Gesundheitspolitik

Der Karlatan – Folge 3

Anstelle einer Harvard-Dissertation ein schlichtes Essay, das Mängel und Fehler aufweist. Eine selbstgezimmerte Professorenstelle in Köln. Ist Karl Lauterbachs gesamte Vita die eines Blenders und Emporkömmlings?

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Die Lichtgestalt verblasst mehr und mehr. Unter dem professoralen Talar kaum Substanz, unter dem Doktorhut Schall und Rauch.
Foto: Raimond Spekking, Lizenz: CC BY 4.0, Mehr Infos

Der Karlatan – eine Hintergrund-Serie von Thomas Kubo

Übersicht und Links sämtlicher Folgen 1 bis 5

Während in den ersten beiden Teilen Lauterbachs ärztlicher und wissenschaftlicher Werdegang betrachtet wurde, geht es im dritten Teil darum, wie sein Weg auf eine Professur erfolgte.

Endlich Professor

Seit 1997 darf sich Karl Lauterbach „Professor“ nennen. Als Direktor eines Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie (IGKE) nennt er sich seit 1998 zusätzlich „Epidemiologe“. Das Institut firmiert bis heute unter diesem Namen. Lauterbach ist aufgrund seines Bundestagsmandates als Leiter beurlaubt.
Das IGKE in Köln ist für den Werdegang Lauterbachs entscheidend. Der Weg dahin ist allerdings etwas verworrener, als der schnörkellose Lebenslauf nahelegt, und es ist auch nicht die einzige Institution, an der Lauterbach tätig ist.

Frisch aus Harvard nach Köln – und wieder zurück?

Gehen wir ins Jahr 1996. Lauterbach gibt nämlich in seinem Lebenslauf an, ab hier als Gastdozent an der Harvard School of Public Health tätig gewesen zu sein. Gleichzeitig führt ihn sein Lebensweg nach Köln zurück und damit in seine rheinländische Heimat. Lauterbach ist ehrgeizig und möchte die Gesundheitsökonomie in Deutschland etablieren – diese steckt als eigenständiges Fach in Deutschland akademisch in den Kinderschuhen. Bei der Universität Köln ist Lauterbach an der richtigen Adresse.

Geschäftsführer

Auf Betreiben Lauterbachs, der zu dem Zeitpunkt Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Gesundheitsökonomik e.V. ist, wird an der Universität Köln zunächst im Jahre 1996–1997 ein An-Institut gegründet. Dieses Institut heißt „Institut für Gesundheitsökonomie, Medizin und Gesellschaft“ (IGMG). Das Deutsche Ärzteblatt vermerkt im April 1997 dazu Folgendes:

Die Initiatoren des neu gegründeten Instituts für Gesundheitsökonomie, Medizin und Gesellschaft (IGMG) an der Universität zu Köln und die Ende 1995 gegründete Gesellschaft zur Förderung der Gesundheitsökonomik Köln e.V. setzten von Anfang an auf Interdisziplinarität und fakultätenübergreifende Zusammenarbeit. Das Institut baut deshalb zwei Bereiche auf, getragen von der Medizinischen Fakultät der Universität und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Ziel ist es, die gemeinsamen Forschungs- und Lehrinteressen beider Fakultäten zu bündeln und Forschungsprojekte mit dem methodischen Rüstzeug beider Disziplinen anzugehen.“1

Die Gründung des „Lauterbach-Instituts“ wirft durch ein Selbstzeugnis Lauterbachs aus dem Jahre 2014 weitere Fragen auf. Es geistert ein Video von einem TED-Talk an der RHWT-Aachen durch die sozialen Medien, das Lauterbach heute Probleme bereiten könnte:2

So, when I had studied all these fields and came back to Germany it was quite clear that there was [sic] only two possibilities for me to go on. Either to become unemployed and continue to read books as an unemployed or to become a professor. So, I opted for position number two – coming from a working-class background I thought it is better to be a professor and have a regular income than to be a reader or scholar and be unemployed. So I became a professor for the two fields which I’ve just mentioned, clinical epidemiology and economics, and since no one had studied this combination and was also a physician I had no competition. This is why I got the professorship, basically. I advised the university to create such a professorship. I later applied for exactly that professorship, and – believe it or not – I precisely matched the criteria of the professorship.“ (Übersetzung 3)

Einiges ist direkt unwahr: Es gab und gibt weitere Menschen mit demselben Studienprofil von Karl Lauterbach, auch aus seiner Generation und ebenfalls aus der davor. Wenn Lauterbach davon spricht, er sei ein „physician“, tischt er seiner Zuhörerschaft zwar in englischer Sprache, aber doch dasselbe Märchen von seiner aktiven ärztlichen Tätigkeit auf. „Physician“ suggeriert nämlich, er sei ein praktizierender Arzt gewesen.

Die vordergründig komisch-ironischen Aussagen, die auch die Zuhörerschaft zum Lachen bringen, offenbaren, dass Lauterbach aktiv an der Ausschreibung und Berufung für seine eigene Professur mitgewirkt, sie sozusagen für sich selbst maßgeschneidert haben könnte. Das akademische Leben mag für die Öffentlichkeit wie eine Parallelwelt erscheinen: Der schrullige Lebensweg eines noch schrulligeren deutschen Professors, der zufällig Politiker geworden ist. Es sollte jedoch nicht verniedlicht werden: Man kann es auch als dreiste Vorteilnahme deuten.

Diese Vorteilnahme wurde damals nicht sanktioniert oder öffentlich kritisiert. Die Universität Köln sah sich jedoch im August 2022 zu einer Stellungnahme veranlasst, die offenbar nach Erscheinen eines Artikels des Tagesspiegel-Journalisten Thomas Trappe4 wie auch einiger kritischer Bemerkungen in den sozialen Medien motiviert war.

Die Stellungnahme widerspricht Lauterbachs Aussage, dass er der einzige Bewerber war, direkt. Es gab zunächst drei, und später zwei, weil einer der Bewerber seine Bewerbung zurückzog. Lauterbach hatte „competition“. Wer der andere Bewerber war, darüber schweigt die Universität Köln aus Datenschutzgründen.

Die Stellungnahme versucht wortreich Lauterbachs Beteiligung am Gründungsprozess kleinzureden. Wer genau beteiligt war, kann das Deutsche Ärzteblatt im Jahre 1997 besser darlegen:

Gründungsmitglieder der Gesellschaft waren namhafte Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, der Versicherungswirtschaft, der Verbände der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung, Verbände und Stiftungen der Ärzteschaft sowie der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. […]

Das Institut soll durch seine Verbindung mit der Praxis, der Industrie und den Verbänden auch eine Art ‚katalytische Wirkung‘ auf das Verhältnis zwischen ‚Gesundheitsindustrie‘, der pharmazeutischen Industrie, der forschenden Klinik, dem ambulanten und stationären Bereich und der Kölner Universitätsklinik entfalten […]5

Berufung

Das Berufungsverfahren, das Lauterbach 1997 seinen Professorentitel verschafft, wirft eine Reihe von weiteren Fragen auf.

Zunächst ist die Frage zu stellen, warum Lauterbach diese erste Berufung in seinem Lebenslauf verschweigt. Zwischen 1996 und 1998 klafft nämlich eine Lücke. Lauterbachs Lebenslauf vermerkt, er sei 1998 ans Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie berufen worden, was auch korrekt ist. Die Universität Köln vermerkt in der Stellungnahme aber unmissverständlich, dass die Berufung im Jahre 1997 erfolgte. Dies ist auch das Jahr, das er in seinem Buch „Der Zweiklassenstaat“ als Berufungsjahr nennt.6 Die Professur ist damals auch als „Professur für Gesundheitssystemforschung“ ausgeschrieben worden, wie der Ausschreibung am Ende der Stellungnahme der Universität Köln zu entnehmen ist. Die Ausschreibung wurde am 5. Juli 1996 in der Deutschen Universitäts-Zeitung veröffentlicht. Lauterbach war jedenfalls laut Ärzteblatt ab Dezember 1996 mit der Leitung des Instituts beauftragt.

Was weder Lauterbach noch die Universität in der Stellungnahme vermelden: Im Jahre 1998 ist ein zweites Berufungsverfahren erforderlich. Die genaue Abfolge teilt erst die Pressestelle der Universität Köln auf Nachfrage mit:

Professor Lauterbach wurde 1996 zunächst Professurvertreter. 1997 wurde er auf die C3-Professur Gesundheitsökonomie berufen. 1998 erfolgte im Zuge von Bleibeverhandlungen eine Berufung nach C4.7

Was es mit den Bleibeverhandlungen auf sich hat: Darum geht es im nächsten Teil. Die entscheidende Frage lautet zunächst: Erfolgten die Berufungen in Köln zurecht?

Vorneweg: Die Universität Köln steuerte mit Verweis auf den Datenschutz zur Beantwortung dieser Frage keine weiteren Informationen bei.

Einstellungsvoraussetzungen

Betrachten wir zunächst die formalen Voraussetzungen: Es tagten für beide Berufungen jeweils Berufungskommissionen, die Lauterbachs Eignung nach dem damals geltenden Universitätsgesetz prüfen mussten. Der § 49 nennt „Einstellungsvoraussetzungen für Professorinnen und Professoren“.8 Neben einem abgeschlossenen Hochschulstudium, das hier nicht angezweifelt wird, waren das:

2. pädagogische Eignung, die durch Erfahrung in einer vorausgegangenen Lehr- oder Ausbildungstätigkeit nachgewiesen oder bei Fehlen dieser Voraussetzung ausnahmsweise im Berufungsverfahren festgestellt wird; § 201 Abs. 3 des Landesbeamtengesetzes bleibt unberührt,

3. besondere Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit, die in der Regel durch die Qualität einer Promotion nachgewiesen wird,

4. darüber hinaus je nach den Anforderungen des zu vertretenden Faches oder der Stelle

a) zusätzliche wissenschaftliche Leistungen (Absatz 2) oder

b) besondere Leistungen bei der Anwendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden (Absatz 3),

5. für Professorinnen und Professoren mit ärztlichen oder zahnärztlichen Aufgaben die Anerkennung als Gebietsärztin oder Gebietsarzt oder Gebietszahnärztin oder Gebietszahnarzt, soweit für das betreffende Fachgebiet nach den gesetzlichen Vorschriften eine entsprechende Weiterbildung vorgesehen ist.

(2) Die zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen werden in der Regel durch eine Habilitation nachgewiesen. In Fächern, in denen eine Habilitation nicht üblich ist, bei Berufungen aus dem Ausland oder in Ausnahmefällen erfolgt der Nachweis durch gleichwertige wissenschaftliche Leistungen innerhalb oder außerhalb des Hochschulbereichs.

(3) Die besonderen Leistungen bei der Anwendung oder der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden sind während einer fünfjährigen berufspraktischen Tätigkeit auf einem Gebiet, das dem zu vertretenden Fach entspricht, zu erbringen, von denen mindestens drei Jahre außerhalb des Hochschulbereichs ausgeübt worden sein müssen.

(4) Soweit es der Eigenart des Faches und den Anforderungen der Stelle entspricht, kann abweichend von Absatz 1 Nr. 1, 3 und 4 auch eingestellt werden, wer hervorragende fachbezogene Leistungen in der Praxis nachweist.

Welche Bewerbungsunterlagen lagen der 1. und der 2. Berufungskommission vor? Und konnten die Kommissionen anhand der Bewerbungsunterlagen die gar nicht so laxen Anforderungen des Universitätsgesetzes angemessen prüfen?

Der kryptische Satz der Stellungnahme vorneweg: „Neben den Qualifikationsschriften wurden auch die weiteren wissenschaftlichen Aktivitäten der Bewerber*innen im Verfahren verglichen.“ Die Dissertation aus Harvard wurde als „habilitationsäquivalente Leistung“ anerkannt. Die Universität präzisiert in der Stellungnahme:

Setzt jede Berufung eine Habilitation voraus?

Insbesondere, aber nicht nur bei Bewerbungen von Kandidat*innen aus dem Ausland (so wie Herr Prof. Lauterbach, von der Universität Harvard kommend) war und ist eine Anerkennung von habilitationsäquivalenten Leistungen gesetzlich vorgesehen und auch seit Dekaden üblich. Denn die Habilitiation ist ein Spezifikum weniger europäischer Länder. Ein alleiniges Abstellen auf eine Habilitation würde die deutsche Wissenschaftslandschaft benachteiligen, da internationale Spitzenkräfte von vornherein nicht infrage kämen. Tatsächlich nimmt die Zahl der habilitierten Professurbewerber*innen bis heute stetig ab und die habilitationsäquivalente Leistung wird zum Regelfall. Dies gilt auch für inländische Bewerbungen.“

Es stellen sich hier einige weitere Fragen: Was für weitere „Qualifikationsschriften“ sollen es gewesen sein? Im Hinblick auf das dürftige Publikationsverzeichnis ist diese Frage keine Kleinigkeit – es ist nach derzeitigem Kenntnisstand zu vermuten, dass es vor 1997 keine „Qualifikationsschriften“ gibt. Und warum wird Lauterbach als „von der Universität Harvard kommend“ beschrieben, wo er doch seit 1995 wieder in Deutschland weilte und auch als Hochschuldozent wie auch als Geschäftsführer des Vereins vielleicht nicht gearbeitet hat, aber doch bezahlt wurde? Um den klassischen ausländischen PhD mit einer mehrjährigen Phase als Postdoc mit einer Stafette an Veröffentlichungen, Forschungsprojekten und Lehrveranstaltungen handelt es sich bei Lauterbach jedenfalls nicht. Bei einem aus dem Ausland kommenden Spitzenforscher, der in einem Land ein neues Fach akademisch verankern möchte, müsste man diese Leistungen jedoch voraussetzen – eigentlich. Und ist jene zweite Dissertation wirklich „habilitationsäquivalent“?

Die Harvard-Dissertation – Formalitäten

Lauterbachs zweite Doktorarbeit wirft eine Reihe von weiteren Fragen auf. Diese sind einerseits formal, andererseits inhaltlich. Die Formalitäten zuerst: Heute ist die Dissertation auf Lauterbachs Homepage zugänglich, aber dies war nicht immer der Fall. Die Veröffentlichung erfolgte auf das Betreiben von über 100 Ärzten, die den damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann aufgefordert hatten, Lauterbach möge seine Doktorarbeit doch öffentlich zugänglich machen, wie der Arzt und Publizist Gunter Frank bereits am 16. Juni 2020 schrieb.9Weiter:

Als Lauterbach in der Politik Karriere machte, wuchs das Interesse an seiner nicht zugänglichen Harvard-Arbeit, die letztlich die Grundlage seines Aufstiegs bildete. Ein Kollege wendete sich 2015 direkt an Harvard und bekam von dort folgende Antwort […]:“

Frank zitiert aus der damaligen Mail:

Als Dr. Lauterbach seine Dissertation fertiggestellt hatte, konnten die Studenten den Grad des öffentlichen Zugangs zu ihrer Dissertation bestimmen (dies ist nicht mehr die Praxis). Nach meinem besten Wissen ist Dr. Lauterbachs Dissertation in der Countway Library immer noch nicht öffentlich zugänglich.10

Aber damit die Berufungskommission diese Arbeit als habilitationsäquivalent ansehen konnte, hätte sie den Mitgliedern auch vorliegen müssen. In den unendlichen Weiten des Bibliothekskataloges der Harvard University ist ein einziges Exemplar verzeichnet.11 Das Harvard-Exemplar ist in der Meta-Bibliotheksdatenbank worldcat.org12 ebenfalls das einzige, und zwar auf der Welt. Die Nachfrage in Harvard ergibt Folgendes:

Theses are part of special collections, which means they cannot be checked out of the library, but only used in a reading room. There may not be any reviews, other than between the author and his thesis advisors. […] Theses at the time were physically published and a copy kept in the library (sometimes the department also kept a copy.)“ (Übersetzung13)

Falls Lauterbach lediglich eine Publikationsliste vorgelegt hatte, wäre es der Berufungskommission nur unter beträchtlichem Aufwand möglich gewesen, das Exemplar der Harvard-Dissertation überhaupt zu Gesicht bekommen. Der Katalog vermerkt, dass die Kopie nur in der Bibliothek verwendet werden kann und im „off-storage-site“ als „rare material“ gelagert wird. Thomas Trappe hat ferner keinen Bestand im Kölner Institut feststellen können.14 In den letzten zehn Jahren, so die Nachfrage in der Countway Library, sei die Dissertation auch insgesamt nur drei Mal angesehen worden.15

Kurzum: Die „habilitationsäquivalente Qualifikationsschrift“, die so gut war, dass sie genügte, einen Bewerber auszustechen, ist für die deutsche Öffentlichkeit nicht zugänglich und war es möglicherweise also auch nicht den Berufungskommissionen in Köln.

Die „Habilitationsäquivalenz“ ist inhaltlich noch weiter infrage zu stellen: Dass Wissenschaftler im Ausland nicht habilitieren, kann für eine deutsche Universität kein Grund sein, die Anforderung an die deutsche Habilitation zu missachten: Wer eine solche erlangt hat, wird ebenfalls eine Reihe von einschlägigen Veröffentlichungen publiziert haben müssen – sie bilden in zahlreichen Habilitationsordnungen die Voraussetzung, überhaupt offiziell mit der Habilitation anzufangen.16 Viele ehrgeizige Wissenschaftler gehen damals wie heute mit eben jenem Ziel ins Ausland. Erinnern wir uns aber an eines der Zwischenergebnisse oben: Eine Reihe von einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen in renommierten Journals ist bei Lauterbachs Forschungsaufenthalt nicht entstanden, und danach auch nicht. Überdies: Warum hat Lauterbach sich nie darum bemüht, seine Dissertation in irgendeiner Form bekannter zu machen? Werfen wir einen Blick auf den Inhalt.

Die Harvard-Dissertation – Der Inhalt

Die inhaltliche Bewertung der Harvard-Dissertation wirft eine Reihe von Fragen auf. Gunter Frank hat die Nachforschungen im bereits zitierten Artikel dokumentiert:

Da ich im Rahmen eines Projektes Kontakt zu einem bekannten Professor der Harvard School of Public Health bekam, nutzte ich 2016 die Gelegenheit, einmal direkt per Email am Ort des Geschehens nachzufragen. Wie kann es sein, dass so eine Arbeit dazu berechtigt, den Titel Doctor of Science einer der berühmtesten medizinischen Universitäten zu führen? Der langen Antwortmail merkte man das Unbehagen deutlich an, gipfelnd in der Aussage, es sei natürlich keine wissenschaftliche Arbeit, aber immerhin ein normativer Essay.

Frank zitiert ferner aus einer Mail des Harvard-Kollegen:

Es handelt sich natürlich nicht um ein wissenschaftliches Werk, wenn wir mit Wissenschaft ein Werk der Natur-, Bio- oder sogar Sozialwissenschaften meinen. Würde es als wissenschaftliche Arbeit präsentiert, könnte man sagen, dass es nicht den für solche Arbeiten geltenden Standards entspricht. Aber es tut nicht so, als ob es das wäre. Es ist ein normativer Essay, der versucht, innerhalb von Gerechtigkeitstheorien und politischer Philosophie eine Grundlage für normative Urteile über die Zuteilung von Gesundheitsressourcen und damit zusammenhängende Fragen zu finden. Es ist klar, dass Prof. Roberts, Prof. Sen und die anderen Doktorväter von Karl bereit waren, eine Dissertation mit diesem Ziel zu akzeptieren, vorausgesetzt, sie entspräche dem erforderlichen akademischen Standard.17

Den wissenschaftlichen Gehalt der Lauterbach-Dissertation aus Harvard eigens zu bewerten, sprengt den Rahmen dieses Artikels, soll aber an anderer Stelle erfolgen. Die einfache Lektüre bringt jedoch geradezu haarsträubende Mängel zutage. Auch ein normativer Essay sollte sich an Standards halten.

Es seien ein paar der zahlreichen Mängel hier dokumentiert:

– Belastbare Informationen zur „Health Policy in Germany“ auf den Seiten 76–86 werden ohne Beleg referiert. Der einzige Beleg ist in Fußnote 55 die „personal communication“ eines Kollegen.

– Die US-amerikanischen Verhältnisse, die dann auf den Seiten 86–92 ebenfalls beleglos beschrieben werden, enthalten Sätze wie diesen hier auf S. 87: „Instead, we should not allow anyone to be uninsured, since it is part of the human condition that we can come into situations where we are not appropriately insured and would will [sic] to be treated nevertheless.“ Oder: „As in the U.S. they do [sic], the better-off should in principle have an opportunity to buy a more extensive coverage for the central functions.“18 Wie jemand an einer Ivy-League-Universität ohne korrektes Englisch einen Doktortitel erhalten kann, erschließt sich dem zwar unpromovierten, aber immerhin der englischen Sprache mächtigen Verfasser nicht.

– Wenn Belege erfolgen, dann nie mit Seitenzahl, was eine klassische „non-footnote“ ist. Eine Folge ist, dass Lauterbachs Umgang mit Zahlenmaterial kaum geprüft werden kann. So zitiert er auf S. 13 eine große Arbeit mit über 100 Seiten von Doll & Peto aus dem Jahre 1981, die als ein zentrales Ergebnis festhält, dass 30 Prozent der Krebstoten in den USA zu der Zeit durch Rauchen entstanden.19 Die 25 Prozent Herztoten erfindet Lauterbach dann einfach hinzu.20 Lauterbachs Verhalten auf Twitter ist hier vorgezeichnet – handelt es sich bei der Erfindung von Zahlen bereits um wissenschaftliches Fehlverhalten?

Die Frage lautet, warum diese eklatanten Mängel nicht auch anderen aufgefallen sind. Zum Beispiel denen, die sie zuerst zu Gesicht bekamen: den Gutachtern. Derer gab es vier. Diese vier („This thesis has been read and approved by:“) heißen Amartya Sen, Arthur Applbaum, Marc Roberts und Michael Reich. Marc Roberts, dem in der Einleitung für die Betreuung gedankt wurde, ist mittlerweile verstorben und kann nicht mehr befragt werden. Die anderen drei wurden jedoch vom Verfasser mit der Bitte um Stellungnahme kontaktiert. Die damaligen Gutachter haben heute zur Arbeit nichts zu sagen. Eine Anfrage und weitere Rückfrage wurden von Arthur Applbaum und Michael Reich zwar gelesen, aber ignoriert. Amartya Sen, dem man als Nobelpreisträger die Beherrschung des wissenschaftlichen Handwerks und der englischen Sprache unterstellen darf, reagierte bis jetzt überhaupt nicht. Er stattete Lauterbach 2001 immerhin in einer Fußnote mit seinen gutachterlichen Dank aus. Darin lobt er Lauterbachs Werk als eine gelungene Exploration des von Sen – also von ihm selbst – begründeten capability-Ansatzes.21

Pikant ist jedenfalls bei dieser Veröffentlichungsgeschichte, dass Lauterbach in der Dissertation selbst folgendes schrieb:

In looking at justice in health care from a Kantian point of view I also hope to stimulate the debate about how Kantianism can be used to understand specific matters of social justice. (Übersetzung22)

Es bleibt fragwürdig, wie eine unter Verschluss gehaltene Dissertation, die nirgendwo sonst (wieder)veröffentlicht, bearbeitet, übersetzt, erwähnt, zitiert oder besprochen wird, eine „Debatte anzuregen“ in der Lage ist. Das Zitat in Sens Anmerkungsapparat bleibt vorerst das einzige Fremdzitat, das der Verfasser ausfindig machen konnte.

 

Im vierten und letzten Teil wird es um Lauterbachs Lehrtätigkeiten gehen.

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Anmerkung Redaktion: Die Rechercheergebnisse des Autors sowie dieser und die folgenden Artikel wurden von unabhängigen Experten, darunter Hochschullehrer und promovierte Mediziner, überprüft. Die Namen sind der Redaktion bekannt. Sämtliche Stufen der Karriereleiter wurden minutiös mit Quellen belegt. Allerdings hält der Bundesminister sich selbst bedeckt. Das erst machte die vorliegende Arbeit nötig. Sollte es dennoch zu Ungenauigkeiten oder sogar Fehlern in der Berufsbiografie gekommen sein, bitten wir um eine Nachricht an redaktion@hintergrund.de

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Quellen

1 Harald Clade: Gesundheitsökonomie: Interdisziplinärer Ansatz, Dtsch Arztebl 1997; 94(15): A-962 / B-822 / C-744. Online: https://www.aerzteblatt.de/archiv/5882/Gesundheitsoekonomie-Interdisziplinaerer-Ansatz

2 Healthcare systems for a better social world | Karl Lauterbach | TEDxRWTHAachen. Online: https://www.youtube.com/watch?v=RKVUhHDusfU.

3 Deutsche Übersetzung: Als ich also all diese Bereiche studiert hatte und nach Deutschland zurückkam, war es ganz klar, dass es für mich nur zwei Möglichkeiten gab, weiterzumachen. Entweder arbeitslos zu werden und als Arbeitsloser weiter Bücher zu lesen oder Professor zu werden. Also entschied ich mich für die zweite Möglichkeit – da ich aus der Arbeiterklasse stamme, dachte ich, es ist besser, Professor zu sein und ein regelmäßiges Einkommen zu haben, als ein Leser oder Wissenschaftler zu sein und arbeitslos zu sein. Also wurde ich Professor für die beiden Bereiche, die ich gerade erwähnt habe, klinische Epidemiologie und Ökonomie, und da niemand diese Kombination studiert hatte und gleichzeitig Arzt war, hatte ich keine Konkurrenz. Deshalb habe ich die Professur im Grunde genommen bekommen. Ich habe der Universität geraten, eine solche Professur einzurichten. Später habe ich mich genau auf diese Professur beworben, und – ob Sie es glauben oder nicht – ich entsprach genau den Kriterien für diese Professur.

4 Thomas Trappe: Karl Lauterbach. Der Karrierewissenschaftler, Tagesspiegel Background (18. Mai 2022, aktualisiert 31. August 2022). Online: https://background.tagesspiegel.de/gesundheit/der-karrierewissenschaftler.

5 Harald Clade: Gesundheitsökonomie. Interdisziplinärer Ansatz. Dtsch Arztebl 1997; 94(15): A-962 / B-822 / C-744. Online: https://www.aerzteblatt.de/archiv/5882/Gesundheitsoekonomie-Interdisziplinaerer-Ansatz

6 Karl Lauterbach: Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren, Rowohlt: Berlin (2007: S. 10).

7 E-Mail an den Verfasser vom 19. September 2022.

8 Das Universitätsgesetz in der Fassung von 1993 ist verfügbar in dem Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen, 47. Jahrgang, Nummer 52 (23. September 1993). Online: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_gv_show_pdf?p_jahr=1993&p_nr=52. Das heute gültige Hochschulrahmengesetz bzw. das für NRW geltende Hochschulgesetz weichen im Hinblick auf die Einstellungsvoraussetzungen für Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer teilweise die strengeren Anforderungen des Universitätsgesetzes auf. Ob Lauterbach unter diesen Gesetzen einwandfrei berufen worden wäre, wagt der Verfasser dennoch zu bezweifeln.

9 Gunter Frank: Der seltsame Professor, Achse des Guten (16. Juni 2020). Online: https://www.achgut.com/artikel/bericht_zur_coronalage_16.6.2020der_seltsame_professor

10 Englisch: „… when Dr. Lauterbach completed his dissertation, students were able to determine the level of public access that their dissertations might have (this is no longer the practice). To the best of my knowledge, Dr. Lauterbachs dissertation at Countway Library is still not available to the public.

13 E-Mail an den Verfasser vom 30. September 2022. Übersetzung: Dissertationen gehören zu den Sonderbeständen, d.h. sie können nicht in der Bibliothek ausgeliehen, sondern nur in einem Lesesaal benutzt werden. Es darf keine Überprüfungen geben, außer zwischen dem Autor und seinen Doktorvätern. […] Damals wurden die Dissertationen physisch veröffentlicht und ein Exemplar in der Bibliothek aufbewahrt (manchmal bewahrte auch der Fachbereich ein Exemplar auf) .

14 Trappe: „Auf Anfrage nämlich erklärt man in Köln, dass die Arbeit ‚bei uns leider nicht vorliegt‘ und verweist auf Lauterbachs Abgeordnetenbüro.“

15 E-Mail an den Verfasser vom 3. Oktober 2022.

16 Man lese beispielsweise in der heutigen Habilitationsordnung der Universität Köln nach, die unter § 4 Punkt 3 als Voraussetzung für die Eröffnung eines Habilitationsverfahrens „eine qualifizierte wissenschaftliche Tätigkeit nach der Promotion, dargelegt in einer angemessen großen Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten, die in der Regel in international anerkannten Fachzeitschriften des jeweiligen Fachgebiets publiziert sind“ festsetzt. Und nicht nur das! Online: https://medfak.uni-koeln.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/Habilitationsordnung.pdf

17 Englisches Original: „It is of course not a scientific work, if by science we mean a work in the natural, biological, or even social sciences. If it were presented as a scientific work, one could say that it does not meet the standards that apply to such work. But it does not pretend to be that. It is a normative essay, one that seeks to find a foundation within theories of justice and political philosophy for normative judgments about the allocation of health resources and related issues. Clearly, Prof. Roberts, Prof. Sen, and Karl’s other thesis supervisors were prepared to accept a thesis with this aim, provided that it met the requisite academic standard.

18 Deutsche Übersetzung: Stattdessen sollten wir nicht zulassen, dass jemand unversichert ist, denn es ist Teil der menschlichen Natur, dass wir in Situationen kommen können, in denen wir nicht angemessen versichert sind und trotzdem behandelt werden wollen. Oder: Wie in den USA sollten die Bessergestellten prinzipiell die Möglichkeit haben, sich eine umfangreichere Absicherung für die zentralen Funktionen zu kaufen.

19 R Doll, R Peto, The causes of cancer: quantitative estimates of avoidable risks of cancer in the United States today, J Natl Cancer Inst 1981 Jun;66(6):1191-308. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/7017215/

20 Das Wort „heart“ taucht im Text der Arbeit auf den Seiten 1233, 1236 auf 1249 auf, jedoch ohne Bezug zum Rauchen.

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21 Vgl. Amartya Sen schreibt dies in Anmerkung 44 auf S. 311 seines Werkes Development as Freedom: „The relevance of the capability perspective in many different fields has been well explored, inter alia, in a number of doctoral dissertations done at Harvard that I have been privileged to supervise.“ Freilich: Die „privilegierte Supervision“ impliziert keine weitere Beschäftigung mit der Frage, warum diese Exploration so gelungen war.

22 Deutsche Übersetzung: „Indem ich Gerechtigkeit im Gesundheitswesen aus kantianischer Sicht betrachte, hoffe ich auch, die Debatte darüber anzuregen, wie der Kantianismus genutzt werden kann, um spezifische Belange der sozialen Gerechtigkeit zu verstehen.

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