Türkei

Erdogan: Beitrittspoker mit Finnland und Schweden nach außen, Ringen um Machterhalt im eigenen Land

Um sich eine weitere Amtszeit zu sichern, legt sich Recep Tayyip Erdogan mächtig ins Zeug. Daheim versucht er, durch vorgezogene Wahlen und repressive Methoden die Konkurrenz auszubooten. Auf der internationalen Bühne macht er die Türkei zum Zünglein an der Waage. Zuletzt deutete der türkische Präsident an, einem NATO-Beitritt Finnlands zustimmen zu können, während Schweden außen vor gelassen werden würde.

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Wahlkampferfahren: Recep Tayyip Erdogan. Hier auf einem Plakat zu den Nationalwahlen 2011.
Foto: Adam Jones Lizenz: CC BY-SA 2.0, Mehr Infos

Das Ringen um den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens geht weiter. Nachdem alle anderen Partner ihre Zustimmung gegeben haben, fehlt nach wie vor das Placet der Mitglieder Ungarn und Türkei. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hatte angekündigt, das Parlament in Budapest wolle im Februar diesbezüglich eine Entscheidung treffen. Doch was macht die Türkei?

Im Lichte der letzten Ereignisse erscheint eine Zustimmung der Türkei zum Beitritt der beiden nordeuropäischen Länder zum Verteidigungsbündnis zunehmend in weite Ferne zu rücken. Gerade, was Schweden betrifft. Einerseits weigert sich Schweden nach wie vor, auf die Forderungen der Türkei einzugehen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zur Bedingung für die Zustimmung seines Landes gemacht hatte. Konkret geht es um die Auslieferung von 120 Personen, die von der Türkei als „Terroristen“ eingestuft werden. Darunter ist der Journalist Bülent Kenes, der die englischsprachige Zeitung Today’s Zaman leitete. Ihm wirft die türkische Regierung die Organisation des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 vor. Kenes gilt als enger Vertrauter des Predigers Fethullah Gülen, der nach Ansicht der türkischen Führung der Kopf hinter dem Umsturzversuch ist. Andererseits haben jüngst kurdische Proteste und die Verbrennung des Koran durch einen Rechtsextremisten vor der türkischen Botschaft in Stockholm die schwedisch-türkischen Beziehungen deutlich abkühlen lassen. 1 Obwohl Schwedens Premierminister Ulf Kristersson am Wochenende nach den Protesten bekräftigt hatte, den Dialog mit der Türkei schnellstmöglich fortsetzen zu wollen und dabei betonte, keine andere Frage der nationalen Sicherheit sei wichtiger als die, dass sein Land zusammen mit Finnland schnell Mitglied der NATO werde, sieht es nicht so aus, als würde die Türkei in dieser Frage nachgeben wollen. 2

Finnland scheint seinerseits verstanden zu haben, dass es bessere Chancen auf einen NATO-Beitritt haben könnte, wenn es sich von der Idee verabschiedete, diesen gemeinsam mit Schweden zu vollziehen. Wie die Deutsche Welle berichtet, hat diese Einsicht Finnland zu der Andeutung veranlasst, es könnte auch ohne Schweden beitreten. 3 Erdogan ließ wiederum am Sonntag verlauten, die Türkei könnte in Bezug auf Finnland eine andere Antwort geben. „Schweden wird schockiert sein, wenn wir für Finnland eine andere Antwort geben“, so der türkische Präsident bei einem Treffen mit Jugendlichen. 4

Das Vorgehen der Türkei in der Frage der NATO-Norderweiterung wird auch in Russland genau beobachtet, schon aus eigenen Sicherheitsinteressen heraus. Der Duma-Abgeordnete Dmitrij Belik äußerte Verständnis über die türkische Absage an Schweden. Schweden habe sich verzockt, als es antiislamische Aktionen vor der türkischen Botschaft in Stockholm zugelassen habe, so Belik. „Ein Weg in die Verteidigungsallianz durch extremistische Provokationen ist ein seltsames und zum Scheitern verdammtes Unterfangen, mit dem man die Türkei nicht unter Druck setzen, sondern nur noch mehr gegen sich aufbringen kann. Es ist nur logisch, dass der türkische Präsident unterschiedliche Antworten an Finnland und Schweden angekündigt hat.“ Erdogan demonstriere damit auch, dass er nicht willens sei, ein Bauernopfer im großen geopolitischen Spiel zu sein, erklärt der russische Parlamentarier. Ankara beabsichtige, bei der Festlegung der Regeln beteiligt zu sein. 5

Welche Zugeständnisse Erdogan Finnland für einen Beitritt noch abverlangen und wann eine Zustimmung erfolgen könnte, ist offen. In den vergangenen Monaten hatte die türkische Führung ja bereits Bedingungen gestellt, bei denen die Länder ihr Entgegengekommen zeigten, etwa in puncto Waffengeschäfte. Auf eine Aufhebung des Waffenembargos hatten sich Finnland, Schweden und die Türkei schon im Juni 2022 verständigt. 6

Eine Entscheidung in der Frage des NATO-Beitritts eines oder beider Länder ist in nächster Zeit wohl nicht zu erwarten. Hierbei spielt nicht nur das abgesagte Treffen der türkischen Führung mit Finnland und Schweden eine Rolle, das ursprünglich für Anfang Februar angesetzt war. Entscheidender könnte sein, dass es für die Zustimmung der Türkei zu einer NATO-Norderweiterung einer Ratifizierung durch das türkische Parlament bedarf. Wird sich dieses aber jetzt, in der heißen Phase des Wahlkampfs, mit dermaßen weitreichenden Entscheidungen befassen?Anfang Mai wird es voraussichtlich das letzte Mal vor den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zusammentreten, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf den 14. Mai vorziehen will. Welche Regierung in Ankara danach im Amt sein und wie sie die Frage des Beitritts von Finnland und Schweden zum Verteidigungsbündnis behandeln wird, ist unklar. 7 Während also ein Aufschub der Entscheidung um weitere Monate als wahrscheinlich erscheint, könnten die beiden skandinavischen Länder aber auch neue Hoffnung schöpfen, dass Erdogan mit der vorgezogenen Wahl einen Monat früher abgelöst werden und eine neue türkische Regierung in Sachen NATO-Norderweiterung eine andere Linie fahren könnte.

Machterhalt um jeden Preis: Vorgezogene Wahlen im Mai

Während er auf dem internationalen Parkett das Gewicht der Türkei weiter auszubauen sucht, gilt es für Erdogan im eigenen Land, seine Macht zu erhalten. Wegen der schlechten Versorgungslage und der galoppierenden Inflation, die im vergangenen Jahr Rekordwerte erreichte, waren die Zustimmungswerte für den Präsidenten und seine AKP zuletzt immer weiter nach unten gegangen. Nun steuert Erdogan offensichtlich gegen. Neben verschiedenen Erleichterungen für die Bevölkerung, die er in den zurückliegenden Wochen beschlossen hatte – etwa die Verdoppelung des Mindestlohns oder die Aufhebung der Altersgrenze für rund zwei Millionen Beschäftigte, die damit früher in Rente gehen können – ist es die Vorverlegung der regulär für Juni angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den 14. Mai. Diese will Erdogan am 10. März ausrufen. Als offizielle Begründung für die vorgezogenen Wahlen nannte die Regierung den Fastenmonat Ramadan und die Ferienzeit, in die der ursprüngliche Wahltermin sonst fallen würde.

Laut der türkischen Verfassung können vorgezogene Wahlen entweder mit mindestens 60 Prozent der Abgeordnetenstimmen im Parlament oder per Dekret durch den Präsidenten angeordnet werden. Da das Regierungsbündnis aus AKP und der ultranationalistischen MHP im Parlament nur über eine einfache Mehrheit verfügt, kann es ohne die Opposition keine vorgezogenen Wahlen veranlassen. Daher will Erdogan diese per Dekret im Alleingang durchsetzen. Die Opposition sieht in der Kandidatur Erdogans einen Verfassungsbruch, weil er nach Kandidaturen in den Jahren 2014 und 2018 nur dann zum dritten Mal kandidieren dürfte, wenn das Parlament die Neuwahlen anordnete. Die Regierung hält dagegen, dass Erdogan 2018 nach einer Verfassungsänderung als erster Präsident in einem neuen Präsidialsystem gewählt wurde und es somit erst seine zweite Kandidatur ist. 8

Die Aussichten für Erdogan und die Regierungspartei AKP sind derzeit aber nicht unbedingt rosig. Erstmalig gilt Erdogans Wiederwahl als unsicher. Nur etwa 45 Prozent der Wähler sind mit seiner Amtsführung zufrieden. Da die Opposition noch keine Kandidaten bekanntgegeben hat, ist ein echter Vergleich aber schwierig. Die Erhebungen zu den für den gleichen Tag angesetzten Parlamentswahlen scheinen jedoch zu bestätigen, dass die Regierung mit der AKP an der Spitze an Zustimmung eingebüßt hat. Das zeigte sich in den sinkenden Umfragewerten des vergangenen Jahres, aber auch die jüngsten Erhebungen machen den Abwärtstrend deutlich. So kommt die AKP in einer repräsentativen Umfrage zur Parlamentswahl, die bis zum 5. Januar 2023 durchgeführt wurde, zwar immer noch als stärkste Partei raus, bekommt aber gerade einmal 32 Prozent der Stimmen. Zum Vergleich: Bei den türkischen Parlamentswahlen 2018 erzielte die AKP noch 42,6 Prozent. Die größte Oppositionspartei CHP kommt derzeit auf 23,5 Prozent der Stimmen. Dahinter folgen die Iyi-Partei (19,1 Prozent), die kurdische HDP (7,3 Prozent), die MHP (6,2 Prozent) und die Deva P. (2,5 Prozent). 9

Ein Bündnis aus der patriotisch-linken CHP, der mitte-rechten Iyi-Partei und vier kleineren Oppositionsparteien hat angekündigt, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, auf den man sich bis heute jedoch noch nicht einigen konnten. Gute Chancen für eine Kandidatur werden Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu (CHP) bescheinigt, seine Beliebtheitswerte in der Bevölkerung sind allerdings nicht besonders hoch. Ein weiterer heißer Anwärter ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu (ebenfalls CHP). Außerdem im Gespräch sind Mansur Yavas (CHP) und Meral Aksener (Iyi-Partei). Das politisch sehr heterogene Zweckbündnis, das Erdogans Ära an der Spitze der Türkei beenden will, hat angekündigt, im Februar seinen Präsidentschaftskandidaten zu benennen. Von Amtsinhaber Erdogan wurde es mehrfach scharf dafür kritisiert und dazu aufgefordert, endlich einen Namen bekanntzugeben. Die Kurdenpartei HDP hat angekündigt, einen eigenen Kandidaten ins Rennen zu schicken. 10

Wer wird im Mai übrig sein?

Während Erdogan den vorgezogenen Wahltermin offenbar durchsetzen will, weil er darauf setzt, dass sich das oppositionelle Bündnis in der wenigen verbleibenden Zeit nicht gut genug organisieren können wird, um den Sieg der AKP und seinen eigenen zu gefährden, verfolgt er parallel offenbar die Strategie, die aussichtsreichsten Herausforderer vorzeitig aus dem Rennen zu nehmen.

Dem wohl aussichtsreichsten Rivalen Erdogans, Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu, droht nach einem Gerichtsurteil, das Ende 2022 ergangen ist, ein Politikverbot. Wegen Beleidigung verurteilte ihn ein Istanbuler Gericht zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft. Konkret wird dem CHP-Politiker vorgeworfen, die Mitglieder der türkischen Wahlbehörde im Nachgang der Kommunalwahlen 2019 als „Idioten“ bezeichnet haben. Imamoglus Anwalt Kemal Polat bezeichnete die Vorwürfe als „gegenstandslos“ und erklärte, die Aussage seines Mandanten habe sich nicht gegen die Wahlbehörde gerichtet, sondern sei eine Reaktion auf eine Beleidigung seitens des Innenministers gewesen. Das Urteil gegen Imamoglu wurde im In- und Ausland scharf kritisiert. Die türkische Opposition bezeichnete es als „politisch motiviert“ und das deutsche Auswärtige Amt nannte es in einem Tweet einen „herben Rückschlag für die Demokratie“. Für FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff ist das Urteil eine „Farce“. Er ist überzeugt: Erdogan will vor den Präsidentschaftswahlen alle ernst zu nehmenden politischen Konkurrenten aus dem Weg räumen. Imamoglu selbst bezeichnete das Urteil als „Schande“ für die türkische Justiz. Dem CHP-Politiker stehen Rechtsmittel zur Verfügung. Bis das Urteil rechtskräftig ist, kann Imamoglu sein Amt weiter ausüben. 11

Die drittgrößte türkische Partei, die prokurdische HDP, wird möglicherweise noch vor den Wahlen aus dem Rennen ausscheiden. Ihr droht ein Parteiverbot wegen des Vorwurfs, Verbindungen zu illegalen Gruppierungen wie der PKK zu pflegen. Anfang des Jahres hatte das türkische Verfassungsgericht die Konten der HDP blockiert. Damit muss die Kurdenpartei laut dem türkischen Sender TRT auf Staatsgelder in Höhe von umgerechnet 27 Millionen Euro im Wahlkampf verzichten. Die HDP wies die Vorwürfe zurück und bezeichnete das Einfrieren ihrer Konten als einen Versuch, einen „fairen, demokratischen Wahlprozess“ zu blockieren. Dass die türkische Regierung aktiv gegen die HDP vorgeht, kann seit Jahren beobachtet werden. So wurden mehrere HDP-Bürgermeister abgesetzt und Tausende Parteimitglieder inhaftiert und strafrechtlich verfolgt. 12 Selahattin Demirtas, der ehemalige Co-Vorsitzende der Oppositionspartei, sitzt seit 2016 in Haft. In dem Verfahren um ein Verbot der HDP wird das Urteil des Verfassungsgerichtes in Ankara noch vor dem vorgezogenen Wahltermin erwartet. Sollte die Partei tatsächlich verboten werden, könnten ihre Wähler möglicherweise dem Sechserbündnis die nötigen Stimmen für einen Wahlsieg einbringen. Immerhin konnte die HDP bei den letzten Parlamentswahlen vor fünf Jahren 11,7 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. 13

Als ein Instrument, unliebsame Meinungen und Akteure, darunter Oppositionelle und Journalisten, zu unterdrücken, bewerten internationale Beobachter zudem das am 13.10.2022 verabschiedete Gesetz gegen Desinformation. Demnach sollen kritische Meinungsäußerungen analog und digital sanktioniert werden, bei Verbreitung irreführender Nachrichten drohen bis zu drei Jahre Haft. Schon das „liken“ regierungskritischer Nachrichten in den sozialen Netzwerken kann mit einer Haftstrafe geahndet werden. 14

Quellen

1https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erdogan-nato-beitritt-finnlands-ohne-schweden-moeglich-18641235.html

2https://www.dw.com/de/erdogan-bremst-die-nato-erweiterung-aus/a-64505080

3https://www.dw.com/de/erdogan-bremst-die-nato-erweiterung-aus/a-64505080

4https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_100120184/nato-erweiterung-erdogan-deutet-zustimmung-zu-finnlands-nato-beitritt-an.html

5https://news-front.info/2023/01/31/postavil-na-mesto-v-gosdume-objasnili-zhestkoe-dlja-shvecii-reshenie-jerdogana-po-nato/

6https://www.merkur.de/politik/tuerkei-erdogan-finnland-nato-schweden-embargo-treffen-ankara-minister-forderung-fra-91961568.html

7https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erdogan-nato-beitritt-finnlands-ohne-schweden-moeglich-18641235.html

8https://dtj-online.de/sechser-tisch-erneute-kandidatur-von-erdogan-unzulaessig/

9https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1339767/umfrage/umfragen-zur-parlamentswahl-in-der-tuerkei-2023/

10https://dtj-online.de/sechser-tisch-erneute-kandidatur-von-erdogan-unzulaessig/

11https://www.tagesspiegel.de/internationales/erdogans-schachzug-politikverbot-und-haftstrafe-fur-moglichen-rivalen-imamoglu-9034678.html

12https://dtj-online.de/tuerkei-im-wahljahr-hdp-konten-gesperrt-verbot-nur-noch-frage-der-zeit/

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13https://dtj-online.de/tuerkei-hdp-koennte-noch-vor-den-wahlen-verboten-werden/

14https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1339767/umfrage/umfragen-zur-parlamentswahl-in-der-tuerkei-2023/

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