Schwaches Regelbewusstsein

Die Verächter von Konventionen und die Priester der Energiewende

Der nachlässige Umgang mit Verfahrensregeln im Bundeswirtschaftsministerium, der die aktuelle Affäre ausmacht, erinnert an eine frühere Affäre und weckt den Verdacht, dass solche Verhaltensmuster quasi in den Genen der Grünen angelegt sind.

Glaubensgemeinschaft oder Partei? Bei den Grünen verwischen sich die Trennlinien.
Foto: Raimond Spekking Lizenz: CC BY-SA 4.0 , Mehr Infos

Am 4. November 1995 hatte ich notiert: „Die Affäre um den zeitweiligen Staatssekretär Schädler (im hessischen Sozialministerium) ist zur Zeit Gegenstand eines Untersuchungsausschusses. Den Erzählungen der Beteiligten nach muss der Umgangston zwischen den Grünen im Ministerium wüst gewesen sein. Man fühlt sich fast an eine kriminelle Szene erinnert.“ Da ich nicht mehr in Erinnerung hatte, was damals gelaufen ist, habe ich im Internet recherchiert und bin auf einen taz-Artikel vom 16. 10. 1995 gestoßen. Unter anderem lese ich da: „‚Küchenkabinett‘ nannte die CDU die Troika aus Ex-Superministerin Iris Blaul, ihrem Lebensgefährten und Zentralamtsleiter, Wenzel Mayer, und dem Staatssekretär im Umweltministerium, Rainer Baake. Die genannten – so die Vorwürfe von CDU und FDP – hätten die Politik im Sozial- und im Umweltministerium allein konzipiert und den Staatssekretär im Sozialministerium, Johannes Schädler, ‚gemobbt‘. Weil Schädler das Feld nicht freiwillig räumte und Blaul an ihrem Zentralamtsleiter festhielt, glaubte die Ministerin am Ende der Affäre, selbst zurücktreten zu müssen. Schädler wurde danach dennoch entlassen.“ Die Entlassung nach kurzer Amtszeit wurde diesem übrigens mit einer üppigen Pension versüßt, wie dem Spiegel von damals zu entnehmen ist. „Fünf Jahre lang wird Schädler mit 75 Prozent seines bisherigen Salärs vom Staat freigehalten – das sind knapp 11 000 Mark brutto im Monat“ (Der Spiegel v. 08.10.1995).

Damals hatte ich in meinem Tagebuch reflektiert: „Vielleicht rächt es sich, dass viele ‚68er‘ konventionelle Umgangsformen ablehnten und wenig Sinn für Verfahrensregeln haben.“ Den „Spontis“ galt Spontaneität alles, als Grundbedingung für einen menschlicheren Umgang miteinander. Dabei ging es um mehr als um Dresscodes, Anstandsregeln und ritualisierte Formen. – Bekannt ist der ironische Kommentar Fritz Teufels zur Aufforderung eines Richters, sich zu erheben: „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient.“ Er fand damals (1967) großen Beifall. Wir alle fanden es lustig. – Aber mit dem Verwerfen von äußerlichen Formen wurden stillschweigend auch Regeln entwertet, zu denen man sich verpflichtet hat, eine Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen. Das Gegenteil dessen, was die Spontis anstrebten, ist anscheinend herausgekommen. Nicht ein Mehr an Menschlichkeit, auch nicht ein Mehr an politischer Zuverlässigkeit. Man kann anscheinend den „Prozess der Zivilisation“ (Norbert Elias) nicht ungestraft rückgängig machen. Bestätigt fand ich mich bei der Affäre um das hessische Sozialministerium durch die Einschätzung eines Journalisten, der damals meinte, es werde „plötzlich sichtbar, wie wenig belastbare Mechanismen es gibt, Konflikte zu bewältigen“ (FR v. 03.11.95).

An der Stelle ist daran zu erinnern, dass bei der Gründung der Partei Die Grünen „die ‚undogmatische Linke‘, die hedonistisch und libertär orientiert war, die breiteste personelle Basis“ stellte.1 Und gerade die Grünen in Hessen rekrutierten sich sehr stark aus der sogenannten Alternativszene. Bei so wenig Regelbewusstsein war es auch möglich, dass Joschka Fischer & Co. 1985 eine Koalition mit der SPD in Geheimverhandlungen aushandelten, „die es laut Satzung der Grünen eigentlich gar nicht hätte geben dürfen“.2

Bei der aktuellen Politsatire im Bundeswirtschaftsministerium ist aber noch ein anderes Muster wirksam, das ebenfalls die Politik der Grünen stark prägt. Man sieht sich einem missionarischen Auftrag verpflichtet, nämlich dem, die Energiewende durchzuziehen, um der Klimakrise zu begegnen. Das verfolgt man mit solchem Glaubenseifer, dass man Verfahrensregeln vernachlässigt, was die Quasi-Vetternwirtschaft erklärt. Gläubige bzw. Leute, die meinen, einen „höheren“ Auftrag ausführen zu müssen, setzen sich bei der Verfolgung ihrer Ziele immer gern über Regeln hinweg. Ich habe als Student und ASTA-Mitglied und auch später mitbekommen, welche Rolle, zumindest in den 1960er Jahren noch, konfessionelle Netzwerke bei Berufungen im Hochschulbereich spielten. Hauptsache die richtige Einstellung. Verfahrensregeln? Was sollte das?

Dass die Grünen in der Ampel-Koalition die Widersprüchlichkeit der eigenen Politik nicht wahrhaben wollen – unter anderem LNG importieren – ist eventuell auch jenem Übereifer geschuldet. Ohnehin sind sie überzeugt, die Klimakatastrophe abwenden zu können, ohne das Wirtschaftssystem infrage stellen zu müssen. Schwaches Regelbewusstsein verbindet sich mit gesellschaftstheoretischen Defiziten. Beides war schon früh angelegt.

Quellen

1Matthias Rude: Die Grünen. Von der Protestpartei zum Kriegsakteur. Hintergrund-Verlag Berlin 2023, S.11.

2Matthias Rude 2023, S.26.

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