Weltpolitik

Negative Campaigning: Mysteriöser Atom-Spionage-Fall in den USA wird für Meinungsmache gegen Venezuelas Regierung instrumentalisiert

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von THOMAS WAGNER, 20.  September 2010 –

„Venezuela anscheinend an Bau von Atomwaffen interessiert“, so lautet seit vergangenem Samstag die Überschrift einer deutschsprachigen Online-Publikation. (1)

Die Meldung entpuppt sich bei näherem Hinsehen als das ferne Echo einer mutmaßlichen PR-Aktion, mit der die USA derzeit in der heißen Phase des Wahlkampfs in Venezuela gegen die sozialistische Regierung des Hugo Chávez Stimmung zu machen versuchen. In Venezuela finden am 26. September Parlamentswahlen statt.

Aber worum geht es genau? Ein Rentnerehepaar in den USA muss sich seit vergangenem Freitag nach Angaben des US-Justizministeriums vor Gericht dafür verantworten, dass es angeblich versucht hat, einem Abgesandten der Regierung von Venezuela Baupläne für Atomwaffen zu verkaufen. Bei dem Käufer habe es sich jedoch um einen FBI-Ermittler gehandelt, meldete dpa.

Die Informationspolitik der US-Behörde richtet sich in diesem Fall anscheinend nach der Devise: Irgendetwas wird wohl hängenbleiben. Jedenfalls überrascht es, wie viel Wert das Justizministerium in Washington darauf legte, die Regierung Venezuelas in ihrer Darstellung des Falls als angeblichen Atomwaffenkäufer überhaupt ins Gespräch zu bringen, um dann wieder zu betonen, dass Venezuela in die neueste Geheimdienstposse in keiner Weise verwickelt sei.

Am Freitag erhoben die Justizbehörden Anklage wegen Spionage gegen den 75-jährigen Atomphysiker Leonardo Mascheroni und seine acht Jahre jüngere Ehefrau. Sie waren nach Informationen der New York Times am gleichen Tag verhaftet und in Albuquerque (New Mexiko) dem Richter vorgeführt worden.

Der aus Argentinien stammende US-Wissenschaftler, so hieß es in einer dpa-Meldung, war in den 1980er Jahren im US-amerikanischen Atomforschungszentrum Los Alamos tätig. Der Arbeitgeber des danach schon zu einiger Prominenz gelangten US-Staatsbürgers habe sich damals im Streit von ihm getrennt. Damals sei er der Spionage für Argentinien verdächtigt worden, heißt es in verschiedenen US-Medien. (2) Seine Frau habe noch bis vor kurzem als technische Redakteurin in Los Alamos gearbeitet. Im Fall einer Verurteilung soll den beiden eine lebenslängliche Haftstrafe drohen.

“Wenn ich wirklich ein Spion wäre“, sagte Mascheroni laut New York Times einem Reporter, dann hätte er das Land schon vor langer Zeit verlassen. (3) In der Tat wäre es merkwürdig, wenn ein alter Mann, der bereits der Spionage verdächtigt worden war und wissentlich unter FBI-Beobachtung gestanden hatte, noch einmal in Sachen Atom-Spionage konspirativ tätig geworden wäre. Als das Haus des Wissenschaftlers im Oktober 2009 schon einmal durchsucht worden war, äußerten sich einige seiner ehemaligen Kollegen zugunsten Mascheronis.(4)

Was an dem Vorfall außerdem überrascht, ist das Ausmaß, mit dem die Öffentlichkeit schon kurz nach der Verhaftung vom US-Justizministerium mit Detailinformationen gefüttert wurde. Demnach soll Leonardo Mascheroni dem vermeintlichen Agenten Venezuelas gesagt haben, er könne dem lateinamerikanischen Land helfen, binnen zehn Jahren die Atombombe zu bauen. Seine Frau soll ihm beim Verfassen eines Schriftstücks geholfen haben, in dem es um US-Atomgeheimnisse ging. Das Papier habe er dann an einem vereinbarten Ort deponiert, wo es der Agent abholen sollte. Für seine Dienste habe Mascheroni laut Anklage fast 800.000 Dollar (613.480 Euro) sowie die venezolanische Staatsbürgerschaft erhalten wollen.

Für den Sachverhalt tut es eigentlich nichts zur Sache, im Auftrag welcher Regierung der vorgebliche Atomwaffenkäufer gehandelt haben soll. Daher ist es nicht allzu weit hergeholt, dass die US-Justiz-Behörde die Gelegenheit benutzt hat, dem schlechten Image der Regierung Chávez in den USA qua Dementi neue Nahrung zu geben. Denn vor dem Spionage-Vorfall und den entsprechenden Pressauskünften hatte man von illegalen Atomwaffen-Plänen der Regierung Chávez noch nicht viel gehört.

In der Fachsprache der Public-Relations-Experten nennt man diese besonders perfide Form der Propaganda „Negative Campaigning“. Die ungeliebte Regierung Venezuelas wird als angebliche atomare Bedrohung ins Gespräch gebracht, ohne dass die für diese Meldung Verantwortlichen sich für eine Falschbehauptung rechtfertigen müssen, da sie in Form eines Dementis erfolgte.

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Ganz ähnlich sieht das Carolus Wimmer, der Vizepräsident der venezolanischen Gruppe im Lateinamerikanischen Parlament (Parlatino). Der Politiker bewertet den Vorgang als Einmischung Washingtons in den Wahlkampf seines Landes, berichtete die junge Welt am Montag. (5) Mit der Meldung wolle man für Spannungen im Vorfeld der Abstimmung sorgen und die Glaubwürdigkeit des Präsidenten Hugo Chávez erschüttern.


(1) http://latina-press.com/news/46614-venezuela-anscheinend-an-bau-von-atomwaffen-interessiert/
(2) http://news.google.com/newspapers?id=u_caAAAAIBAJ&sjid=6EcEAAAAIBAJ&pg=6886,4344224
(3) http://www.nytimes.com/2010/09/18/us/18scientist.html?_r=1&partner=rss&emc=rss
(4 http://www.newswest9.com/Global/story.asp?S=11386248
(5) http://www.jungewelt.de/2010/09-20/050.php

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