Innenpolitik

… denn sie wissen nicht, was sie tun?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Folter mit Todesfolge an dem mutmaßlichen Drogendealer Achidi John bis heute ungesühnt –

Von SUSANN WITT-STAHL, 12. Dezember 2011 –

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte im Sommer 2006 festgestellt, dass Deutschland mit der Zwangsverabreichung von Brechmitteln an mutmaßliche Drogenhändler gegen das Folterverbot verstoßen hat. Für den damals 19-jährigen Nigerianer Achidi John kam diese Entscheidung viel zu spät. Er starb heute vor zehn Jahren in Rechtsmedizinischen Institut des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf (UKE). Die Verantwortlichen wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen.

Eine Szene wie sie sich ebenso in den Folterkellern südamerikanischer Militärjunten abspielen könnte: Polizisten zerren einen gefesselten jungen Mann in den Behandlungsraum. Der schreit mehrmals: „Ich werde sterben!“ Seine Peiniger beeindruckt das nicht. Sie drücken ihn brutal zu Boden. Er wehrt sich verzweifelt. Ärzte versuchen vergeblich, ihm eine Magensonde einzuführen. Schließlich gelingt es, ihm den Brechwurzelsirup Ipecacuanha durch die Nase zu verabreichen. Plötzlich liegt John leblos da. Herzstillstand. Erst nach einigen Minuten beginnen die Ärzte, die zunächst von einer „Simulation“ ausgegangen waren, mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Die gelingen. Aber John wird nicht mehr aufwachen – drei Tage später hört sein Herz für immer auf zu schlagen.  

Achidi Johns Tod sei wegen einer bestehenden Herzerkrankung „schicksalhaft“ gewesen, begründete die zuständige Staatsanwaltschaft in Hamburg später ihre Entscheidung, keine Ermittlungen gegen die Verantwortlichen aufzunehmen. Johns Eltern strengten ein Erzwingungsverfahren an. Der Antrag  wurde abgelehnt, weil die Staatsanwaltschaft den Beteiligten, ohne sie anzuhören, einfach unter dem Motto „denn sie wissen nicht, was sie tun“, einen entlastenden „Verbotsirrtum“ zugestand. „Eine ebenso absurde wie konstruierte Unterstellung“, meint Rechtsanwalt Martin Klingner, der mit dem Fall befasst war. „Juristisch ist so ein Vorgehen nicht erklärbar. Hier fehlte schlichtweg der politische Wille, tätig zu werden.“

Klaus Püschel: Auch der Leiter der Rechtsmedizin im Hamburger UKE gehört zu den Beschuldigten.

Als der EGMR fünf Jahre später – von den Medien weitgehend verschwiegen – festgestellt hatte, dass Brechmitteleinsätze als eine Form staatlich angeordneter Folter zu werten ist, erstattete Klingner zusammen mit den Mitgliedern der Hamburger Kampagne gegen Brechmitteleinsätze bei der Generalbundesanwaltschaft Anzeige wegen Körperverletzung und Nötigung im Amt bzw. wegen Anstiftung zu diesen Straftaten in den mehr als 500 anderen Fällen von Brechmitteleinsätzen in der Hansestadt. Unter den Beschuldigten sind neben dem Leiter der UKE-Rechtsmedizin Klaus Püschel, den beteiligten Ärzten und Polizeibeamten, den untätigen Staatsanwälten auch Senatoren. Sie alle hätten vorsätzlich die Europäische Menschenrechtskonvention missachtet und „diese unglaublich erniedrigende Prozedur“ angewendet, begründete Klingner sein Vorgehen und sprach von „einen der schwersten Fälle von organisierter Regierungskriminalität in der Geschichte der Bundesrepublik“.  

Der prominenteste unter den mutmaßlichen Mitverantwortlichen für die Tortur mit Todesfolge ist Hamburgs regierender Bürgermeister Olaf Scholz (SPD). Als der rot-grüne Senat 2001 im Wahlkampf gegen den Rechtspopulisten Ronald Schill dramatisch an Boden verlor, wollte Scholz, damals noch Innensenator, die Law-and-Order-Qualitäten seiner Partei beweisen und hatte mit Unterstützung der Zweiten Bürgermeisterin

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Mitverantwortlich für die Tortur mit Todesfolge: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz.

Krista Sager (GAL) die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln als Beweissicherungsmaßnahme durchgesetzt.

Nach dem EGMR-Urteil wurden diese Einsätze eingestellt. Aber die begangenen Straftaten blieben ungesühnt. Denn die Generalbundesstaatsanwaltschaft hatte den Fall zurück an die zuständige Behörde in Hamburg geleitet. Die schmetterte Klingners Strafanzeige mit der abenteuerlichen Behauptungen ab, die Täter hätten sich in einer Art Befehlsnotstand befunden. So ein juristischer „Dammbruch“ sei ein gefährliches Signal der „Erosion von Minimalstandards der bürgerlichen Gesellschaft“, warnt Klingner. Sein Mitstreiter Pastor a.D. Christian Arndt will sich damit nicht abfinden. Er fordert von seiner Partei: „DIE LINKE und ihre Bürgerschaftsfraktion sollten sich unbedingt dafür einsetzen, dass die von Olaf Scholz eingeführten Menschenrechtsverletzungen und der Foltertod juristisch und politisch aufgearbeitet werden.“

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