Beinahe-Eisenbahnkatastrophe

Das Rastatt-Desaster

Beim Tunneleinbruch am 12. August wurde nur um Haaresbreite eine Eisenbahnkatastrophe vermieden

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Bahngleise (Symbolbild)
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Bei der Beinahe-Eisenbahnkatastrophe von Rastatt haben Bahn, Staatsanwaltschaft und Politik auf drei Ebenen versagt: (1) Die Deutsche Bahn (DB) wählte ein höchst problematisches Bauverfahren, das darüberhinaus ohne Zwang bei  vollem Eisenbahnbetrieb ausgeführt wurde. 2) Es gab nicht, wie fünf Wochen lang von der Bahn und dem Bundesverkehrsministerium behauptet, ein plötzliches „Schadensereignis“, dem eine sofortige Streckensperrung durch die DB folgte. Vielmehr senkte sich der Boden im Bereich der Tunnelarbeiten über einen längeren Zeitraum hinweg. Vor allem fuhren nach dem eigentlichen Tunneleinbruch noch 16 Minuten lang mehrere Züge über die Gefahrenstelle. (3) Die Tatsache, dass die Bundespolizei, die Staatanwaltschaft, das Eisenbahnbundesamt bzw. die Bundesstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung (BEU) keine Sicherung  des Unfallortes und keine erste Unfalluntersuchung einleiteten, ist skandalös. Auf diese Weise konnten die Verantwortlichen (DB AG und die in der ARGE zusammengefassten Bauunternehmen) Beweismittel beseitigen und eine unabhängige Untersuchung des Vorgangs extrem erschweren.

 

1. Riskantes Bauverfahren. Die Bahn und die ausführenden Baufirmen entschieden sich bei der erforderlichen Unterfahrung der Bestandsstrecke im Rastatter Stadtteil Niederbühl für ein einzigartiges Verfahren: Auf einer Länge von 205 Metern wurde der den Tunnel umgebende Erdboden mithilfe eines ringförmigen Vereisungskörpers stabilisiert. Die nach dem Rastatt-Fiasko vielfach seitens der DB AG vorgetragenen Behauptungen, das Verfahren sei „erprobt“, werden von der DB AG selbst widerlegt. In der swr aktuell-Sendung vom 3. August führte der DB-Bauingenieur Frank Roser aus, das gewählte Verfahren sei „insofern einzigartig […], dass eine Unterfahrung einer im Betrieb befindlichen Eisenbahnstrecke mit einer Tunnelvortriebsmaschine im Eiszylinder meines Wissens noch nie irgendwo in Deutschland bewerkstelligt wurde.” In einer Pressemitteilung der DB vom 24. Mai wird diese Unterfahrung ebenfalls als eine „ganz besondere Herausforderung“ bezeichnet.

Das Risiko wurde durch zwei Besonderheiten noch vergrößert. Erstens gibt es nur einen äußerst geringen Abstand zwischen der Tunneloberkante und der Oberfläche. Die DB spricht von „lediglich fünf Metern“ Distanz. Im Fachblatt Eisenbahn-Kurier (10-2017) heißt es, die „Überdeckung“ sei „abschnittsweise kleiner als fünf Meter“. Auf der Website von DB Netze (www.karlsruhe-basel.de/tunnelbau-tunnel-rastatt.html; abgerufen am 24. 9. 2017) heißt es sogar: „An einigen Stellen beträgt die Überdeckung des geplanten Tunnels weniger als vier Meter. Dies gilt für […] die Fußgängerunterführung Niederbühl.“ Letzeres war der Bereich des „Schadensereignisses“ (siehe unten).

Entsprechend griffen die DB bzw. die ARGE an anderen Abschnitten des Tunnelbaus zu erheblichen Hilfsmaßnahmen. Am 21.2. teilte die DB mit: „Um einen sicheren Vortrieb unter der [Landstraße] L77 hindurch zu ermöglichen, wird die Straße auf Höhe der Murgtalstraße temporär mit Erde aufgeschüttet.“ Am 13. 4. hieß es in einer DB-AG-Mitteilung: „Aufgrund der geringen Überdeckung wird der Sportplatz temporär mit Bodenmaterial aufgeschüttet.“ Aufschüttungen dieser Art sind ein Notbehelf, um einen teilweisen Ausgleich für die kritische  Überdeckung zu erreichen.

Zweitens wurde das Risiko massiv dadurch erhöht, dass die Unterfahrung der Bestandsstrecke während des Bahnbetriebs erfolgte. Eine besondere Gefahr ging dabei davon aus, dass von dem äußerst dichten Schienenverkehr – mit S-Bahnen, Regionalbahnen, IC/EC, ICE und Güterzügen – Schwingungen ausgehen, die dynamisch auf Gleisbett und Erdreich einwirken. Dies kann u.a. dazu geführt haben, dass die Vereisung nicht optimal funktionierte und der überwiegend aus Kies bestehende Erdboden sich lockerte.

Dabei war eine Unterfahrung bei laufendem Betrieb nicht notwendig. Die Leistung der eingesetzten Tunnelvortriebsmaschine (TVM) wird seitens der DB mit „bis zu 23 Metern“ pro Tag angegeben. Das heißt: Die rund 30 bis 40 Meter lange direkte Unterfahrung der Schienenverbindung einschließlich einer ersten Aushärtung des Betons konnte im Zeitraum eines Wochenendes, gegebenenfalls eines verlängerten Wochenendes, durchgeführt werden. Bei entsprechender rechtzeitiger Planung von Umleitungsverkehren hätten sich die Einschränkungen des Schienenverkehrs auf ein akzeptables Maß reduzieren lassen.

 

(2) Gab es wirklich nur ein plötzliches „Schadensereignis“?

Die DB behauptete direkt nach dem Bauunfall, es sei am fraglichen Samstag, dem 12. August, „gegen 11 Uhr“, zu dem plötzlichen Einbruch im Tunnel unter der Bestandsstrecke gekommen. Man habe dann sofort, und zwar exakt um „11.03 Uhr“, den gesamten Zugverkehr für beide Richtungen gestoppt. Diese Darstellung war definitiv unwahr.

Zunächst spricht vieles dafür, dass es einen länger anhaltenden Prozess der Gleisbettabsenkung gab. Bereits am 3. August kam es laut Eisenbahn-Kurier „unmittelbar im Bereich der Unterquerung der Oströhre unter der Rheintalbahn zu einer Gleisverwerfung“. Die DB versuchte dies, so der Bericht, durch „Handstopfarbeiten“ im Schotterbett zu beheben. Ein Monat vor dem Baustellenunfall wurde die DB über YouTube von „Trainboy 111143146“ über Auffälligkeiten im betreffenden Bahnabschnitt hingewiesen (Bericht Deutsche-Verkehrs-Zeitung v. 18.8.2017). Die DB bedankte sich explizit für diese Information.

Vor allem steht inzwischen fest: Die DB verschwieg der Öffentlichkeit bewusst, dass nach dem Tunneleinbruch mehr als eine Viertelstunde lang Züge über die Gefahrenstelle rollten. Auf der Pressekonferenz der DB am 15. August, an der der DB AG-Konzernbevollmächtigte für Baden-Württemberg, Sven Hantel, und Bahnsprecher Jürgen Kornmann teilnahmen, (Bericht Badische Zeitung vom 15. August), sagte der genannte Bahnsprecher, man wisse nicht, welcher Zug als letzter über den dann gefährdeten Gleisabschnitt rollte. Das war bereits unglaubwürdig; im Schienenverkehr wird jede Zugfahrt sekundengenau registriert. Inzwischen musste die Bundesregierung in der Beantwortung eines Fragenkatalogs des MdB Matthias Gastel und der Grünen-Bundestagsfraktion eingestehen: „Nach Mitteilung der DB AG stellte der Schicht-Ingenieur am 12.8.2017 um 10.47 Uhr Wassereintritt im Tunnel fest. Nach Bewertung des Schadens und Abstimmung mit dem  Bauleiter informierte dieser um 11.02  Uhr den Fahrdienstleiter über das Ereignis. Die Streckensperrung erfolgte […] um 11.03 Uhr.“ (Drucksache 18/13475).

Es fuhren demnach nach „Schadensereignis“ noch 16 Minuten lang Züge über die sich senkenden Gleise; nach Angaben der Bundesregierung war dies als letzter aus Richtung Karlsruhe – Basel der „Güterzug Bau 94701 gegen 10.53 Uhr“ und in Fahrrichtung Basel – Karlsruhe der „Regionalzug DPN-L 85543 um 11.03 Uhr“.

Dass generell die gewählte Bauweise, wie oben beschrieben, problematisch war, zeigt die Mitteilung seitens der DB AG, hier zusammengefasst im Eisenbahn-Kurier-Bericht, wonach  „zwei Tage“ nach dem eigentlich Einbruch „eines der Tübbing-Segmente [Betonbauelemente der Tunnelwände; W.W.) um ca. 50 Zentimeter ein(sackte).“ Nach Angaben der mit dem Bau beauftragten Baufirmen war – so weiter der EK-Bericht – „dieses Segment schon seit einer Woche verbaut. Der Ringspaltmörtel hätte hier demnach den Tübbingsegmenten längst festen Halt geben müssen. Der Eintritt von Wasser und die Verformungen des Tübbingrings hätten so nicht passieren dürfen.“  Hätte, hätte, Zufallskette.

 

Fußgängertunnel übersehen?

Nach Berichten aus dem DB-Bereich, die dem Autor vorliegen, spielt in den aktuellen Debatten über den Unglückshergang die ehemalige Fußgängerunterführung in der Nähe der Tunneleinsturzstelle eine wichtige Rolle. Diese Unterführung wurde Anfang 2016 geschlossen und laut Angaben der Bahn „mit Kies verfüllt“. Sie sollte eigentlich 2018, nach Vollendung der Bauarbeiten, wieder geöffnet werden.

Hier stellen sich die Fragen: Wurde die konkrete Beschaffenheit der Unterführung einschließlich ihrer Ummantelung ausreichend untersucht? War Kies die geeignete Verfüllung? War die Verfüllung ausreichend dicht? Konnte die Vereisung in diesem Bereich ausreichend wirken?

Die DB bzw. die von dieser beauftragte ARGE scheinen die Unterführung als Schwachstelle identifiziert zu haben. In einer Presseinformation von DB Netze, datiert auf den 2. Juni 2017, wird darüber berichtet, dass „in der Nacht von Montag, 5. Juni […] auf Dienstag, 6. Juni […] in Rastatt-Niederbühl im Bereich der Fußgängerunterführung […] die Lage der Gleise angepasst“ werde. In einer weiteren DB-Netze-Pressemitteilung, datiert auf den 5. Juli, heißt es, „im Bereich der Fußgängerunterführung in Niederbühl“ werde in Form „von Stopfarbeiten“ der „Schotteroberbau der Gleise ausgebessert“; dies erfolge „in einem Bereich von jeweils rund 60 Meter vor und hinter der Fußgängerunterführung.“

Es gab also eine beinahe liebevolle Intensivbetreuung des kleinen Streckenabschnittes, an dem dann dennoch der Einbruch stattfand.

Eine Erklärungsvariante für das Unglück, die die Unterführung im Zentrum sieht, lautet: Die Tunnelvortriebsmaschine (TVM) wich aufgrund eines unerwarteten Druckunterschieds im Bereich des Bohrschildes – weil die TVM z.B. auf die Betonwände der Unterführung gestoßen war oder weil wegen eines Hohlraums ein deutlich reduzierter Gegendruck registriert wurde – um rund 25 Zentimeter vom geplanten Kurs aus der Längsachse ab. Zu einer solchen Kursabweichung kann es auch ohne menschliches Tun gekommen sein. Durch das Abdrehen der Tunnelvortriebsmaschine wurden hinter derselben Tübbinge so beschädigt, dass diese dem Erd- und Grundwasserdruck nicht mehr standhielten. Es folgte der Einbruch von Kies und Wasser.

(3) Wo waren Bundespolizei, Staatsanwaltschaft und Eisenbahn-Bundesamt?

Das Rastatt-Desaster kommt einem schweren „Eingriff in den Bahnverkehr“ gleich, was nach Strafgesetzbuch StGB 315 mit erheblichen Strafen bewehrt ist. In den Abschnitten (5) und (6) dieses Paragrafen drohen auch ausdrücklich im Fall von fahrlässigem Handeln erhebliche Strafen.  Der in Rastatt entstandene Schaden muss am Ende überwiegend vom Steuerzahler beglichen werden; es geht um hunderte Millionen Euro. Trotz der dramatischen Umstände und der hohen Schadenssummen wurde keine Bundespolizei eingeschaltet. Keine Staatsanwaltschaft nahm sich der Sache an. Die offiziellen Sicherheitsbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt und die Bundesstelle für Eisenbahn-Unfalluntersuchung (BEU)  erklärten sich für nicht zuständig (da es keinen Personenschaden gegeben habe).

Nun erklären die Bundesregierungen und die DB AG selbst regelmäßig, die Bahn sei Aktiengesellschaft und keine Staatsbahn (mehr). Dennoch konnte die privatwirtschaftliche Aktiengesellschaft in Rastatt im Eilverfahren Beweismittel verschwinden lassen, so die  Tunnelvortriebsmaschine „Wilhelmine“, die „das Schadenereignis“ verursacht hatte, und die einbetoniert wurde. So die stark durchgebogenen Schienen. Damit konnten diejenigen, die das „Schadensereignis“ verursachte hatten, die Unglücksstelle so umgestalten, dass eine seriöse Untersuchung des Tunneleinbruchs kaum mehr stattfinden kann.

Damit wurde es auch unmöglich gemacht, Maßnahmen zu ergreifen zur Reduktion des Schadens. In einem Offenen Brief an Verkehrsminister Dobrindt und an die EU-Verkehrskommissarin Bulc, veröffentlicht als ganzseitige Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. September, schrieben mehr als ein Dutzend Spediteure, Interessensverbände und Umweltorganisationen: „Es ist für viele Experten nicht nachvollziehbar, warum die Vollsperrung nicht durch den Bau einer behelfsmäßigen, einspurigen Ersatzstrecke unmittelbar nach der baubedingten Beschädigung der Rheintalbahn vermieden bzw. deutlich verkürzt werden konnte.“

Der Bahnkonzern will nicht nur den Schadensort mit Beton, sondern jede weitere Diskussion deckeln. Offensichtlich sollen auch alle Debatten über den erwähnten Fußgängertunnel abgewürgt werden. So ließ die DB Ende August mitteilen, „die Fußgänger-Unterführung an der Baugrube im Ortsteil Niederbühl“ müsse „abgerissen“ werden.

 


 

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Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21. Von ihm erschien Ende Juli das Buch abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern (320 Seiten, PapyRossa, 16,90 Euro). Der Autor reichte gemeinsam mit Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., und Rechtsanwalt Dr. Eisenhart von Loeper in Sachen Rastatt Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Baden-Baden gegen die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn AG und bei den beauftragten Baufirmen ein.

 

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