Innenpolitik

Bundeswehr: „Einfach keine Lust mehr“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von REDAKTION, 2. August 2011 –

Das Verteidigungsministerium reagiert gelassen auf Meldungen, denen zufolge viele der freiwilligen Rekruten die Bundeswehr schon wieder verlassen haben. „Wir sind nicht besorgt“, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Montag in Berlin. Die Bild-Zeitung hatte am Montag unter Berufung auf den Bundeswehrverband berichtet, dass 440 von den 3.419 Freiwilligen, die Anfang Juli ihren Dienst angetreten hatten, wieder ausgeschieden seien. „Das entspricht ungefähr den Ausfällen, die wir auch zur Zeit der Wehrpflicht hatten“, sagte der Chef des Bundeswehrverbandes Ost, Uwe Köpsel, der Zeitung.

Eine fragwürdige Aussage, schließlich konnte ein Wehrpflichtiger nicht einfach ohne Angaben von Gründen kündigen, wie es derzeit für beide Seiten während einer sechsmonatigen Probezeit des Freiwilligen-Dienstes vorgesehen ist.

Auch der Sprecher des Verteidigungsministeriums nannte die Anzahl der Abgänge vertretbar. Sie seien zu erwarten gewesen. Es gebe auch Fälle, in denen die Bundeswehr Rekruten wegen Untauglichkeit nach Hause geschickt habe. Andere Rekruten quittierten den Dienst, weil sie lukrativere Jobangebote erhalten hätten. Manche hätten auch einfach keine Lust mehr.

Erste genaue Statistiken liegen dem Verteidigungsministerium im Oktober vor. Verlässliche Daten habe man dann zum Jahresende, wenn die Probezeit für die erste Generation der Freiwilligen ausläuft. Insgesamt rückten 3.400 Freiwillige am 4. Juli nach dem Ende der Wehrpflicht in die Kasernen ein. Zusammen mit ihnen gehören der Bundeswehr fast 14.000 freiwillig Wehrdienstleistende an. Rund 4.800 hatten ihren Dienst schon im ersten Halbjahr 2011 noch zu den alten Konditionen angetreten. Zudem verlängerten rund 5.700 Wehrpflichtige ihren eigentlich sechsmonatigen Dienst.

Bereits die Rekrutierung der Freiwilligen war alles andere als eine Erfolgsgeschichte.

Von 498.000 jungen Männern, die im März und April angeschrieben wurden, hatten nach Angaben des Verteidigungsministeriums nur rund 1.800 – weniger als ein halbes Prozent – Interesse geäußert.

Ein Grund dafür, dass jeder achte Freiwillige den Dienst wieder quittiert hat, sei auch in der Werbung für den neuen Dienst zu finden, der überzogene Erwartungen wecke.

Der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold kritisierte die Werbung für den neuen Dienst. Diese sei nicht ehrlich gewesen. „Es wurde suggeriert: Komm zur Bundeswehr und dann stehen dir alle Türen offen“, erklärte er zu den bisherigen Werbemaßnahmen. „Das war eine Werbung für Technikbegeisterte, doch nicht jeder wird Tornadopilot.“ (1)

CDU-Verteidigungsexperte Ernst-Reinhard Beck forderte, „die Aufklärungs- und Informationsarbeit zu verstärken“. (2) Dabei ging die Abschaffung der Wehrpflicht und die Etablierung einer Freiwilligen-Armee bereits mit einem „beispiellosen Werbefeldzug an der Heimatfront“ einher. (3) Bundeswehr-Werbebusse touren durch das ganze Land, an Schulen und Jobcentern wird fleißig für eine militärische Karriere geworben. Selbst traditionelle Weinfeste bleiben nicht davon verschont, als Rekrutierungsplattform missbraucht zu werden. (4)

Angesichts der vielen Abgänge mahnte ein Sprecher des Bundeswehrverbands an, „noch ehrlicher mit den Anforderungen und Risiken des Soldatenberufs umzugehen“. (5)

Ein ehrlicher Umgang würde beinhalten, auf die Tatsache hinzuweisen, dass eine immer größer werdende Anzahl von Soldaten durch die im Einsatz erlittenen traumatischen Erlebnisse psychische Schäden davon trägt. Über eintausend Afghanistan-Heimkehrer leiden an Posttraumatischen Belastungsstörungen.

Diese Störungen drücken sich in quälenden Erinnerungen an das Erlebte, Depressionen, Reizbarkeit, Wutausbrüchen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Angstzuständen, Suchtproblemen und Vereinsamung aus. Viele können aufgrund dieser Belastungen nicht mehr am normalen gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

In einer von der TU Dresden im Auftrag des Sanitätsdienstes der Bundeswehr durchgeführten Studie heißt es, dass Soldaten durchschnittlich in ihrer Einsatzzeit (im Mittel vier bis fünf Monate) mehr als 20 „ belastende einsatzbezogene Ereignisse“ erfahren, zu denen „Kampf-, Verletzungs- und Todeskonfrontationen“ zählen . „Kampftruppen in Kundus nahezu doppelt so häufig wie andere Truppenteile und an anderen Standorten. 50 Prozent dieser belastenden Ereignisse erfüllten die Studienkriterien für sogenannte ‚traumatische Ereignisse’. Ein hoher Anteil der Soldaten und Soldatinnen erlebte multiple traumatische Ereignisse.“ (6)

Die Studie bezieht sich auf den Zeitraum des Jahres 2009. Seitdem dürfte sich aufgrund der gestiegenen Kampfhandlungen die Anzahl der traumatisierenden Ereignisse noch erhöht haben. Bei dem Phänomen der Posttraumatischen Belastungsstörung ist zudem von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Denn viele Soldaten wollen vor ihren Kameraden nicht als „Weichei“ gelten, wie es Ulrich Kirsch, Bundesvorsitzender des Bundeswehrverbandes, einmal ausdrückte. (7)

Ein ehrlicher Umgang würde auch die Tatsache nicht verschweigen, dass durch den Dienst an der Waffe mitunter Zivilisten zu Tode kommen, wie beispielsweise im Mai 2011 während einer Demonstration vor einem Bundeswehrcamp in der nordafghanischen Provinzhauptstadt Talokan. (8)

In zukünftigen Werbefilmen sollte auch der Hinweis nicht fehlen, dass der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zwar von einer großen Mehrheit des deutschen Parlaments getragen wird, aber von einer ebenso großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung abgelehnt wird. Was die Frage aufwirft, wessen Willen die Parlamentarier – und damit auch die Bundeswehrsoldaten – letztlich vertreten.


Anmerkungen

(1) http://www.welt.de/aktuell/article13521453/Verteidigungsministerium-bleibt-bei-Wehrdienst-Abbrecher-gelassen.html

(2) ebd.

(3) http://www.hintergrund.de/201102241383/politik/inland/kampf-um-die-koepfe.html

(4) http://www.hintergrund.de/201106111585/politik/inland/soldaten-unters-volk.html

(5) http://www.stern.de/politik/deutschland/ueber-440-bundeswehr-freiwillige-quittieren-dienst-kehrt-marsch-1712395.html

(6) http://tu-dresden.de/aktuelles/newsarchiv/2011/4/soldatengesundheit_pk/newsarticle_view

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(7) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,689243,00.html

(8) http://www.hintergrund.de/201105201551/globales/kriege/talokan-massaker-bundeswehr-gibt-gezielte-schuesse-auf-demonstranten-zu.html

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