EU-Politik

Madame Chairman

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von GERD SCHUMANN, 24. Mai 2013 –

Zwölf Stunden lang haben die französischen Behörden Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds, am gestrigen Donnerstag verhört. Die 57-Jährige soll in ihrer Zeit als französische Wirtschaftsministerin (2007-2011) Beihilfe zur Veruntreuung öffentlicher Gelder geleistet haben, indem sie eine Zahlung von 400 Millionen Euro an den früheren Adidas-Haupteigner Bernard Tapie ermöglicht hat.

In Hintergrund Heft 4/2012 porträtierte der Berliner Journalist Gerd Schumann „Madame Chairman“ Lagarde. Auch auf die Vorwürfe in Zusammenhang mit dem Fall Tapie ging der Autor damals ein. Die aktuelle Entwicklung nehmen wir zum Anlass, den Artikel online zu veröffentlichen.

Von Hause aus heißt sie Christine Madeleine Odette Lallouette. Mit ihrer ersten Eheschließung 1982 übernahm sie den Nachnamen Lagarde, den sie bis heute trägt. Lagarde – die Wächterin.

Seit etwa 500 Tagen wacht die 56-jährige Französin über eine mächtige Institution, die nach Meinung des Wirtschaftsnobelpreisträgers 2001, Joseph Stiglitz, zumeist nach dem Motto agiert: „Was die Finanzwelt als gut für die Weltwirtschaft erachtet, ist gut für die Weltwirtschaft und sollte getan werden.“(1) In den nun etwa 500 Tagen nach dem 5. Juli 2011 – an diesem Tag trat Lagarde ihre Stelle als geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) an – gelangte die „charmante, aber knallharte Verhandlerin“(2) zu einer ähnlichen Auffassung: Sie verglich ihren neuen Arbeitgeber jüngst mit den Statthaltern des Römischen Imperiums in der damals bekannten Welt.(3)

Die Frage, so Lagarde in einer Journalistenrunde, was der Währungsfonds denn überhaupt treibe, erinnere sie an Das Leben des Brian. In dem Monty-Python-Streifen möchte ein judäischer Widerstandskämpfer von seinen Anhängern wissen, was denn „die Römer für uns“ so getan hätten. Lagarde zitiert „lachend“, wie die FAZ bemerkte, deren Antwort: „Den Aquädukt, die sanitären Einrichtungen, die schönen Straßen (…).“ Ob indes die Griechen für ihren beinharten Humor Verständnis aufbringen werden, sei dahingestellt. Die Einordnung des IWF als imperiale Besatzungsmacht allerdings dürfte allgemein auf Zustimmung stoßen. Tatsächlich wird die Juristin und ehemalige Ministerin unter Nicolas Sarkozy (2007-2011) mittlerweile schon mal als „souveräne Hüterin der Weltkonjunktur“(4) bezeichnet, als „Super Woman“(5) oder gar – mit Fragezeichen versehen – als the „world‘s sexiest woman“.(6)

Im Würgegriff

Etiketten sind schnell verteilt und verdecken häufig das Wesentliche, das da wäre: Madame Lagarde ist eine einzigartige Vertreterin des kapitalistischen Imperiums, eine exzellente Managerin auf globaler Ebene, Mitglied einer kleinen, handverlesenen wie gefährlichen Elite, die in allem, was sie tut, die uneingeschränkte Weltherrschaft anstrebt. Diese Elite bestimmt über den IWF wie auch über dessen Zwillingsschwester, der Weltbank. Beide angesiedelt in Washington, beide führend umtriebig in der internationalen Finanzpolitik, beide UN-Sonderorganisationen. Kurzum: Beide sind zuständig für die neoliberale Durchsetzung der Privatwirtschaft. Durch Vergabe von Geldern und spätestens mit deren Eintreibung nehmen sie ihre Klienten, die Hungerleider des Südens, krakenartig in den Würgegriff, pressen sie aus und drücken sie so lange, bis diese die verlangten Auflagen umsetzen.

Ihre Chefposten reservieren diese Superinstitute seit ihrer Gründung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges einerseits den USA, die für die Weltbank zuständig sind, zum anderen den Westeuropäern unter deutsch-französischer Führung. Diese Machtzentren des Kapitals verfügen über etwa 39 Prozent der Anteile; jedes für sich besitzt eine Sperrminorität, mit der notfalls unbotmäßige Vorhaben der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer blockiert werden können, was deswegen kaum erforderlich ist, weil ein Netz von Abhängigkeiten Eigeninitiativen der insgesamt 187 Mitgliedsländer verhindert. „One country – one vote“ gilt im IWF nicht, eher „one dollar – one vote”. Eine „Demokratie besonderen Typs“, wertete folglich der Entwicklungspolitiker Jean Ziegler trefflich.(7) Über Macht und Einfluss entscheidet die Größe eingesetzter Geldpakete. Als die Französin am 28. Juni 2011 für fünf Jahre von dessen 24-köpfigem Exekutivkomitee an die IWF-Spitze gewählt wurde, entsprach das also einer 60-jährigen Tradition: Die „überzeugte Europäerin“, so das Munzinger-Archiv, übernahm das Ruder – und nicht irgendein Kandidat aus der Peripherie.

Lagarde wurde schnell zum Gesicht des IWF in der Öffentlichkeit – gänzlich anders als ihre Vorgänger. An die erinnert sich kaum jemand, und wenn, dann nicht wegen des glanzlosen Jobs in dem hässlichen, zehngeschossigen Bürogebäude aus Stahl und Beton an der 19. Straße Nordwest in Washington/DC. Dominique Strauss-Kahn (2007-2011), den Lagarde ablöste, wäre als designierter Spitzenmann der Sozialisten fast französischer Präsident geworden, scheiterte dann jedoch an einer Sexaffäre. Mit dieser wird sein Name zukünftig verbunden bleiben. Dagegen wird Horst Köhler (2000-2004) noch dann und wann erwähnt werden im Zusammenhang mit seinem überraschenden Rücktritt als Bundespräsident.

„Der Rest der Welt“

Der „Preußin in Chanel“(9) war völlig klar, dass ihre Tätigkeit beim IWF von den globalen Turbulenzen und deren Auswirkungen auf die Herrschaftsverhältnisse geprägt werden würde. Dabei würde es nicht etwa um die Erforschung von Gründen der Desaster im Bankensektor seit 2007 und deren Verursacher an der Wall Street und an den westeuropäischen Börsen gehen, sondern ausschließlich um einen systemfreundlichen Umgang mit den unübersichtlichen Folgen. Die betrafen zweifelsohne auch Afrika. Also warnte sie in der nigerianischen Millionenmetropole Lagos – noch eher vage – vor „Ansteckungswegen zwischen den Industrieländern und dem Rest der Welt“. Die Handels- und Finanzverflechtungen wirkten in der Krise wie „Brandbeschleuniger“, stellte sie fest.

Taugliche Gegenmittel präsentierte sie nicht. Vielmehr machte Lagarde klar, dass sie den bisherigen IWF-Kurs nun noch konsequenter zu steuern und noch rigoroser durchzusetzen gedenke. Der hatte zwar bereits in der Vergangenheit ganze Nationen verelendet und würde nun zahlreiche neue Opfer fordern. Darüber schwieg der hohe Besuch in Abuja natürlich und lobte in Nigerias Hauptstadt lieber den antisozialen Kurs von Präsident Goodluck Jonathan sowie dessen persönliche „Energie“, die „Wirtschaft umzuformen“. Nigeria, Afrikas bevölkerungsreichstes Land, zugleich größter Erdölproduzent und diesbezüglich wichtiger Partner der USA sowie in der EU angesiedelter Energiekonzerne, brauche vor allem ein „besseres Management“ bei der Ausbeutung seiner enormen Ressourcen und eine „Reform des Finanzsektors“. Für den IWF sei der Staat am ressourcenreichen Golf von Guinea hierbei „ein Vorreiter in der Region“.(10)

Scharfrichter IWF

Lagardes Worten folgten zwei Wochen später scharfrichterliche Taten. Am 1. Januar 2012 verkündete Präsident Jonathan ohne Vorwarnung die sofortige Rücknahme aller Subventionen auf Treibstoffe. Innerhalb von Stunden erhöhten sich die Benzinpreise um das nahezu Dreifache von 65 Naira (35 US-Cent) auf 150 Naira (93 US-Cent) pro Liter. „Die Wirkung war in der ganzen Wirtschaft einschließlich der Preise für Getreide und Gemüse zu spüren.“ Das Land werde „systematisch in Chaos und einen bürgerkriegsähnlichen Zustand getrieben“, wertete der Publizist Frederick William Engdahl.(11)

Reuters meldete am 29.12.2011, dass der IWF „von Ländern West- und Zentralafrikas verlangt, Treibstoffsubventionen aufzuheben, da sie angeblich nicht effektiv als direkte Unterstützung der Armen sind, jedoch Korruption und Schmuggel förderten“. Die Regierungen von Nigeria, Guinea, Kamerun und dem Tschad hätten bereits die Subventionen gekürzt.(12) Für Engdahl stehen die „wahrscheinlichen Verlierer“ der IWF-Operation fest: China und die Bevölkerung Nigerias. Peking habe „seit Kurzem und nicht überraschend“ begonnen, „Vereinbarungen mit der Lagos-Regierung zur Exploration und Errichtung von Ölanlagen zu suchen“.(13) Das „Reich der Mitte“ könnte folglich zur echten Konkurrenz für Agip, Shell, Chevron, ExxonMobil und Texaco werden – wie in anderen Staaten Afrikas.

Chinas Kongo-Deal

Spektakulärstes Beispiel für diese Politik – und dafür, wie der IWF gegensteuert – ist die Demokratische Republik Kongo (DRK). Im Herbst 2007 war der Megadeal zwischen dem Land am Kongo-Fluss und der Volksrepublik China bekannt geworden. Es handelte sich dabei um ein Joint Venture, an dem drei chinesische Firmen zu 68 Prozent und das kongolesische Minenunternehmen Gécamines zu 32 Prozent beteiligt waren. Das Geschäft umfasste die Förderung von zehn Millionen Tonnen Kupfer und 600000 Tonnen Cobalt. Dafür würde die neue Gesellschaft neun Milliarden US-Dollar in die Infrastruktur investieren – ein Drittel zur Wiederherstellung der Minen, zwei Drittel in Verkehrswege – Straßen- und Eisenbahnnetz, Flughäfen – sowie die Errichtung von 31 Krankenhäusern, 145 Gesundheitszentren, 5000 Sozialwohnungskomplexen, zwei Wasserkraftwerken und zwei Universitäten. China würde das benötigte Geld zunächst einmal vorstrecken, sodass das Projekt direkt hätte in Angriff genommen werden können.

Der Vertrag war „das wichtigste Dokument für den Kongo seit dem Zehnjahresplan von 1949“, meint der Autor David van Reybrouck in seinem Buch Kongo. Eine Geschichte.(14) Das Land würde zu einer riesigen Baustelle werden, wobei alle Beteiligten profitierten. Präsident Joseph Kabila könnte der durch anderthalb Jahrzehnte Krieg geschundenen und ausgemergelten Bevölkerung demonstrieren, dass ihr der Reichtum an Bodenschätzen zugutekommen kann – anders als in den Jahrzehnten der Herrschaft von Mobutu Sese Seko (1965-1997), dem „Leopardenmützenmann“, der als Handlanger westlicher Konzerne Land und Leute bis aufs Hemd ausgeplündert und im Laufe seiner langen autokratischen Herrschaft die vorhandene Infrastruktur in allen Bereichen heruntergewirtschaftet hatte.

Nun stieg China ein, wollte zwar auch an die Schätze in der Provinz Katanga, versprach dafür jedoch – anders als alle Plünderer zuvor, die die Regierenden geschmiert und dafür günstige Ausbeutungskonditionen erhalten hatten – Entwicklung. Mit dem Deal war China zugleich auf gutem Wege, eine politökonomische Konzeption für die Beziehungen zum afrikanischen Kontinent zu etablieren, die mit der überkommenen neokolonialen Abhängigkeit brachen. Folglich gerieten IWF wie auch Weltbank in Aufruhr und veranstalteten einen Kassensturz, dessen Ergebnis dazu dienen sollte, den kongolesisch-chinesischenVertrag auszuhebeln.

13 Milliarden US-Dollar Schulden hatten sich während der Mobutu-Diktatur angehäuft – auf 4 Milliarden US-Dollar schätzte bereits Ende der 1980er Jahre die CIA allein das Vermögen des „Königs der Diebe“.(15) Jean Ziegler meinte 1997, allein auf Schweizer Konten hätte der Mobutu-Clan 4 Milliarden US-Dollar gebunkert.(16) Kein Cent davon floss zurück an den Kongo – und wird es auch zukünftig nicht. Der IWF führte also gegenüber Kinshasa die 13 Milliarden US-Dollar sogenannter Schulden, über ein Jahrzehnt nach Sturz des Verursachers, ins Feld und sicherte sich so seinen Einfluss auf das an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gedrängte Land: 9 der 13 Milliarden Dollar könnten gestrichen werden, wenn – so eine der Bedingungen dieses Erpressungsmanövers – der Vertrag mit China revidiert würde. Kinshasa blieb keine Wahl. Ein neues Abkommen von wesentlich geringerem Umfang wurde mit Peking ausgehandelt.

Strenge Auflagen

Wie Strauss-Kahn agiert nun auch Lagarde. Der IWF setzt seine Politik der Daumenschrauben für Kreditnehmer fort. Die den betroffenen Staaten aufgezwungene „Strukturelle Anpassungspolitik“ (SAP) wird begleitet von streng kontrollierten Auflagen, die wiederum eine massenhafte Verarmung verursachen. Dazu gehören die Aufhebung von Zöllen zum Schutz einheimischer Produkte, Abwertung der Währung, Kürzungen im öffentlichen Dienst, was besonders prekäre Auswirkungen auf die Bereiche Bildung und Gesundheit hat. Wenn dann noch Investitionen in überlebenswichtige infrastrukturelle Sektoren wie den Transport wegfallen, entsteht die paradoxe Situation, dass das Benzin im Ölförderland Nigeria teurer wird als in den USA als Abnehmerland.

Trotzdem gab sich Madame Lagarde ob der elenden Lage in Afrika weiter moralisch empört. Angesprochen auf die negativen Folgen, die die rigorosen Kürzungen der EU und des IWF für Griechenlands Gesundheitssystem zeitigen, meinte sie: „Ich sorge mich mehr um die Kinder in einem kleinen Dorf in Niger, die nur zwei Stunden Unterricht am Tag haben und sich zu dritt einen Stuhl in der Schule teilen. Denn ich glaube, sie brauchen viel mehr unsere Hilfe als die Menschen in Athen.“(17) Von „den Griechen“ forderte sie: „Helft euch selbst und zahlt endlich Steuern!“ Angesichts der Empörung über die schulmeisterliche Arroganz musste Lagarde zurückrudern. Sie schätze das griechische Volk, erklärte sie umgehend. Das klang wie ein „Pardon“ – eine Entschuldigung, die der Form galt, nicht dem Inhalt.

Kuchen statt Brot

„Marie Antoinette“ – diesen Spitznamen hatte Christine Lagarde zu Beginn ihres Jobs als Sarkozys Superministerin im Juni 2007, verantwortlich für die Ressorts Finanzen und Wirtschaft, verpasst bekommen. Die Ehefrau von Louis XVI. und Königin von Frankreich und Navarra soll, nachdem ihr zugetragen worden war, dass es kein Brot für das Volk gibt, geantwortet haben. „S’ils n’ont pas de pain, qu’ils mangent de la brioche!“ (Wenn sie kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen). Der Ausspruch stammte in Wirklichkeit zwar nicht von Marie Antoinette, traf jedoch deren Denkweise. Bei Ministerin Lagarde indes stimmten Haltung und das gesprochene Wort überein. Sie hatte tatsächlich im November 2007 nach Klagen über rasant steigende Ölpreise den Franzosen geraten, doch öfter mal zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren. Ihre Tipps hätten Lagarde fast den Posten gekostet. Doch hielt sie – anders als Marie Antoinette, die 1793 ihren Kopf unter der Guillotine verlor – durch, wie sie es immer getan hatte.

Blitzende Zähne

„Lagarde lacht und legt dabei zwei makellose Reihen blitzender Zähne frei. Es ist das offene Lachen einer Frau, die mit sich im Reinen ist und die weiß, was sie kann.“(18) Der Schein überblendet das Wesen. Das bleibt verborgen im Dunkeln.

Aufgewachsen in Le Havre am Atlantik profilierte sich Christine Lagarde als Teenager in Frankreichs Synchronschwimmer-Nationalteam, schlanke ein Meter und achtzig Höhe, ein Gardemaß für die Ballettratten im Wasser. „Zähne zusammenbeißen und lächeln“, habe sie dabei gelernt, meint sie und zieht noch heute, so oft wie möglich, Runden im Swimmingpool, taucht, stählt sich auf dem Fahrrad, betreibt Yoga, eine disziplinierte Arbeiterin am eigenen Körper. Madame Lagarde isst keine Tiere, trinkt keinen Alkohol. Das sei äußerst wertvoll gewesen für ihre politische Karriere, die sie als eine Art Sport betrachtet: Bei beiden würden „Widerstandsfähigkeit und Ausdauer“ gebraucht.(19)

„Elle a de la classe“ – sie besitzt einige Klasse – heißt es, und dass sie eine „verbissene Hartnäckigkeit“(20) auszeichne. Als erste Frau den IWF-Chefsessel zu erklimmen, vorher als erste Finanzministerin in der Runde der G8 Platz zu nehmen, noch eher, es zu schaffen, den Vorsitz eines mächtigen, international agierenden Anwaltkonsortiums zu übernehmen, sei eine herausragende Leistung, meinte einst ihr Sprecher im Finanzministerium, Bruno Silvestre: „Sie musste so gut wie ein Mann sein, was wahrscheinlich heißt: besser als ein Mann“.(21) Also verließ sie – nach der Scheidung von Wilfrid Lagarde alleinerziehende Mutter zweier Söhne – Paris und zog 1999 nach Chicago, um „Madame Chairman“(22) von Baker and McKenzie zu werden. Für die weltweit zweitgrößte Sozietät hatte sie schon zuvor als juristische Betreuerin unter anderem von Microsoft, Sony, BP, Avis gearbeitet. Heute erwirtschaften deren 3400 Anwälte in siebzig Ländern, allseits treu im Dienste der Konzerne, über eine Milliarde US-Dollar jährlich.

Neuer Tummelplatz

Der IWF mit seinen 2500 Beschäftigten hantiert mit 750 Milliarden US-Dollar. Eine weitere Aufstockung der Finanzmittel um 456 Milliarden sollte laut IWF-Mitteilung vom G20-Gipfel im Juni 2012 folgen. Die Krise macht‘s möglich. Die reiche EU-Region wird zum IWF-Tummelplatz. Lagarde sagt: „Als die europäische Währung eingeführt wurde, dachte niemand daran, dass ausgerechnet ein Land der Eurozone ein finanzielles Unterstützungsprogramm Europas und des Internationalen Währungsfonds benötigen würde. Das war einfach unvorstellbar.“(23) So unvorstellbar wie die nicht gedeckten Billionenbeträge, mit denen derzeit eine Elite herumjongliert.

Dagegen – und gegen die weltweit rasant wachsende Zahl an Dollar-Milliardären (1996: 423, 2006: 946, 2012: 1226) – nehmen sich die 467940 plus 83760 US-Dollar Aufwandsentschädigung, die Frau Lagarde jährlich bezieht, wie Peanuts aus. Den drei Milliarden Menschen dagegen, die von weniger als einem Euro pro Tag zu überleben versuchen, stellen sich die Managergehälter als überaus unverschämt und parasitär dar. Schon um die Jahrtausendwende überstieg das Vermögen der 15 weltweit wohlhabendsten Personen das gesamte Bruttoinlandsprodukt aller subsaharischen Staaten Afrikas. Seitdem öffnete sich die Nord-Süd-Schere ebenso weiter wie die zwischen Arm und Reich im Norden.

„Deutschland hat in den letzten zehn Jahren hervorragende Arbeit geleistet“, resümierte Ministerin Lagarde 2010. „Es hat seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert und die Lohnkosten deutlich gedrückt.“(24) Sie meinte die Einführung von Hartz IV mit der Zwangsverpflichtung zur Hungerlohnarbeit, zu Ein-Euro-Jobs, die Erhöhung des Rentenalters, die Etablierung der Leiharbeit, eine gesetzlich verordnete Armut für Arbeitslose, und versuchte, dem deutschen Beispiel zu folgen, was sich indes westlich des Rheins angesichts der gewerkschaftlich erkämpften Standards als nicht ganz so einfach erwies.

Dagegen entsorgte das sozialdemokratisch-grün regierte Deutschland relativ problemlos soziale Grundleistungen und setzte zugleich De-facto-Lohnkürzungen über einen langen Zeitraum durch. Für Superministerin Lagarde war Deutschland im Rahmen der EU damals das, was heute Nigeria für den IWF im Rahmen Westafrikas sein soll: neoliberales Vorbild. Dass die zunehmende Armut Vieler zugleich mehr Reichtum einiger Weniger bedingt, ist dabei Prinzip. In Deutschland arbeiten mittlerweile 6,5 Millionen Menschen (etwa 28 Prozent) zu Niedriglöhnen, etwa ein Drittel in prekären Verhältnissen.

Das weiß die IWF-Chefin selbstverständlich. Es interessiert sie indes lediglich in dem Maße, wie sich das neue, deklassierte Proletariat zum Unruhepotenzial entwickeln könnte. Dann wären zuallererst nationale Repressionsinstrumente gefragt, für deren Einsatz sie nicht direkt zuständig ist. Nein, die Frau mit dem Schön-und-mächtig-Image beißt nicht nur, wie sie selbst meint, im „ständigen Kampf um Erfolg“ die Zähne zusammen. Sie beißt auch zu, manchmal sogar heftig.

Millionen für Tapie

In Frankreich laufen seit einem Jahr Ermittlungen gegen sie. Als Ministerin hatte sie Bernard Tapie, einem schillernden Finanzspekulanten, kurz entschlossen eine erkleckliche Summe aus der Staatskasse zugesprochen. Auf Anweisung Lagardes und gegen Widerstand aus dem eigenen Ministerium erhielt die „Heuschrecke“ 258 Millionen Euro, darunter 45 Millionen als „Schmerzensgeld“. Den Hintergrund der Story aus dem Bilderbuch des Kapitalismus bildete Tapies Verkauf seiner Aktienmehrheit am deutschen Sportartikelhersteller Adidas durch die damals staatliche Bank Crédit Lyonnais. Von dieser sei er „übervorteilt“ worden, als sie das von ihm für etwa zwei Milliarden Francs (170 Millionen Euro) erstandene Paket wenige Monate später zum doppelten Preis weiterverkaufte, klagte Tapie.

Über ein Jahrzehnt beschäftigte das Verfahren die Justiz – ein Urteil von 2006 wies die Forderung des Spekulanten zurück, bis dann Sarkozy und Lagarde zu Amt und Würden kamen und einem „Vergleich“ zustimmten. Wie die Geschichte juristisch endet, ist noch offen. Offiziell bereitet sie Madame Lagarde ebenso wenig Sorgen wie das Finanzgebaren ihres Lebensgefährten, des Marseiller Unternehmers Xavier Giocanti. Dessen Unternehmen für arbeitslose Existenzgründer wird vorgeworfen, mit „falschen Angaben“ und unter „Umgehung der Regeln“ eine Million Euro zu Unrecht kassiert zu haben.(25)

Krisen-Hurrikan

Frauen zeigten in öffentlichen Ämtern „weniger Libido, weniger Testosteron“, bemerkte die Ministerin einmal.(26) Wenn Muskelkraft und Staatsgewalt den von der Warenproduktion befreiten Turbokapitalismus, der wie ein Hurrikan durch die Länder tobt, schon nicht bändigen können, soll zumindest der Eindruck erweckt werden, die Probleme würden zivilisiert und sachlich, vielleicht sogar mit Verstand und Esprit angegangen. Seit 500 Tagen ist die Französin im Amt. Der von ihr geführten Institution stehen Macht und Geldmittel zur Verfügung wie noch nie in deren Geschichte. Schließlich geht es um nicht mehr und nicht weniger, als „die Weltwirtschaft durch ausgesprochen turbulente, unruhige Zeiten zu steuern“.(27) Und gut für die Weltwirtschaft ist, was die Finanzwelt meint, dass es gut ist.

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