Innenpolitik

Spaltung der Gesellschaft schreitet voran

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Studie zu „Deutschen Zuständen“ offenbart wieder zunehmende Diskriminierung von Fremden und sozial Schwachen. Forscher beklagen „Klassenkampf von oben“. –  

Von RALF WURZBACHER, 13. Dezember 2011 –

Eine Studie zur rechten Zeit. Während sich täglich immer deutlicher herausstellt, wie rechte Terroristen über Jahre hinweg unbehelligt von Fahndern und Justiz rassistisch motivierte Morde begehen konnten, hat jetzt die Wissenschaft eine dazu passende Erkenntnis geliefert: Die Diskriminierung von Minderheiten in Deutschland nimmt wieder zu. Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus, Rassismus sowie die Abwertung von Arbeitslosen und Behinderten haben sich in den letzten Jahren deutlich verstärkt. So lauten zentrale Ergebnisse der Langzeituntersuchung „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die ein Forscherteam um den Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer am Montag in Berlin vorgestellt hat.

Die im zehnten und vorerst letzten Band über Deutsche Zustände zusammengetragenen Befunde spiegeln eine bedrückende Entwicklung wider. Die Autoren erkennen eine wachsende Spaltung einer durch permanente Krisen verunsicherten Gesellschaft. „Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität“ seien zur „neuen Normalität“ geworden, die „Nervosität“ scheine über alle sozialen Gruppen hinweg zu steigen. Den Verfassern bereitet das Sorge: Zwar sei „bislang keine Kumulation der Effekte“ eingetreten. Dafür hätten sich die Krisen „massiv verdichtet“ und keine einzige sei gelöst, sondern „bestenfalls prozessiert“ worden. Am Ende des „entsicherten Jahrzehnts“ sehen die Autoren eine „explosive Situation als Dauerzustand“.

Von 2002 an hat das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld im Jahrestakt repräsentativ 2000 Deutsche zu ihren Einstellungen und Befindlichen befragt, um den Grad des Mit- oder Gegeneinanders in der Bevölkerung zu ermitteln. War die Verbreitung der Fremdenfeindlichkeit lange Zeit rückläufig, zeigt sich seit 2009 wieder eine signifikante Zunahme von rassistischem Gedankengut. So hätten der Aussage „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“, in diesem Jahr 29,3 Prozent der Befragten zugestimmt, fünf Prozent mehr als im Vorjahr. 47 Prozent sind der Auffassung, es lebten zu viele Ausländer in Deutschland. Der Sehnsucht nach einer homogenen, nationalen Gemeinschaft hängt also noch nahezu die Hälfte der Bevölkerung nach, wenngleich der Wert im Jahr 2002 noch bei 59 Prozent lag.   

Dazu kommt eine wieder stärkere Stigmatisierung von Erwerblosen und Menschen mit Behinderungen. Über 52 Prozent meinen etwa, die meisten Hartz-IV-Bezieher drückten sich vor der Arbeitssuche, 35 Prozent halten es für angebracht, bettelnde Obdachlose aus den Fußgängerzonen zu entfernen. Obgleich die Islamfeindlichkeit rückläufig ist, fühlt sich „durch die vielen Muslime“ noch fast jeder Dritte „wie ein Fremder im eigenen Land“. Die Ansicht, „wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben“, teilen aktuell 54 Prozent der Befragten, im Vorjahr waren es zehn Prozent mehr.

Als „relativ abnehmend“ erachten die Wissenschaftler die Verbreitung von Antisemitismus, Homophobie und Sexismus. Aber immer noch 13 Prozent der Einheimischen glauben, „Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss“. Das sind zwar knapp neun Prozent weniger als 2002, entspricht aber dem Stand der Vorjahre. Einen Anstieg ermittelten die Forscher dagegen bei der Gewaltbereitschaft und -billigung. Die größte Gewaltbereitschaft zeigen mit großem Abstand Angehörige des rechten politischen Spektrums, während Linke der Gewalt am stärksten entsagen, deutlich mehr als in der politischen Mitte Orientierte.    

Zu den Ursachen für die erneut zunehmende Diskriminierung von Minderheiten trifft Heitmeyers Team sehr bemerkenswerte Aussagen. In einem Handout zur Studie ist die Rede von einer „rohen Bürgerlichkeit“, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische wie physische Integrität antastbar macht“. In einem bereits Ende September in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichten Beitrag hatte Heitmeyer über eine fortschreitende „soziale Spaltung und Desintegration“ sowie eine sich verschärfende Ungleichheit geklagt. Hintergrund sei ein „massiver Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik, verbunden mit einem ebenso großen Machtgewinn des Kapitals“. Ein von „oben inszenierter Klassenkampf“ werde über die rohe Bürgerlichkeit nach unten weitergegeben.

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Anfällig für Rechtspopulismus und Rassismus sind demnach vor allem die selbst von Abstiegsängsten betroffenen Mittelschichten, die den auf ihnen lastenden ökonomischen Druck durch „Abwertung und Diskriminierung von statusniedrigen Gruppen“ zu kompensieren suchten. Die Studienautoren konstatieren eine Mentalität bei Besserverdienenden, die von der grundgesetzlichen Maxime, wonach Eigentum verpflichtet, „wenig wissen will und der sozialen Spaltung Vorschub leistet“. Dieser „Ökonomisierung des Sozialen“ entspringe so eine Sichtweise auf Menschen als „Nutzlose“ und „Ineffiziente“.

Apropos „Ökonomisierung“ – auch die Wissenschaft unterliegt immer mehr dem Zwang, „effizient“, sprich profitabel sein zu müssen. Dem fällt nun auch Heitmeyers Forschungsprojekt zum Opfer. Deutsche Zustände sind zum vorerst letzten Mal erschienen. Der bisher maßgebliche Finanzier, die VolkswagenStiftung, will nach zehn Jahren ihr Engagement beenden.

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