne kugelsichere Weste gesehen, die dreimal geschossen haben. Sie haben allen Anwohnern gesagt, dass sie in ihren Wohnungen bleiben sollen. Ein Polizist fiel vom Fahrrad. Er war am Unterschenkel verletzt.“ Es sind Einschusslöcher auf der Rue Pelée zu finden.(51)

Die weitere Fahrstrecke kann man nur erahnen. Schlussendlich kommen die Täter wieder zum Boulevard Richard Lenoir zurück, dieses Mal auf der anderen Straßenseite, vermutlich über die Rue Chemin de Vert. Damit sind sie – statt zu fliehen – in die unmittelbare Nähe des Tatortes zurückgekehrt. Auch wenn sie bei der Schießerei in der Rue Pelée nicht angehalten haben, muss man – zumal in der Pariser Verkehrdichte und bei der durch viele Einbahnstraßen aufwändigen Straßenführung – dafür eine Wegstrecke von etwa vier Minuten veranschlagen. Als der schwarze Citroën wieder auf dem Boulevard Richard Lenoir erscheint, sind also insgesamt 16 bis 21 Minuten vergangen. Von einem der Situation angemessenen Polizeiaufgebot ist noch immer nichts zu sehen.

Ermordung eines Polizisten

Auf dem Mittelstreifen des Boulevard Richard Lenoir wurde der Polizist Ahmed Merabet erschossen. Nach der Tat kondolieren die Menschen an dem Ort und legen Blumen nieder. Foto: Andreas v. Westphalen

Wie es auf dem Boulevard Richard Lenoir dann zur Ermordung des Polizisten Ahmed Merabet kommt, ist unklar, obwohl die eigentliche Tat gefilmt worden ist. Mehrere Medienberichte sprechen übereinstimmend davon, dass Merabet ebenfalls ein Fahrrad fahrender Polizist war.(52) Die Zeit erwähnt, dass die Staatsanwaltschaft bestätigt habe, er sei über Funk gerufen worden.(53) Wieso jedoch Polizisten, die auf einem Fahrrad völlig ungeschützt sind und zudem keine schusssichere Weste tragen, zu einer Verfolgungsjagd von zwei Tätern mit Kalaschnikows gerufen werden, ist schwer nachvollziehbar.

Merabet ist die dritte Fahrradpatrouille, die den Tätern entgegenkommt, während bisher erst eine einzige Streife in einem Polizeiauto zu sehen war. Einige Medienberichte präzisieren, dass er gemeinsam mit einem Kollegen unterwegs war.(54) Widersprüchlich sind jedoch die Aussagen, ob Merabet bewaffnet ist und auf den schwarzen Citroën schießt. Einige Artikel nennen dies als Faktum(55), die Zeit bezeichnet es als „unklar“(56) und einige Artikel spezifizieren Merabets Dienstgrad als „gardien de la paix“ (Friedensschützer)(57), ebenso wie die am folgenden Tag auf offener Straße erschossene Polizeipraktikantin Clarissa Jean-Philippe. Im Zusammenhang mit ihrer Ermordung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die „guardien de la paix“ in der Gemeinde Montrouge unbewaffnet sind.(58) Daher muss die Frage, ob Ahmed Merabet tatsächlich eine Waffe trug, explizit gestellt und beantwortet werden.

Das Video, das die Schüsse auf Ahmed Merabet  zeigt, ist sehr grausam und dem Getöteten gegenüber respektlos. Wir möchten es deshalb nicht direkt zeigen. Über einen Link (klick auf das Foto) kann man es bei Youtube anschauen.

Aufgrund eines 41-Sekunden langen Videos, das ein Anwohner aufgenommen hat, kann man zumindest einen Ausschnitt dessen sehen, was dann geschah. Obwohl bereits 16 – 21 Minuten vergangen sind, seitdem die Täter im falschen Haus Schüsse abgegeben haben und von einem massiven Polizeieinsatz ausgehen müssen, halten sie auf dem Boulevard Richard Lenoir (nun auf der anderen Straßenseite, aber quasi auf der Höhe der Büroräume von Charlie Hebdo) an und steigen aus dem Citroën. Das Video beginnt, als sie – ohne große Eile – zu Ahmed Merabet gehen, der offenbar verletzt am Boden liegt. Sie schießen aus einigen Metern Entfernung auf ihn und treffen ihn am Oberschenkel, gehen dann näher an ihn heran, bis einer der Täter „im Vorbeigehen“ in Merabets Kopf schießt. Während bisher alle Ermordungen direkt mit dem Racheakt für die Karikaturen von Charlie Hebdo zusammenhingen, ist diese Ermordung völlig willkürlich. Danach gehen die beiden zu ihrem Citroën zurück, der Beifahrer nimmt sich noch Zeit, einen auf die Straße gefallenen Schuh aufzuheben, sie scheinen kurz noch etwas auf Arabisch zu rufen und steigen ein.

Dieses Video wirft eine Reihe von Fragen auf. Wenn Merabet von seinem Fahrrad abgestiegen war und auf den Wagen geschossen hat, wie konnte er aus der Entfernung und durch die am Rande parkenden Autos den schwarzen Citroën sehen, geschweige denn aus dieser Distanz sicher sein, auf den richtigen schwarzen Citröen zu schießen? Wenn er geschossen hat, wo befindet sich dann die Pistole, als er am Boden liegt? Und umgekehrt, wie konnten die Täter ihn durch die Reihe parkender Autos sehen und vermutlich am Sprunggelenk verwunden? (Das bezieht sich auf die Vorgänge vor Beginn der Videoaufnahme.) Und vor allem: Warum erhält Merabet keine Deckung von seinem Kollegen – oder ist dieser unbewaffnet? Wo befinden sich zu diesem Zeitpunkt die beiden Polizisten des angeschossenen Polizeiwagens, der nur gut zwanzig Meter entfernt auf der anderen Straßenseite steht? Hier erwartet die Öffentlichkeit Zeugenaussagen dieser Kollegen und der zahlreichen zivilen Augenzeugen, die das Geschehen beobachtet haben müssen.

Die am stärksten verbreitete These im Internet, die Zweifel an der offiziellen Darstellung der Anschläge anmeldet, spekuliert über die Echtheit der Ereignisse, die im Video gezeigt werden. Ihr Hauptargument ist, dass weder bei dem Schuss in Merabets Oberschenkel noch bei dem Schuss in den Kopf Blutspuren zu sehen sind. Diese Spekulation lässt zum einen die nur bedingt aussagekräftige Bildschärfe des Videos außer Acht, zum anderen die Tatsache, dass der Schuss aus nächster Nähe abgegeben worden ist und bei einem Schuss in den Kopf vor allem Gehirnflüssigkeit austritt. Die Schlussfolgerung dieser Spekulation bedeutet, der Polizist auf dem Boden ist gar nicht tot. Das allein offenbart die völlige Realitätsferne der Protagonisten derartiger Verschwörungstheorien: Ahmed Merabet starb mitten auf einem Boulevard in Paris, umgeben von fünf- bis zehnstöckigen Häusern, vor den Augen der Öffentlichkeit: Im Erdgeschoss befinden sich verschiedene Geschäfte sowie ein Autoverleiher. Wenige Meter entfernt ist ein Café mit direkter Sicht auf den Tatort. Im Park gibt es einen Kinderspielplatz und eine Reihe von Sitzbänken.

Was allerdings erstaunt: Für das ungeschulte Auge ist im Nachhinein an der Stelle kein Einschussloch im Straßenpflaster zu finden.

Ein weiteres Video ist – sehr wahrscheinlich – im Anschluss an die Ermordung Merabets entstanden. Man sieht das immer noch quer auf dem Boulevard stehende Polizeiauto, das die Täter zuvor von Charlie Hebdo kommend beschossen hatten.

Zu Beginn der Aufnahme ist ein Schuss zu hören. Ein Polizist kniet in der Grünanlage zwischen den beiden Straßenseiten des Boulevards und zielt mit einer Pistole. Laut der Zeit ist es einer der Polizisten aus dem angeschossenen Streifenwagen.(59) Der schwarze Citroën mit den beiden Tätern ist nicht mehr zu sehen. Die Zielrichtung des Polizisten lässt vermuten, dass er den davonfahrenden Citroën im Visier hat, denn worauf sonst sollte er zielen und wovor in Deckung gehen?

Auch hier gibt es berechtigte Fragen zu dem Polizeieinsatz: Warum hat der Beamte nicht unmittelbar zuvor seinen Kollegen geschützt? Warum hat er nicht auf die nur wenige Meter von seiner Position entfernten Täter geschossen, die ohne jegliche Deckung auf der Straße umherliefen?

Überraschend ist, dass auf dem Boulevard weder fließender Verkehr noch ein Rückstau, verursacht durch das quer stehende Polizeiauto, zu sehen ist. Hat die Polizei nach der Schießerei die eine Straßenseite abgesperrt und den Verkehr umgeleitet? Dass auf allen Videos quasi kein Verkehr zu sehen ist, führt im Internet zu der Spekulation, die Gegend sei in erstaunlich weiser Voraussicht von der Polizei für den Verkehr abgesperrt worden. Bei einem Youtube-Video finden sich sogar zwei Kommentare, deren Verfasser behaupten, diese bereits in den Morgenstunden vorgenommene Absperrung selbst gesehen zu haben. Dem widerspricht jedoch, dass – wie im Video dokumentiert – auf der Straßenseite, auf der Ahmed Merabet erschossen wurde, ab einem gewissen Zeitpunkt der Verkehr langsam einsetzt. Die Aufhebung einer eventuellen Straßensperrung unmittelbar nach dem Mord ist wenig realistisch. Vielmehr ist es nachvollziehbar, dass der Verkehrsfluss während der Schießerei stockt.

Es gibt ein drittes Video von diesem Tatort, das einige Minuten später entstanden sein muss.(60) Dort sind nun mehrere Polizisten zu sehen, von denen einige versuchen, Merabets Leben zu retten. Auf der Straße haben sich mittlerweile viele Passanten eingefunden, ein Beleg dafür, dass offenbar wieder einige Minuten verstrichen sind. Aus der Ferne ist eine Sirene zu hören, aber während der zwei Minuten, die das Video dauert, erscheint nur ein Polizeiwagen im Bild.

Es ist festzuhalten: Die Ermordung von Ahmed Merabet findet knapp 200 Meter von den Redaktionsräumen Charlie Hebdos statt. Dennoch ist die Polizei – eine knappe halbe Stunde nachdem die Attentäter in der Rue Nicolas Appert erschienen sind – noch immer nicht mit einem adäquaten Aufgebot vor Ort.

Ortswechsel – Flucht aus Paris

Als Nächstes taucht der schwarze Citroën im 19. Arrondissement in Paris am Place Colonel Fabien auf, wo es zu einem leichten Unfall kommt.(61) Kurz darauf müssen die beiden Täter ihren Wagen wechseln. In der Rue de Meaux zwingen sie einen Mann, ihnen seinen grauen Renault Clio zu überlassen.(62) Danach gelingt ihnen die Flucht über die Péripherique – eine ringförmig um Paris verlaufende Stadtautobahn – in den Norden. Ob die flächendeckende Videoüberwachung auf der meistbefahrenen Straße Europas der Polizei bei der Verfolgung geholfen hat, ist noch unklar. Gesichtet werden die beiden Täter erst wieder am nächsten Morgen, als sie in einer Tankstelle kurz vor Villers-Cotterêts nordöstlich von Paris auftauchen.

Der dritte Mann

Am 7. Januar spricht ein Großteil der Medien von drei Tätern. Später am Abend, als der Staatsanwalt seine erste Pressekonferenz gibt, erklärt er, dass einzig eine Autofahrerin, die den Unfall mit dem schwarzen Citroën am Place Colonel Fabien hatte, eine dritte Person bemerkt habe.(63) Das ist nicht ganz richtig. Ein Zeuge namens Ayem berichtet, dass er vor Charlie Hebdo drei schwer bewaffnete Männer aussteigen sah.(64) Und noch ein weiterer Zeuge spricht davon, dass am Tatort drei Männer aus dem Citroën ausgestiegen seien, bei der Abfahrt jedoch einer mit einem Motorroller davongefahren sei.(65) Die große Mehrheit der Zeugen spricht jedoch explizit von zwei Tätern, insbesondere alle Überlebenden des Attentats. Auch auf allen Videos kann man nur zwei Personen sehen. Dennoch sollten die Zeugenaussagen über eine mögliche dritte Täterperson überprüft werden.

Die Identität der Täter

Der Versuch einer Rekonstruktion des Tathergangs kann ohne die Identifizierung der maskierten Täter nicht vollständig sein. Als die beiden im 19. Arrondissement ihr Auto wechseln müssen, laden sie laut Medienberichten eine Panzerbüchse, Molotow-Cocktails, zwei automatische Pistolen, zwei Kalaschnikows und eine Granate vom Citroën in den Renault um. Sie lassen aber auch eine Reihe von Gegenständen zurück: eine Fahne des Dschihad, zwei Walkie-Talkies, mehrere Molotow-Cocktails, eine Kamera Go Pro, eine Sonnenblende der Polizei, ein Blaulicht und den Ausweis von Saïd Kouachi.(66) Viel ist darüber spekuliert worden, warum sich dieser Ausweis im Auto befand. (Viele erinnert das an den Fund des Ausweises von Satam Al Suqami, einem der vermeintlichen Hijacker des American Airlines Fluges 11, wenige Tage nach dem 11. September 2001.) Sicher wäre die Identifizierung der Täter höchst fragwürdig, wenn sie einzig auf diesem Fund beruhen würde.

Doch es gibt eine Reihe weiterer Beweise. In dem Citroën – dessen Halter bis heute nicht bekanntgegeben ist – wurden die Fingerabdrücke des Bruders Chérif Kouachi auf einem Molotococktail gefunden.(67) Als die beiden Brüder den Eigentümer des Renault im 19. Arrondissement zwingen, ihnen sein Auto zu geben, tragen sie keine Maske. Sie geben ihm den Hinweis, falls ein Journalist ihn frage, solle er ihm einfach sagen, dass es Al Qaida Jemen sei.(68) Als sie sich am nächsten Morgen in einer Tankstelle mit Lebensmitteln eindecken, werden sie von einer Videokamera gefilmt. Sie sind schwer bewaffnet, aber unmaskiert.(69) Auch einen Tag später, am 9. Januar, treten sie unmaskiert auf. Sie haben mittlerweile Nanteuil-le-Haudouin erreicht, wo sie eine Lehrerin zwingen, ihnen ihren Peugeot 206 zu überlassen.(70) Nordöstlich von Paris verbarrikadieren sie sich wenig später in einer Druckerei. Der Besitzer Michel Catalano kann sie unmaskiert sehen.(71) So kümmert er sich, bevor er in die Freiheit entlassen wird, um eine leichte Schusswunde, die sich einer der beiden Täter am Morgen bei einer Schießerei mit der Polizei zugezogen hatte. Am Nachmittag ruft der Fernsehsender BFMTV in der Druckerei an und spricht mit Chérif Kouachi. In dem mitgeschnittenen Gespräch stellt sich der Täter explizit mit dem Namen „Chérif Kouachi” vor.(72) Damit steht die Identifizierung der beiden Täter auf soliden Füssen.

Wie lange es tatsächlich gedauert hat, bis Feuerwehr und Polizei vor Ort waren, ist bislang noch immer nicht geklärt.

Während die Identifizierung der beiden Täter recht überzeugend ist, bleiben neben Detailfragen, zum Beispiel wie die Täter genau in das Haus von Charlie Hebdo gekommen sind, vor allem Fragen bezüglich der langsamen Reaktionszeit der Polizei und der genauen Umstände der Ermordung des Polizisten Merabet offen.

Es bleibt zu hoffen, dass die französische Regierung schnell eine umfangreiche Untersuchung durchführt und veröffentlicht. Das ist sie den Opfern, ihren Angehörigen und nicht zuletzt der Gesellschaft schuldig. Die Opposition hat bereits einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gefordert. Dabei ist die Gefahr jedoch groß, dass dem Vorhaben weniger der Wunsch nach Wahrheitsfindung zugrunde liegt, als vielmehr der Versuch, politisches Kapital aus der Situation zu schlagen.


Anmerkungen und Quellen (bitte getrennte Seite öffnen)


 Nachtrag

° Auch wenn die Verringerung des Polizeischutzes mit der Redaktion von Charlie Hebdo abgesprochen war, bestehen Zweifel, inwiefern die Art und Weise den Vorschriften entspricht. Ein ehemaliger Direktor des Polizeischutzes für hochrangige Persönlichkeiten kritisierte eine Reihe von Fehlern. Die Reduzierung von einer ständigen Polizeipräsenz zu einem dynamischen Schutz hätte Gegenstand einer Versammlung der dafür zuständigen Kommission sein müssen. Des Weiteren hätte die Eingangstür durch eine Sicherheitsschleuse ersetzt werden und die Kommission eine regelmäßige Terminänderung der wöchentlichen Redaktionssitzung anraten müssen. (1) Nichts davon geschah.

° Bekanntlich drangen die beiden Täter zuerst in den Eingang mit der Hausnummer 6 ein. Dies ist umso erstaunlicher, da sie unmittelbar neben dem Eingang mit der Hausnummer 10 geparkt hatten, wo sich Charlie Hebdo befand. Dies wird durch zwei Videos belegt.

° Weitere Zeugen bestätigen, dass es erstaunlich lange gedauert hat, bis Polizei und Rettungskräfte bei den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo auftauchten. Benoît Bringer, Mitarbeiter von Premières Lignes spricht davon, dass dies eine halbe Stunde dauerte. (2) Sein Kollege Edouard Perrin antwortet auf die Frage, wieviel Zeit verstrichen sei, bis die Polizei erschienen sei, mit einer Pause und sagt dann: „Viel“. (3)
Die ersten Notärzte vor Ort kamen von einer Sitzung, die ganz in der Nähe stattfand (unter ihnen ein Mitarbeiter von Charlie Hebdo, der nach dem Attentat angerufen worden war). Sie stuften den Notfall als einen „plan rouge“ ein. (4) Ein Notarzt, der wenige Straßen entfernt war, fuhr daraufhin zum Tatort. (5) Warum ist der „plan rouge“, also die Anforderung von vielen Rettungskräften, nicht bereits aufgrund der Notrufe der Zeugen und Überlebenden erklärt worden? Warum hatte sogar der Notarzt, der dann wegen des „plan rouge“ erschien, keine Information, dass es sich um ein Attentat handelte? (6)

° InHinblick auf die grundlose Ermordung des Polizisten Ahmed Merabet wird meist argumentiert, dass er erschossen wurde, weil er Polizist war. Bei dieser Erklärung erstaunt aber, dass die beiden Täter vor dem Redaktionssitz nicht die drei fahrradfahrenden Polizisten verfolgten, die vor ihren Schüssen flüchteten, wie auf dem Video zu sehen ist. Zudem unternahmen sie auch keinen konkreten Versuch, um die Polizisten im Streifenwagen, die vor ihnen auf den Boulevard geflohen waren, zu töten. Vielmehr flüchteten sie gegen die Fahrtrichtung, nachdem sie sich den Weg freigeschossen hatten.

° Wenn man zu rekonstruieren versucht, was Ahmed Merabet getan hat, bevor er erschossen wurde, offenbaren sich weitere Unklarheiten. Der Boulevard Richard Lenoir ist auch für Fahrräder eine Einbahnstraße. Wenn Merabet in die korrekte Fahrtrichtung fuhr, bevor es zur Schießerei mit den Tätern kam, konnte er schlicht nicht das Täterauto gesehen und es deswegen auch nicht beschossen haben. Denn im Video ist zu sehen, dass Merabet in Fahrtrichtung gesehen etwa 20 Meter vor dem Täterauto auf dem Bürgersteig liegt. Wenn Merabet aber nicht geschossen hatte, warum hielten die beiden Täter dann an, um ihn zu erschießen? Und warum fragte einer der beiden Merabet, ob er sie habe erschießen wollen?
Bleibt also die Möglichkeit, dass Merabet gegen die Fahrtrichtung fuhr. Dies ist aber nicht nur gefährlich, entbehrt auch jeglichen Sinn. Denn wenn er in die entgegengesetzte Richtung hätte fahren wollen, warum hat er dann nicht die andere Seite des Boulevards genommen, die sich jenseits des Parkstreifens befindet und wo die Redaktionsräumen von Charlie Hebdo liegen? Und warum hätte er das machen sollen, wo doch die Täter bereits genau in die entgegengesetzte Richtung geflohen waren, als sie gegen die Fahrtrichtung fuhren. Daher konnte man kaum annehmen, dass sie auf dieser Seite des Boulevards wieder in Erscheinung treten würden, wo sich Merabet befand.

° Es ist zwar überraschend, dass Ahmed Merabet von den Rettungskräften eine Herzmassage erhielt, obwohl er durch den Schuss in den Kopf auf der Stelle tot gewesen sein dürfte, (7) laut der Aussage eines Notarztes ist dies aber nicht ungewöhnlich.

° Eine Präzisierung zum Fund des Ausweises von Saïd Kouachi im zurückgelassenen Täterauto: Der Ausweis befand sich in einer kleinen blauen Lacoste-Tasche, die im Fußbereich des Beifahrers lag. (8)

 

Quellen Nachtrag:

(1)  http://www.valeursactuelles.com/societe/charlie-hebdo-un-commissaire-accuse-50197
(2)     https://www.youtube.com/watch?v=vSCaHpofLJA
(3)     https://www.youtube.com/watch?v=XhnMSfZd6iM
(4)     https://www.youtube.com/watch?v=XhnMSfZd6iM
(5)     https://www.youtube.com/watch?v=08b-iDIccVk
(6)     https://www.youtube.com/watch?v=08b-iDIccVk
(7)     http://www.dailymotion.com/video/x2e7o41_des-policiers-pris-pour-cible-dans-l-attentat-contre-charlie-hebdo_news
(8)     http://www.lemonde.fr/acces-restreint/police-justice/article/2015/02/17/6d6a699e64676ac5946d67636a9d71_4578122_1653578.html

 


 

Leseempfehlung: Charlie und die Heuchler    

Von Peter Vonnahme  (31. Januar 2015)



via PayPal
Guter Journalismus ist teuer. Sie können Hintergrund unterstützen.

Entweder auf unserem Hintergrund-Spendenkonto
IBAN: DE51 4306 0967 1103 6594 01
BIC: GENODEM1GLS
GLS Gemeinschaftsbank
oder via Paypal

 

 

{simplepopup name=”Hintergrund2014″}
Durch das Schließen dieser Einblendung kommen
Sie kostenlos zum Artikel zurück.

 Aber:
Guter Journalismus ist teuer. Das Magazin Hintergrund
ist konzernunabhängig und werbefrei. Die Online-Artikel
sind kostenlos. Damit das so bleiben kann, bitten wir um
eine Spende. Entweder auf unser Spendenkonto
 
Hintergrund
IBAN: DE51 4306 0967 1103 6594 01
BIC: GENODEM1GLS
GLS Gemeinschaftsbank
 
oder via Paypal

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

Hier können Sie ein Abo für die
Print-Ausgabe bestellen.

Vielen Dank
{/simplepopup}

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Terrorismus Die Einheitsfront der Zivilisierten
Nächster Artikel Terrorismus „Sie finden mich immer, wo immer ich bin“