Weltpolitik

Das neue Südamerika

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Von IGNACIO RAMONET, 14. April 2009 –

Der jüngste Wahlsieg von Mauricio Funes, dem Kandidaten der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) in El Salvador, hat eine dreifache Bedeutung. Zum ersten Mal ist es der Linken gelungen, die Macht der Ultrarechten in diesem Land der Ungleichheit zu brechen, in dem 0,3 Prozent der Bewohner 44 Prozent des Reichtums kontrollieren, in dem ein Drittel der Bewohner von Armut heimgesucht wird und in sich ein weiteres Drittel gezwungen sieht, in die USA auszuwandern.

Der Wahlsieg von Funes zeigt zudem, dass die FMLN im Jahr 1992, am Ende des Kalten Krieges, aus gutem Grund den Guerillakampf eingestellt hat. Sie tat dies nach einen zwölf Jahre währenden Konflikt, der 75.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die FMLN schlug den Weg des politischen Kampfes ein, an den Wahlurnen. Heutzutage ist eine bewaffnete Guerillabewegung in dieser Region nicht mehr zeitgemäß. Das ist die unterschwellige Nachricht, die vom Wahlsieg der FMLN ausgeht und die vor allem bei der FARC-Guerilla in Kolumbien Gehör finden sollte.

Und schließlich bestätigt der Sieg der FMLN, dass der Wind in Südamerika weiter stark von links bläst.(1) Seit der Erfolgsgeschichte von Hugo Chávez, die vor zehn Jahren in Venezuela begonnen und die den Weg für die Linke geebnet hat, und trotz aller medialer Terrorkampagnen, wurden mehr als zehn progressive Präsidenten von ihren Völkern gewählt. All ihre Programme basieren auf dem Versprechen breiter sozialer Transformationen, einer gerechteren Verteilung des Reichtums und einer politischen Integration der bislang marginalisierten und ausgeschlossenen sozialen Gruppen.

Während sich im Rest der Welt und vor allem in Europa linke Gruppierungen von der sozialen Basis entfernt haben und sich – bar jeder Ideen, denen sie einmal folgten – eher dem neoliberalen Modell verpflichtet fühlen, das der aktuellen Krise zugrunde liegt, entwickeln in Lateinamerika die neuen Sozialisten des 21. Jahrhunderts, angetrieben von der Energie sozialer Bewegungen, eine schier unglaubliche politische und soziale Kreativität. Wir erleben dabei die Wiedergeburt, eine wahrhaftige Neugründung dieses Kontinents und zugleich den Schlussakt seiner Emanzipation, die vor zwei Jahrhunderten von Simón Bolívar und den anderen Befreiungskämpfern initiiert wurde.

Obgleich viele (auch linke) Europäer diesen Umstand ignorieren – weil sie die kolossale Mauer der Lügen nicht überblicken können, die von großen dominierenden Medien errichtet wurde, um die historische Dimension des Geschehens zu verdecken – ist Südamerika inzwischen die fortschrittlichste Region der Erde. Es findet dort der tiefgreifendste Wandel zugunsten der sozialen Bevölkerungsbasis statt. Dort werden die am weitreichendsten strukturellen Reformen mit dem Ziel umgesetzt, aus Abhängigkeit und Unterentwicklung zu entkommen.

Durch die Erfahrungen der Bolivarischen Revolution Venezuelas und mit Unterstützung der Präsidenten Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador haben auch die indigenen Bewegungen zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. Zugleich haben sich diese drei Staaten auf beachtliche Weise, durch Referenden, neue Verfassungen gegeben.

Südamerika ist von neuer Hoffnung und dem Streben nach Gerechtigkeit erfasst worden. Der große Traum einer Integration der Völker, anstelle eines ausschließlichen Zusammenschlusses der Märkte, hat so neue Kraft bekommen. Neben der südamerikanischen Freihandelszone Mercosur, die rund 260 Millionen Bewohner von Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und Venezuela vereint, ist die Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA) die schöpferischste Idee zugunsten einer solchen Integration. Ihre Mitglieder (2) haben die notwendige Stabilität erreicht, um sich dem Kampf gegen Armut, Elend, Ausgrenzung und Analphabetismus zu widmen, um ihren Bürgern Bildung, Gesundheit, Unterkunft und würdige Arbeit zu garantieren. Dank des Projektes Petrosur haben sie zudem einen größeren energiepolitischen Zusammenhalt und einen signifikanten Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion erreicht, um die Ernährungssicherheit zu gewährleisten. In Anbetracht der Gründung der Bank des Südens und einer gemeinsamen Währungszone (Zona Monetaria Común, ZMC) sind sie in dem Versuch vorangekommen, ein gemeinsames Zahlungsmittel zu schaffen, das den Namen Sucre tragen könnte. (3)

Verschiedene südamerikanische Regierungen haben am 9. März dieses Jahres einen bis dahin unfassbaren Schritt unternommen (4): Sie haben sich mit dem Südamerikanischen Verteidigungsrat (CDS) dazu entschieden, im Rahmen der im Mai 2008 in Brasilia gegründeten Union südamerikanischer Nationen (UNASUR) einen Organismus zur militärischen Zusammenarbeit ins Leben zu rufen.

Mit diesen in jüngster Zeit geschaffenen Kooperationsinstrumenten sieht das neue Südamerika vereinter denn je seinem Treffen mit den USA auf dem kommenden Amerika-Gipfel entgegen, der vom 17. bis zum 19. April in Puerto España (Trinidad und Tobago) stattfinden wird. Dort werden die südamerikanischen Staatschefs mit dem neuen US-Präsidenten Barack Obama diskutieren, der seine Ideen für die Zusammenarbeit mit den südlichen Nachbarn darlegen wird.

Während seines jüngsten Besuchs in Washington hat der Präsident Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, Obama gebeten, das Wirtschaftsembargo gegen Kuba komplett aufzuheben. Gegen dieses Embargo wendeten sich alle Staaten der Region, so sein Argument. (5) Am vergangenen 11. März hatte Washington bereits erklärt, dass die Kubano-Amerikaner einmal im Jahr nach Kuba reisen und dort bleiben dürfen, solange sie wollen. Auch wenn Obama in seiner Wahlkampagne noch bekräftigt hat, das Embargo aufrecht zu erhalten, zeichnet sich eine Annäherung zwischen Havanna und Washington ab. Es war höchste Zeit dafür. Die Normalisierung mit Venezuela und Bolivien steht noch aus. Mehr noch: Washington sollte anerkennen, dass der „Hinterhof“ ein Relikt der Vergangenheit ist. Dass die Völker Südamerikas das Ruder übernommen haben. Und dass es dieses Mal keinen Weg zurück gibt.

Anmerkungen:

(1)Das Konzept von Südamerika, wie es der venezolanische Bolivarismus verwendet, reicht viel weiter als jenes von „Lateinamerika“. Es erkennt die Beteiligung der indigenen Nationen und der Nachkommen der afrikanischen Sklaven an. Es schließ auch diejenigen Länder und Territorien ein, deren „Lateinamerikanität“ in Frage gestellt wird. In anderen Worten: Das traditionelle Konzept von „Lateinamerika“ reicht nicht aus, um den Raum vom Rio Grande und der Karibik bis nach Feuerland zu definieren.
(2)Bolivien, Kuba, Dominica, Honduras, Nicaragua, Venezuela und – mit Beobachterstatus – Ecuador.
(3)Sucre steht als Akronym für „Sistema Único de Compensación Regional“ ( etwa: Gemeinsames System des regionalen Ausgleichs)
(4)Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Chile, Ecuador, Guyana, Paraguay, Peru, Suriname, Uruguay und Venezuela.
(5)Costa Rica und El Salvador waren die letzten beiden Staaten, die bis zuletzt keine diplomatischen Beziehungen mit Havanna unterhalten haben. Im März haben sie die Beziehungen wieder aufgenommen.

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Über den Autor:

Ignacio Ramonet ist spanischer Journalist und war von 1991 bis März 2008 Direktor der in Paris erscheinenden Monatszeitung für internationale Politik „Le Monde diplomatique“. Seit seinem Ausscheiden bei der französischen Mutterausgabe leitet er die spanische Edition. Seine Leitartikel der spanischen Ausgabe von Le Monde diplomatique erscheinen ab November 2008 monatlich in deutscher Übersetzung bei www.hintergrund.de. Ignacio Ramonet ist Ehrenpräsident von Attac und Mitorganisator des Weltsozialforums.

Übersetzung für Hintergrund: Harald Neuber

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