Lateinamerika

Drei Tage für die Revolution

Die organisierte Volksbewegung beendet einen Putsch: Vor zwanzig Jahren haben in Venezuela die Unterstützer der bolivarischen Revolution den Versuch vereitelt, Präsident Hugo Chávez zu stürzen. Hinter dem Putsch vom April 2002 standen Teile des Militärs, der alten Gewerkschaftsbewegung, der Unternehmerverband und die politische Opposition. Ohne Unterstützung der USA wäre der Putsch nicht möglich gewesen. Und ohne die massive Unterstützung der Volksbewegung wäre Hugo Chávez nicht zurück in den Präsidentenpalast gekommen, wäre die bolivarische Revolution nicht auf eine neue Stufe gehoben worden. Der Hass seiner Gegner hält bis heute an.

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Erinnerung an den 13. April 2002: Am 13. April 2012 versammeln sich die Anhänger von Präsident Hugo Chávez am Präsidentenpalast.
Foto: Chavezcandanga Lizenz: by-nc-sa, Mehr Infos

Es ist mitten in der Nacht an diesem 14. April 2002. Die Menschen vor dem Präsidentenpalast Miraflores in Caracas harren aus. Sie warten auf ihn. Die Szene erinnert an die Heimkehr einer erfolgreichen Fußballmannschaft, oder – wir sind ja in Venezuela – die eines siegreichen Baseball-Teams. Der Hubschrauber setzt zur Landung an. Der Jubel brandet auf, als er zu sehen ist: Hugo Chávez. Der Präsident Venezuelas. Er geht gestützt auf seine Begleiter, die vergangenen Tage haben Kraft gekostet, zwei Tage in Gefangenschaft. Nun aber ist er zurück. Chávez strahlt, er reckt die Faust in die Luft. Die Kapelle spielt, die Sprechchöre setzen ein: „Er ist wieder da, er ist wieder da.“

Wenig später betritt Chávez den Saal des Palastes. Als erstes umarmt er Planungsminister Jorge Giordani. „Das Volk hat Geschichte geschrieben“, sagt er zu seinem engen Wegbegleiter. Der Saal ist voll. Viele Unterstützer des Präsidenten sind da. Es gibt Applaus. Die Journalisten stehen dicht gedrängt zusammen, auf dem Podium viele Mikrofone. Oben angekommen umarmt Chávez zunächst Vizepräsident Diosdado Cabello.

„Wir brauchen absolute Ruhe. Wir haben keine Anlage“, lautet dann die Ansage vom Podium. „Haben sie die geklaut?“, fragt Chávez mit einem Lächeln im Gesicht. „Sie“, das sind die Putschisten. „Die haben einiges geklaut“, bekommt er als Antwort. Dann spricht der Präsident. Von den letzten Stunden, in denen er von der Welt abgeschnitten war. Er habe sich Sorgen gemacht. Und er ruft die Venezolaner zur Ruhe auf. Sie sollen nach Hause gehen. Dann adressiert er seine Gegner. Die Verfassung gelte für alle. „Lassen Sie sich nicht vergiften, lassen Sie nicht zu, dass man Sie mit so vielen Lügen vergiftet.“ Am Ende skandiert der Saal: „Er ist wieder da.“

Dass wir heute die Ereignisse vom 11. bis 14. April 2002 im Präsidentenpalast so plastisch nachvollziehen können, verdanken wir – unter anderem – dem Film „Chavez: Ein Staatsstreich von innen“. [1] Es ist bis heute bewegend und bedrückend zugleich, wenn Chávez unter dem Druck des Militärs weggebracht wird, wie die Putschisten sich im Palast breitmachen, wie sich die Journalisten selbst beglückwünschen für ihre Beteiligung an den Ereignissen – inklusive vorab produzierter Ansprachen – und wie die Rückeroberung vonstatten geht. Neben der filmischen Dokumentation liegen mehrere gut recherchierte Bücher vor, mit denen unter anderem die Verstrickung der USA in das Putschgeschehen nachgezeichnet werden kann. Anlässlich des 20. Jahrestags der Ereignisse möchte ich sie wieder ins Gedächtnis rufen. Am Ende geht es kurz auch um das heutige Venezuela.

Der Mann des Volkes

Hintergrund der Ereignisse des April 2002 war der Amtsantritt von Hugo Chávez im Februar 1999. Er hatte im Februar 1992 die politische Bühne betreten, als Offiziere mittleren Ranges sich gegen die korrupte Regierung von Präsident Carlos Andrés Pérez erhoben. Der Sozialdemokrat hatte drei Jahre zuvor beim sogenannten Caracazo – einem Aufstand des einfachen Volks, der sich vor allem gegen die Preissteigerungen richtete – ein Blutbad veranstaltet. Die Militärs scheiterten bei ihrem Umsturzversuch. Sie hatten den Aufstand und die dahinter stehende bolivarischen Bewegung – der Name bezieht sich auf den „Befreier“ Südamerikas Simon Bolívar – zwar seit Anfang der 1980er Jahre aufgebaut, das Bündnis mit den zivilen Kräften war aber noch nicht stark genug. Chávez wurde festgesetzt und bat darum, an die Bevölkerung und vor allem an die mit ihm verbündeten Soldaten eine kurze Ansprache richten zu dürfen, um weitere aussichtslose Kämpfe zu verhindern. „Vorerst“ (por ahora) sei der Kampf verloren. Dieses „por ahora“ wurde zum Schlachtruf der seit dem Caracazo wachsenden politischen Bewegung im Land.

Als Chávez wenige Jahre später das Gefängnis verlassen durfte, reiste er durchs Land zu den einfachen Menschen. Sein Ziel: Er wollte vermitteln, dass es eine Alternative zur herrschenden nur scheinbar demokratischen Ordnung gibt; „Es ging darum, in der Psyche des Volkes diesen wunderbaren Gedanken eines anderen Landes zu stärken“, sagte er in der Rückschau. [2] Gleichzeitig war es nötig, über „eine eigene politische Organisation mit eigenem politischen Profil zu verfügen […], weil wir andernfalls in tausende unterschiedliche Strömungen zerfallen wären“. [3] Es war ein Aufbau mit langem Atem, in dem sich immer wieder zeigte, dass das Volk nach und nach immer stärker hinter Chávez und nicht hinter den Parteien stand.

Inhaltlich blieb das politische Programm seiner bolivarischen Bewegung noch recht schwammig, es ging ihm um eine „totale Neustrukturierung und Transformation des Staatsapparates in einen wirklich demokratischen, volksnahen Staat“. [4] Darunter war vieles zu verstehen. Klar war vor allem die Ablehnung des Neoliberalismus. Durch seine Reisen durch das Land, wurde er immer mehr mit den Sorgen und Nöten der Menschen vertraut und er zeigte ihnen seine Verbundenheit. Bislang hatte sich niemand für die Menschen in den Slums oder in den entferntesten Gebieten der Provinz interessiert. Die Menschen, die von dem großen Ölreichtum des Landes bislang noch nie profitiert hatten, sahen nun einen der ihren zum Präsidenten aufsteigen und gleichzeitig die Chance, endlich auch etwas von den Öleinnahmen des Landes zu haben.

Neue Verfassung

Chávez gewann die Wahlen 1998 deutlich. Er machte Ernst mit seiner Ankündigung, nach der Wahl durch eine neue Verfassung auch formell mit der abgewirtschafteten sogenannten vierten Republik Schluss zu machen. Die Verfassung entstand im Geist der Mitbestimmung. Nach der Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung nahmen die sozialen Organisationen an der Entstehung der neuen Verfassung teil. Über Workshops, Kommissionen und runde Tische waren sie direkt in die Diskussion eingebunden. Bei der Volksabstimmung über die neue Verfassung stimmten dann 70 Prozent zu, die bolivarische Bewegung hatte sich die Grundlage für ihre „Revolution“ gegeben.

Ein wichtiger Bestandteil dieser Bewegung sind die Sozialprogramme. Bereits kurz nach der Wahl setzten sie ein, im Plan Bolívar wurde das Militär in die Armutsbekämpfung eingebunden. Soldaten gingen in die Elendsviertel, reparierten Häuser, Krankenhäuser und Schulen, besserten Straßen aus und halfen bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Außerdem wurden die Ärmsten des Landes, etwa zwei Millionen Menschen, erstmals richtig medizinisch versorgt. Trotz Korruption, mit der jedes der Sozialprogramme von Chávez zu kämpfen hatte, verbesserte sich die Situation der Venezolaner spürbar. Durch Alphabetisierungskampagnen sollten die Ärmsten auch intellektuell dazu befähigt werden, am Prozess teilzuhaben. Außerdem knüpften die Militärs in dieser Zeit Kontakte zu Basisorganisationen. Dies ist eine der wichtigsten Grundlagen für den „zivil-militärischen Pakt“, den Chávez bereits vor seinem eigenen Putschversuch 1992 angestrebt hatte und der bis heute die Basis für das Fortbestehen der bolivarischen Revolution ist – bei allen ihren Problemen und Begrenzungen. Die erste Bewährungsprobe erlebte dieser Pakt beim Putschversuch vor 20 Jahren.

Den entscheidenden Schritt für die Regierung war der Kampf um die Kontrolle über die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA. Der Kampf ums Öl, der die venezolanische Politik seit vielen Jahrzehnten sowohl innen- als auch außenpolitisch bestimmt. Die PDVSA war zu einem Staat im Staate geworden war und konnte erfolgreich einen Großteil der Gewinne am Fiskus vorbei schleusen. Das sollte sich ändern. Parallel übernahm Venezuela den Vorsitz in der OPEC, die vor allem durch Initiative von Venezuela wieder zu einem mächtigen Kartell wurde.

Dies bzw. das Geld aus dem Ölverkauf war Basis für die Sozialprogramme. Aber auch für die Ablehnung der Regierung Chávez durch die USA. Denn der freie Zugriff auf das venezolanische Öl – Venezuela ist immerhin das Land mit den meisten Ölreserven weltweit – war in Gefahr. Denn: „Wenn sich ausgerechnet ein Hauptöllieferant der USA als praktischer Kritiker aller amerikanischen Ansprüche aufführt, und das auch noch in ihrer originären Dollar- und Einflusszone, dann ist das für Washington untragbar.“ [5] Zudem baute Chávez neue Bündnisse auf und versuchte, sich generell vom Einfluss der USA in Lateinamerika zu befreien – auch dafür nutzte er das venezolanische Öl.

Des weiteren startete die Regierung Chávez eine Landreform gegen die Großgrundbesitzer, die das Ziel verfolgte, die Importabhängigkeit bei Lebensmitteln zu verringern. Sowohl die Kontrolle über die Erdölgesellschaft als auch die Landreform riefen die Opposition auf den Plan. Die beiden Sozialpartner der alten Republik, die Gewerkschaft und der Unternehmerverband, sahen ihre Pfründe in Gefahr und organisierten bereits im Jahr 2001 mehrere Streiks vor allem der gehobenen Angestellten, die aber zunächst verpufften. Einfache Arbeiter und prekär Beschäftigte standen in der Mehrheit zu Chávez. Dennoch wurden die Demonstrationen der Opposition gegen Ende 2001 immer größer – unter tatkräftiger Unterstützung der Medien, die dann auch eine wichtige Rolle beim Putsch im April 2002 spielen sollten.

Die Vorbereitungen für den Putsch

Aber auch die USA beteiligten sich. Sie hatten bereits seit dem Juni 2000 begonnen, im Militär nach möglichen Verbündeten zu suchen. Sie wollten ihren Einfluss vergrößern, wie es in einem Telegramm nach Washington hieß. [6] So war den US-Amerikanern unter anderem der Verteidigungsminister aufgefallen – was auch die Regierung Chávez bemerkte und den Minister als Botschafter nach Spanien schickte. Der neue Verteidigungsminister forderte dann im August 2001 die US-Militärs auf, ihre Büros im Hauptquartier der venezolanischen Streitkräfte zu verlassen – so endete eine fast 50-jährige Präsenz der USA im Oberkommando der Venezolaner. Die Konfrontation nahm weitere Formen an.

Außerdem finanzierten US-Stellen die wichtigsten Parteien und Organisationen der Opposition, um die Organisation aufzubauen und zu stärken, wie es in den Dokumenten heißt. [7] Unter ihnen war die Partei Primero Justicia, die auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung Geld erhielt und im Putsch eine wichtige Rolle spielen sollte. Ein weiteres sichtbares Zeichen für die bevorstehenden Ereignisse war der neue US-Botschafter, der am 25. Februar 2002 sein Amt in Caracas antrat. Charles Shapiro war viele Jahre in der Region aktiv, war während des Putsches in Chile 1973 bereits Militärattaché der dortigen US-Botschaft, in den 1980er Jahren CIA-Verbindungsmann im Bürgerkriegsland El Salvador und hatte von 1999 bis 2001 die US-Politik gegenüber Kuba überwacht. Als weitere wichtige Position für die Verbindung zwischen den USA und der venezolanischen Opposition fungierte Vize-Außenminister Otto Reich. Er war bekannt geworden, weil er Ende der 1980er Jahre verdeckte Falschinformationen gegen die sandinistische Regierung in Nicaragua verbreitete. Reich traf sich unter anderem mit dem venezolanischen Gewerkschaftsführer Carlos Ortega und mit Pedro Carmona, dem Vorsitzendes des venezolanischen Unternehmerverbands. Beide sollten beim folgenden Putschversuch eine wichtige Rolle spielen.

Schon im Dezember 2001 hatten die Gewerkschaften zusammen mit den Unternehmern, privaten Medien sowie Organisationen, die von den USA gefördert worden waren, einen „Generalstreik“ ausgerufen. Auch in den folgenden Wochen und Monaten blieb die Lage angespannt, die Medien in den USA und Europa berichteten fortwährend über die „explosive“ Situation im Land – eine Vorarbeit für den anstehenden Putschversuch. Medienberichte waren auch Vorlage für Geheimdienstberichte, nach denen Chávez angeblich die kolumbianische Guerilla-Organisation FARC unterstütze – außer dass Oppositionsmedien dies berichteten, gab es keine Beweise für diese und andere Anschuldigungen.

Im März schlossen sich die Akteure der Opposition dann zu einem „Pakt zum Wechsel“ zusammen. „Ein weiteres Teilstück hat seinen Platz gefunden“, meldete kurz darauf die US-Botschaft ans Außenministerium. Der Pakt „könnte einen Referenzrahmen und ein Verfahren für eine Übergangsregierung bieten“. [8] Ein Teilstück von was?

Anfang April meldete die CIA dann nach Washington, dass unzufriedene Militärfraktionen möglicherweise noch in diesem Monat einen Putsch gegen Präsident Chávez planten, „der Detaillierungsgrad dieser Pläne zielt auf die Gefangennahme von Chávez und zehn weiterer führender Funktionäre“. [9] Die US-amerikanische Rechtsanwältin mit venezolanischen Wurzeln Eva Golinger sieht in diesen Formulierungen klare Hinweise dafür, dass der CIA die Pläne der Putschisten bekannt waren. Golinger hatte 2004 die Veröffentlichung vieler Dokumente der US-Regierung zum Putsch erstritten. Sie zitiert weiter aus dem Bericht der CIA vom 6. April 2002: „Um Militäraktionen zu provozieren, könnten die Verschwörer versuchen die Unruhen auszunutzen, die später im Monat geplant sind, oder anhaltende Streiks im staatlichen Ölunternehmen PDVSA.“

Dieser CIA-Bericht umschreibt die folgenden Ereignisse recht gut. Sie beginnen am 10. April. Arbeiter unterbrechen an diesem Tag Abläufe der staatlichen Ölindustrie. Das soll vor allem den internen Markt treffen. Ziel ist es, Proteste und Unruhen auszulösen und die allgemeine Anspannung weiter anzuheizen. Der Vorsitzende des Unternehmerverbandes Pedro Carmona und Gewerkschaftschef Carlos Ortega kündigen an, dass der „Generalstreik“ unbefristet sei und erklären die Einsetzung eines „Koordinationskomitees für Demokratie und Freiheit“ – die zusammengeschlossenen Parteien und Organisationen hatten zuvor jeweils Gelder aus den USA erhalten. Zudem rufen die beiden Protagonisten für den nächsten Tag zu einem Marsch der Opposition auf. Noch am gleichen Tag erklärt der General Nestor González González in einer (aufgezeichneten) Fernsehansprache den Aufstand, fordert den Präsidenten zum Rücktritt auf und hindert ihn so an einer geplanten Auslandsreise. Damit der Putschplan Erfolg haben kann, muss Chávez im Land bleiben. Nach der Ansprache bleibt er.

Die Inszenierung des 11. April

Am 11. April 2002 ist die Lage angespannt. Der US-Amerikaner Alexander Main, heute Mitarbeiter des linksliberalen „Centre for Economic Policy Research“ mit Sitz in Washington, erinnert sich daran, wie er die beiden unterschiedlichen Lager an diesem Tag erlebte. Auf der einen Seite, im Osten von Caracas, trifft er gut angezogene Oppositionelle mit heller Hautfarbe auf der Straße. Einige Schilder auf der Demonstration setzten Chávez mit Bin Laden gleich. Die USA solle intervenieren, so wie in Afghanistan. An der Zentrale des staatlichen Ölkonzerns soll der Protestzug enden, dort aber wird zum Marsch in Richtung Präsidentenpalast aufgerufen. Chávez solle herausgeworfen und nach Kuba geschickt werden. Alexander Main ist vorher am Palast. Er nimmt die U-Bahn. „Dort finde ich mich inmitten einer großen Menge von meist dunkelhäutigen Chavisten aus den nahegelegenen Armenvierteln wieder“, erinnert er sich. Einige haben Stöcke, andere tragen das kleine blaue Büchlein – die venezolanische Verfassung. Das Symbol für den Wandel im Land.

Kurz darauf trifft der Marsch der Opposition ein. Die Nationalgarde versucht, ihr den Weg abzuschneiden. „Dann höre ich ein Geräusch wie Feuerwerk und ein Mann in meiner Nähe fällt hin. Blut läuft aus seinem Nacken“, so Main. [11] Es wird geschossen. Scharfschützen. Der Mann ist tot, weitere Anhänger des Präsidenten sterben an diesem Tag. Auch in den Reihen der Opposition sterben Menschen. Bereits bevor die Oppositionellen Miraflores erreicht sind zwei der Demonstranten durch Schüsse aus den eigenen Reihen getroffen worden. Knapp 50 Tote gibt es in den folgenden Tagen, dazu viele Verletzte.

Für den weiteren Verlauf der Ereignisse sind die Todesfälle von entscheidender Bedeutung. Vor allem aber die Aufzeichnung der Ansprache von Konteradmiral Héctor Ramírez Pérez vor der Kamera von CNN. Er beschuldigt Chávez der Verschwörung. Der Präsident sei für das Massaker an unschuldigen Zivilisten verantwortlich. [12] Als die Ansprache aufgezeichnet wurde, gab es noch gar keine Gewalt auf der Seite der Chávez-Anhänger. Im Fernsehen sind kurze Zeit später Chavisten mit Pistolen zu sehen, wie diese von einer Brücke schießen. Was die Bilder nicht zeigen: Unter der Brücke sind gar keine Demonstranten. Das aber stört die Inszenierung. In Wirklichkeit versuchen sich die Chavisten gegen die Polizisten zu verteidigen, die vom oppositionellen Oberbürgermeister der Stadt befohlen werden und die mit Schusswaffen gegen die Regierungsanhänger vorgehen.

Der Präsident tritt der Inszenierung entgegen. Er startet am Nachmittag eine Fernsehansprache, die die privaten Sender ausstrahlen müssen. Er ruft zum Dialog auf. Aber die privaten Fernsehstationen übertragen nicht nur die Rede von Hugo Chávez, sondern sie teilen – ein klarer Gesetzesbruch – den Bildschirm und zeigen die Straßenkämpfe. Die Lage ist unübersichtlich, der Plan der Putschisten geht auf. Während sich die Privatsender der Abschaltung durch den Präsidenten widersetzen, besetzen Oppositionelle den staatlichen Fernsehkanal. Ein Abgeordneter der Regierung versucht, die andere Seite der Geschichte zu erzählen. Ab 21 Uhr am Abend gelingt es der Opposition, sämtliche Fernsehbilder unter Kontrolle zu bekommen. Parallel fordern hochrangige Offiziere die Armee zum Handeln auf. „Dies ist kein Putsch“, heißt es. Der Eindruck der illegalen Machtübernahme soll vermieden werden. Sie wollen den Rechtsbruch als Verteidigung des Rechts inszenieren. [13]

In der Hand der Gegner am 12. April

Dafür aber muss Chávez zurücktreten. Er wird dies nicht tun. Auch wenn er sich nach dem Druck des Militärs in die Hände der Putschisten begibt. „Dies ist ein Putsch“, sagt er, als er am 12. April um 3.30 Uhr in der Nacht weggebracht wird. So verhindert er ein Blutbad, die Putschisten wähnen sich am Ziel. Im Fernsehen wird eine angebliche Rücktrittserklärung des Präsidenten verlesen. In einer Talkrunde am frühen Morgen beglückwünschen sich die beteiligten Journalisten zur gelungenen Inszenierung.

Die Putschisten sind nun im Präsidentenpalast. Sie versuchen, in Windeseile alles für ungültig zu erklären, was die Regierung Chávez geschaffen hat. Die linken Parlamentarier werden abgesetzt, ebenso der Generalstaatsanwalt und die obersten Richter. Pedro Carmona, der Chef des Unternehmerverbandes, vereidigt sich im Präsidentenpalast selbst. Die Putschisten gehen gegen führende Chavisten vor, denen sie habhaft werden können. Zudem wird die kubanische Botschaft belagert. Aus den USA wird der Regierungswechsel begrüßt, später am Tag ist Botschafter Shapiro selbst vor Ort. Der Traum der Putschisten geht in Erfüllung. Aber es ist nur ein kurzer Traum.

Denn Carmona und seine Gefolgsleute haben zwar die Inszenierung der Medien vorerst gewonnen, nicht aber die Menschen. Die Unterstützer von Hugo Chávez rebellieren gegen die Medien. Sie glauben ihnen nicht. Stattdessen telefonieren sie, schreiben Mails oder werden durch organisierte Motorradfahrer informiert. So verbreitet sich die Nachricht, dass Chávez nicht zurückgetreten sondern in der Hand des Militärs ist. Wo genau, ist nicht bekannt, und so sammeln sich seine Anhänger vor mehreren Kasernen. Auch im Militär ist die Lage keinesfalls eindeutig. Die enge Verbindung von Chávez mit mehreren Generälen, die Verbindung des Militärs mit dem Volk kommt nun zum Tragen.

Das Ende am 13. April

Am nächsten Tag ist dann schon wieder alles vorbei. Für die Putschisten. Während sich die Regierungsanhänger vor dem Präsidentenpalast sammeln, versucht der Kurzzeitpräsident zu beschwichtigen. Man habe alles unter Kontrolle, sagt Carmona gegenüber CNN. Das Gegenteil ist der Fall. Im ganzen Land gibt es in der Armee Unterstützer des Präsidenten. General Raúl Baduel hatte dies auch öffentlich erklärt und verlangt, die öffentliche Ordnung herzustellen. Immer mehr Befehlshaber folgen dem Beispiel. Sie und ihre Männer stünden hinter der Verfassung und dem gewählten Präsidenten. Davon erfährt auch Chávez selbst, der zu diesem Zeitpunkt auf der Insel La Orchilla festgehalten wird.

In Caracas besetzt die Präsidentengarde Miraflores und erhält dafür den Beifall der chavistischen Demonstranten, die sich vor den Toren versammelt haben. Auch vor Fuerte Tiuna, dem Hauptquartier der Armee, hat sich eine riesige Menschenmenge versammelt. Sie vermuten Chávez immer noch hier. Zu unrecht. General García Carneiro steigt auf einen Panzer und spricht zur Menge: Die Garnison unterstützt Präsident Chávez. „Gehen Sie nicht weg! Ihre Anwesenheit ist wichtig!“ Die Armee fordere den Rücktritt von Carmona. Jubel brandet auf. [14]

Am Abend wird Vizepräsident Cabello zum kommissarischen Präsidenten vereidigt, während Baduel drei Hubschrauber nach La Orchilla schickt. Zudem laufen Kriegsschiffe zum Schutz von Chávez aus. Da US-Flugzeuge im Luftraum erscheinen, eines sogar auf der Insel landet, ist die Vorsichtsmaßnahme berechtigt. Allerdings: Nachdem auch der Befehlshaber des Heeres Vázquez Velasco überzeugt werden konnte, dass der Umsturz gescheitert ist, passiert dem Präsidenten nichts. In der Nacht kehrt er in die Hauptstadt zurück.

Am frühen Abend ist es der Regierung zudem gelungen, die Kontrolle über den staatlichen Fernsehkanal wiederzugewinnen – die Privaten zeigen unterdessen Material aus der Konserve. Aber auch wenn die Oppositionsmedien zunächst die Augen vor der Realität verschließen, am frühen Morgen des 14. April, mit der Rückkehr des gewählten Präsidenten Hugo Chávez, ist der Putsch beendet. Die Auseinandersetzung um die bolivarische Revolution geht indes weiter. Bis heute.

Der 13. April gehört dem Volk – Erinnerung an das Ende des Putschversuchs in Venezuela.
Foto: Bernando Londoy, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0, Mehr Infos

Die Konsequenzen

Die Ereignisse im April 2002 haben sich tief ins Gedächtnis der Venezolaner eingeschrieben. „Das Volk ging auf die Straße, wir haben ihn gerettet“, sagte mir beispielsweise Gustavo Mártinez, den ich 2010 in der verstaatlichten Kaffeefabrik Fama de America in Caracas traf. Der damalige Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft hatte mit der staatlichen Bürokratie zu kämpfen und kritisierte in der Rückschau den Versuch von Chávez, mit seinen Gegnern zu reden. Nach dem Putsch sei die Chance für den großen Sprung nach vorne vertan worden. Denn: „Man kann sich mit der Rechten nicht in der Mitte treffen.“ [15]

Die Analyse des Arbeiters hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder bestätigt. Letztlich sind es zwei Lager, die in Venezuela gegenüber stehen. Auf der einen Seite die Regierung und ihre Unterstützer aus den Armutsvierteln. Bei allen Problemen von Korruption, Misswirtschaft und Hyperinflation ahnen sie, dass sie es unter einer Regierung der Opposition nicht besser haben werden. Eher schlechter. Die Erfahrungen mit dem selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaido zeugen davon. [16] Auf der anderen Seite steht eben die von den USA unterstützte Opposition, die die US-Blockade unterstützt und damit die Politik gegen das eigene Volk. [17] Immer wieder wurden in den vergangenen Jahren Gespräche geführt. Aktuell könnten sie wieder beginnen und zwar „in einem Szenario des Friedens und der nationalen Stabilität“, wie der Parlamentspräsident sagt. [18] Die Erholung der Wirtschaft unter anderem auf Basis eines hohen Ölpreises und langsamer Annäherung an die USA, bietet dafür Möglichkeiten. Immer wieder aber sind die Dialogformate bisher gescheitert. Die Interessen beider Seiten scheinen unversöhnlich.

Nach dem Putschversuch des April 2002 folgte der Versuch der Opposition, die Ölproduktion lahm zu legen und dem Land damit weiter zu schaden. Nachdem dies im Laufe des Jahres 2003 abgewehrt werden konnte, vertiefte die Regierung Chávez die Sozialprogramme. Dabei setzte die Regierung auf die Selbstorganisation der einfachen Menschen – gegen die alten Strukturen im Staat. Zwar wird die „Volksmacht“, ein stehender Begriff im Land, heute oft genutzt, um vor allem Regierungsanhänger in den Armenvierteln zu unterstützen. Die Organisation ist teilweise kaum mehr als ein Verteilungsprogramm für Lebensmittel in der Krise. Gleichwohl hat sich bei vielen Venezolanern das Bewusstsein herausgebildet, dass sie sich nur selbst helfen können und müssen.

Bis zum Ziel eines „kommunalen Staates“ des selbstorganisierten Volkes, das Hugo Chávez in den letzten Jahren vor seinem Tod 2013 propagiert hat, ist es noch ein weiter Weg. Aber es gibt neben vielen Rückschlägen auch Entwicklungen, die ganz im Sinne von Chávez sein dürften. So gründete sich Anfang März eine „Union der Kommunen“, die an der Seite der Regierung, aber nicht gesteuert von dieser, die kommunale Organisation weiter aufbauen will. [19]

Dass aufgrund der Blockade – aber nicht nur deshalb – vieles fehlt, können aber auch die organisierten Chavisten in den Kommunen nicht so einfach ignorieren. Auch sie müssen oft anstehen, denn es herrscht weiter Mangel. Selbstorganisierte Produktion ist weiterhin schwierig. In einem aktuellen Interview mit Aktivisten aus dem Osten des Landes, fasst einer von ihnen zusammen: „In der Kommune schauen wir nach gemeinsamen Lösungen für gemeinsame Probleme. Und wir haben gelernt, dass Volksmacht sehr effizient darin ist, die täglichen Probleme der Gemeinschaft zu lösen.“ [20] Gemeinsam geht es am besten. Und organisiert. Das ist, bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen, vermutlich die wichtigste Lehre, die die Venezolaner aus den Armenvierteln aus dem Putschversuch vor 20 Jahren gezogen haben. Der gescheitert ist, weil sie es wollten.

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Endnoten

[1] https://www.youtube.com/watch?v=QXOmJPHny3g
[2] Ignacio Ramonet: Hugo Chávez – Mein erstes Leben, Berlin 2014, S. 506
[3] Ramonet: Chávez, S. 513
[4] Christoph Twickel: Hugo Chávez. Eine Biogafie, Hamburg 2006, S. 126
[5] https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/linksruck-lateinamerika
[6] Ingo Niebel: Venezuela not for Sale. Visionäre gegen neoliberale Putschisten, Berlin 2006, S. 137
[7] Eva Golinger: Kreuzzug gegen Venezuela. Der Chávez Code, Frankfurt am Main 2006, S. 69ff. und 171ff.
[8] Twickel: Chávez, S. 180, auch Golinger: Kreuzzug, S. 85
[9] Golinger: Kreuzzug, S. 87
[10] Golinger: Kreuzzug, S. 88
[11] https://nacla.org/venezuela-alternate-realities
[12] Golinger: Kreuzzug, S. 91.
[13] Vgl. Raul Zelik: Made in Venezuela. Notizen zur „bolivarischen Revolution“, Berlin 2004, S. 61
[14] Twickel: Chavez, S. 216
[15] Helge Buttkereit: Wir haben keine Angst mehr. Reportagen, Interviews und Analysen aus dem bolivarischen Venezuela, Bonn 2011, S. 67
[16] Vgl. zum Putschversuch des Jahres 2019: https://www.hintergrund.de/politik/welt/richtige-und-falsche-demokratie/
[17] https://amerika21.de/analyse/241431/venezuela-guaido-raubzug
[18] https://amerika21.de/2022/03/257276/neues-dialogformat-venezuela
[19] https://venezuelanalysis.com/news/15468
[20] https://venezuelanalysis.com/interviews/15498

Zum Autor

Helge Buttkereit, geboren 1976, hat Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik studiert. Nach journalistischen Tätigkeiten bei verschiedenen Medien und Buchveröffentlichungen über die Neue Linke in Lateinamerika (http://www.utopische-realpolitik.de) arbeitet er aktuell in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

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