Entspannungspolitik

Verheugen bei Buchvorstellung: „Wir arbeiten nicht am Frieden“

Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen fordert die Rückkehr zur Entspannungspolitik mit Russland. Verheugen hat das gesagt, als er in Berlin den Sammelband „Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ vorgestellt hat. Dabei hat er die deutsche Beteiligung am Krieg in und um die Ukraine deutlich kritisiert.

Günter Verheugen bei der Buchvorstellung in Berlin, 6. Juni 2023.
Foto und Rechte: Tilo Gräser, Mehr Infos

Zum Thema Ukraine erscheinen seit Monaten zahlreiche Bücher. Fast alle sind einseitig ausgerichtet: Gegen Russland, das spätestens seit dem 24. Februar als Feind seines Nachbarlandes dargestellt und behandelt wird – und das um jeden Preis. Das geht bis hin zu zwanghaften Versuchen, der Ukraine eine jahrhundertelange Geschichte als Nation anzudichten, die schon immer das Tor nach Europa gewesen sei. Nur wenige Bücher und Autoren verweigern sich dieser Einseitigkeit und schauen auf die Hintergründe und die Vorgeschichte des aktuellen Geschehens.

Eines dieser seltenen Bücher wurde kürzlich in Berlin vorgestellt: der von Sandra Kostner und Stefan Luft herausgegebene Sammelband „Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“. Darin werden von internationalen Autoren die Ursachen und Folgen des Krieges in und um die Ukraine analysiert – „und dabei im Besonderen die Rolle des Westens“, wie es im Klappentext des Buches heißt.

Der Westen trage eine große Verantwortung für die Entwicklung hin zum Krieg, erklärte Mitherausgeberin Sandra Kostner bei der Buchvorstellung. Als Migrationsforscherin komme sie nicht umhin, sich mit den Fluchtursachen wie dem Krieg in der Ukraine zu beschäftigen, erklärte sie. Ähnlich geht es ihrem Fachkollegen Stefan Luft, der an der Universität Bremen forscht. Das dortige Osteuropa-Institut ist bekannt für seine einseitige proukrainische Position, sodass Luft als Einziger gegenhält, wie er berichtete.

Anstoß für notwendige Debatte

Der Band soll Denkanstöße geben und „die aus unserer Sicht ziemlich einseitige öffentliche Debatte, insbesondere den sehr negativen Blick auf Diplomatie und Entspannungspolitik“, erweitern, so Luft. Er fügte hinzu: „Der Schwerpunkt der Analyse liegt aus zwei Gründen auf der westlichen Politik, weil die Rolle des Westens in der öffentlichen Debatte meist zu kurz kommt, was bedeutet, dass die geopolitische Dimension des Krieges weitgehend ausgeblendet wird. Und weil sich zweitens der Zugang zu Quellen sehr schwierig gestaltet.“

Deshalb zeigten sich die Herausgeber erfreut, dass sie mit Willy Wimmer und Klaus von Dohnanyi zwei kenntnisreiche ehemalige Politiker fanden, die sich in abgedruckten Gesprächen zum Thema äußerten. Ein anderer ehemals aktiver Politiker, der sich heute kritisch zur westlichen Ukraine-Politik äußert, stellte in Berlin das Buch vor: Günter Verheugen. Er ging dabei weniger auf dessen Inhalt ein, dafür mehr auf den Grundanspruch eines Plädoyers für die Wiederaufnahme der Entspannungspolitik.

Verheugen gehört zu den wenigen politischen Kritikern der bundesdeutschen Politik wie auch derjenigen der Europäischen Union (EU) in Bezug auf den Krieg in und um die Ukraine. Seine Kritik hat es in sich, war er doch als EU-Kommissar (1999 bis 2010) unter anderem für die EU-Osterweiterung zuständig. Zudem war er als FDP-Mitglied unter anderem Mitarbeiter von Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Nach seinem Austritt bei den Liberalen ging er zur SPD, für die er unter anderem als Außenpolitiker aktiv war.

Klares westliches Ziel

Bei der Buchvorstellung war er als einer zu erleben, der über die heutige bundesdeutsche Politik im Inneren wie im Äußeren nur den Kopf schüttelt. Viele Jahre seines aktiven politischen Lebens habe er sich mit Osteuropa beschäftigt, einschließlich Russland und der Ukraine. Er habe 1975 das erste Mal einem sowjetischen Außenminister gegenübergesessen, erinnerte sich Verheugen. Und daran, dass er zweimal im Oval Office des Weißen Hauses in Washington US-Präsidenten erlebt habe: Wie sie ihren Gästen aus Europa erklärt haben, „was Sache ist mit der Ukraine, nämlich dass das westliche Ziel darin bestehen muss, sie nicht wieder in den Einflussbereich Russlands kommen zu lassen“.

„Es ging überhaupt nicht um die Frage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in der Ukraine. Nicht die Bohne. Es ging ausschließlich um die Frage: Wie kann man verhindern, dass mithilfe der Ukraine Russland wieder zu einem möglichen Systemrivalen wird? Das ist das Interesse.“

Aber auch ohne solche Erlebnisse als Augen- und Ohrenzeuge sei klar erkennbar, was das US-Interesse sei. Das verkünden laut Verheugen umherreisende US-amerikanische Politiker wie der Senator Lindsey Graham oder die Vizeaußenministerin Victoria Nuland. Graham habe kürzlich als „Freund klarer Worte“ zur westlichen Aufrüstung der Ukraine erklärt, dass US-Geld niemals besser angelegt worden sei.

Kriegskredite 2.0

Verheugen ging deutlich mit der bundesdeutschen Politik ins Gericht. Zu dem von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 angekündigten schuldenfinanzierten „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro sagte er: „Dazu fällt mir der Ausdruck ‚Kriegskredite‘ ein.“ In dem Zusammenhang berichtete er, dass seine beiden Großväter 1914 aus der SPD austraten, weil diese Partei den damaligen Kriegskrediten zustimmte. Der EX-EU-Kommissar wurde deshalb später vom Publikum gefragt, warum er immer noch in der SPD ist. Darauf erklärte er, dass er hoffe, von innen mehr als von außen verändern zu können.

„Wir arbeiten nicht am Frieden, im Augenblick arbeiten wir am Krieg“, kritisierte Verheugen die bundesdeutsche Politik. „Dank unserer Beteiligung an diesem Krieg wird eine massive Aufrüstung notwendig.“ Er stellte klar: „Wir sind Beteiligte an diesem Krieg. Nicht nur, wie Habeck gesagt hat eine Wirtschaftskriegspartei. Wir sind in Wahrheit eine Kriegspartei, mit wesentlich stärkerem Engagement als seinerzeit im Kosovo.“ Verheugen hatte damals dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien noch zugestimmt.

Heute ist aus seiner Sicht klar: „Deutschland ist das logistische Zentrum für die Unterstützung der Ukraine. In Deutschland werden ukrainische Soldaten ausgebildet. Wir liefern Munition und Nachschub. Wir liefern Geheimdiensterkenntnisse, Nachrichten und Lageberichte. Das ist schon sehr massiv.“

Kritisches Nachfragen unerwünscht

Für den früheren FDP- und SPD-Außenpolitiker steht die Frage: „Was wollen wir eigentlich damit erreichen? Was ist eigentlich unser Interesse dabei? Ist es Russland und China zum Beispiel zu einem großen eurasischen Block zusammenzuschließen? Es ist unser Interesse, dass sich letztlich die gewaltige wirtschaftliche und demografische Macht Chinas mit der gewaltigen nuklearen Macht Russlands verbindet?“ Das sei die Folge der westlichen Politik, die sich derzeit herausbilde, so Verheugen.

Doch kritisches Nachfragen sei derzeit nicht erwünscht, nicht in der bundesdeutschen Politik und nicht in den etablierten Medien. Er habe selbst erlebt, als er sich erstmals zum Thema zu Wort meldete, wer kritische Fragen stelle, werde „als ein nützlicher Idiot im Dienst von Putin oder als Handlanger russischer Interessen dargestellt“. Es könnte dagegen auch die Frage gestellt werden: „Wie wollen wir eigentlich diejenigen nennen, die bedingungslos den politischen Vorgaben und den politischen Interessen der westlichen Führungsmacht folgen?“

Verheugen bedauerte, dass es in der Bundesrepublik derzeit keine Debatte über die Politik im Zusammenhang mit der Ukraine gebe. Das vorgestellte Buch könnte aus seiner Sicht die „notwendige Debatte über das, was wir in Deutschland in diesem Krieg zu suchen haben und was wir in diesem Krieg wollen, von diesem Krieg und von seinen Ergebnissen erwarten“, in Gang bringen. „Es ist ja so, dass dieses ‚Russland muss verlieren‘-Lager in unserer Politik eindeutig die Mehrheit ist und dieses Lager permanent der inhaltlichen Diskussion ausweicht.“ Dabei gebe es in der Bevölkerung eine andere Meinung, die den Regierenden deutlich gemacht werden müsse.

Rückkehr zur Entspannungspolitik

Zu den großen Tabus in Politik und Medien gehöre die Vorgeschichte, sagte Verheugen. Die reicht aus seiner Sicht mehr als dreißig Jahre zurück, bis hin zu den Zusagen an die Sowjetunion im Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Damals sei Moskau versprochen worden, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, betonte er und fügte hinzu: „Ich weiß es aus erster Hand.“ Mit diesem gebrochenen Versprechen „fing eigentlich der Weg an, der uns dahin geführt hat, wo wir heute sind, nämlich anstelle gesamteuropäischer Kooperation ein tiefer Konflikt mitten in Europa, dessen Ende wir nicht absehen können“.

Der Ex-EU-Kommissar sprach sich wie die beiden Herausgeber für eine Wiederaufnahme dessen aus, was derzeit diffamiert und als vermeintlicher Fehler hingestellt wird: die Entspannungspolitik. Aus seiner Sicht gibt es nicht mehrere Arten davon, wenngleich die Methoden und Mittel angepasst werden müssten. „Der Grundgedanke bleibt immer derselbe: Kooperation statt Konfrontation, Dialog statt Ausgrenzung, vernünftiger Interessenausgleich, gegenseitiger Respekt.“

Diese Politik im 20. Jahrhundert, an der er mitgewirkt hat, „als naiv, als Irrtum, als bedauerliche Kurzsichtigkeit darzustellen, das geht gegen die Ehre“, betonte Verheugen. „Es geht wirklich gegen die Ehre derjenigen, die das erkämpft und durchgesetzt haben und damit Jahrzehnte des Friedens und unter anderem auch die deutsche Einheit und ein großes Stück europäische Einheit möglich gemacht haben.“

Warnung vor ungehemmtem Rüstungswettlauf

Er widersprach der These des derzeitigen SPD-Co-Vorsitzenden, dass es Sicherheit in Europa nur gegen Russland gebe. „Das ist grundfalsch.“ Das bedeute eine unendliche Aufrüstungsspirale, „die umso gefährlicher wird, als wir keine Rüstungskontrollpolitik mehr haben“. Der Weg sei „frei für einen vollkommen ungehemmten Rüstungswettlauf“. „Der wird auch kommen, wenn nicht die Erkenntnis zurückgewonnen wird, dass unabhängig von unterschiedlichen Auffassungen über was auch immer das gemeinsame Interesse überwiegt.“

Die Entspannungspolitik sei nicht nur interessengeleitet, „sondern vor allen Dingen wertebezogen“, betonte Verheugen: „Sie orientiert sich am wichtigsten Grundwert überhaupt: dem Grundwert des Lebens.“ Seine Erfahrung sei, „dass gesamteuropäische und kooperative Strukturen möglich sind und er plädiere dafür, diese Möglichkeit auch heute offenzuhalten. Irgendwann wird der Krieg zu Ende sein und wir müssen einen Weg finden, wie wir dann in Europa zusammenleben.“

Dann gebe es nur zwei Möglichkeiten: „Entweder wir schotten uns vollständig ab und schaffen einen neuen Eisernen Vorhang, diesmal aber vollkommen undurchdringlich. Oder wir versuchen es noch einmal auf Grundlage der Erkenntnisse, die wir in der Zwischenzeit gewonnen haben.“ Verheugen hat allerdings mit Blick auf die gegenwärtige politische Klasse hierzulande wenig Hoffnung. Deshalb setzt er auf die Zivilgesellschaft, die die Regierenden zwingen müsse, „in diese Debatte einzutreten und klar zu sagen, was sie eigentlich wollen, welche Ziele sie verfolgen und mit welchen Mitteln sie diese Ziele verfolgen“.

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Sandra Kostner/Stefan Luft (Hg.): „Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“
Verlag Westend Academics 2023. 352 Seiten; ISBN: 978-3-949925-10-8; 24 Euro

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