Weltpolitik

Syrien-Krieg: „Rote Linie“ überschritten?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Nach dem mutmaßlichen Giftgasangriff in der syrischen Region Ghuta bei Damaskus wächst der Druck der „westlichen Wertegemeinschaft“ auf die Assad-Regierung –

Von SEBASTIAN RANGE, 22. August 2013 –

Dutzende ins Internet gestellte Videos lassen das grausame Ausmaß der in der Nacht zum Mittwoch erfolgten Attacke erahnen. Sie zeigen reihenweise Leichen und Menschen, die sich im Todeskampf befinden. Augenscheinlich weisen die um ihr Leben Ringenden und die Toten, unter denen sich eine hohe Anzahl Kinder befinden, keine äußeren Verletzungen auf. Alles deutet darauf hin, dass sie durch toxische Substanzen getötet beziehungsweise verletzt wurden. Und es sind viele. Wie viele Menschen durch den mutmaßlichen Einsatz eines giftigen Gases ums Leben kamen, ist derzeit noch völlig unklar. Aber die Zahlen übersteigen alle bisherigen Fälle, in denen Chemiewaffen in Syrien zum Einsatz gekommen sein sollen, bei Weitem. Die Rede ist von mehreren hundert bis zu über eintausend Toten.

Vertreter der Opposition machen die syrische Armee verantwortlich. „Dieses Mal wollte das Regime die Menschen nicht einschüchtern, sondern auslöschen“, erklärte George Sabra, Vertreter der Nationalen Syrischen Allianz, gegenüber der Agentur Reuters.

In einer Botschaft an westliche Diplomaten schrieb Kamal al-Labwani, der dem Führungsgremium der Allianz angehört: „Wir fragen den Westen, und besonders (US-)Präsident Obama, was die roten Linien und das Benehmen der Supermächte bedeuten, in Anbetracht von Verbrechen dieser Größenordnung.“ Dieser Einsatz mache „alle Hoffnungen auf eine politische Lösung“ zunichte, erklärte Sabra. Obama hatte den Einsatz chemischer Waffen durch die syrische Armee als „rote Linie“ markiert, deren Überschreiten eine militärische Reaktion der Vereinigten Staaten hervorrufen würde.

Hoffnungen auf eine politische Lösung haben sich die Vertreter der Nationalen Syrischen Allianz ohnehin nie gemacht. Denn das vom Westen und den Golfmonarchien protegierte Oppositionsbündnis verweigerte sich bisher jeder politischen Lösung und setzte von Anbeginn auf einen militärischen Sieg. Mit Vertretern des Assad-Regimes könne nicht verhandelt werden, so die Auffassung der Allianz. Aufforderungen Russlands und anderer Staaten, an den geplanten Genfer Friedensverhandlungen teilzunehmen, wurde immer wieder unter Verweis auf die in den vergangenen Monaten zutage getretene eigene militärische Schwäche eine Abfuhr erteilt. Erst müsse die eigene Position auf dem Schlachtfeld gestärkt werden, um sich mit einer entsprechenden Verhandlungsmasse im Gepäck an einen Tisch mit Vertretern der syrischen Regierung setzen zu können.

Doch die militärischen Erfolge wollen sich nicht einstellen. Daher drängt die Allianz auf direkten militärischen Beistand durch die NATO-Staaten. Der Giftgas-Angriff kommt dabei gerade recht

„Reaktion der Stärke“

Gleichwohl Vertreter der NATO-Staaten dessen Untersuchung durch die UN fordern, haben sich einige unter ihnen bereits auf den Urheber des schrecklichen Verbrechens festgelegt.
„Es gibt starke Hinweise darauf, dass es eine Attacke mit Chemiewaffen war – ganz klar von der syrischen Regierung“, zitiert das Wall Street Journal einen US-Regierungsvertreter. Großbritanniens Außenminister William Hague sagte, die Attacke offenbare Assads „mörderische und barbarische“ Art der Herrschaft. Die französische Regierung kündigte ein hartes Vorgehen gegen Syrien an. Sollten die Angriffe bewiesen werden, sei mehr als eine internationale Verurteilung notwendig, sagte Außenminister Laurent Fabius am Donnerstag dem französischen Sender BFM TV. Dann müsse es eine „Reaktion der Stärke“ geben, erklärte Fabius, ohne nähere Details zu nennen.
Insgesamt wird in den westlichen Medien der Ruf nach einer militärischen Intervention lauter. So fordert die einflussreiche US-Zeitung Washington Post „direkte US-Vergeltungsmaßnahmen“ und kritisiert Präsident Obama dafür, in der Syrien-Frage keine aggressivere Haltung einzunehmen. (1)

Innerhalb des US-Militärs scheint das Bedürfnis, dem Aufruf der Washington Post zu einer militärischen Intervention folge zu leisten, hingegen nur gering ausgeprägt zu sein. Erst zwei Tage vor dem mutmaßlichen Giftgas-Einsatz erklärte der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, Martin Dempsey, in einem Brief an einen Kongressabgeordneten, dass eine stärkere militärische Unterstützung der Rebellen den US-Interessen nicht förderlich sei. Er empfahl an der „gegenwärtigen Politik der humanitären Unterstützung und der begrenzten Hilfe für moderate Gruppen der Opposition“ festzuhalten. (2)

Die syrische Regierung wies die Vorwürfe der Opposition zurück. Aus Damaskus hieß es, oppositionelle Terroristen seien besorgt über die zwischen Syrien und der internationalen Staatengemeinschaft geschlossene Vereinbarung zur Untersuchung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen. Seit gestern befinden sich UN-Inspekteure im Land, die bisherige mutmaßliche Giftgas-Einsätze untersuchen sollen. Berichte über den neuen Angriff sollten die Regierung diskreditieren, so das syrische Außenministerium.
Die Führung der syrischen Armee und der bewaffneten Streitkräfte erklärte gestern, die Vorwürfe seien „komplett haltlos und unwahr“, und Teil eines „schmutzigen Medienkriegs gegen Syrien“. (3)
Nach Angaben Russlands sei die syrische Regierung zu „maximaler Kooperation“ mit den UN-Inspekteuren zur Aufklärung des gestrigen Geschehens bereit. Die Führung um Präsident Baschar al-Assad habe logistische Hilfe sowie Zugang zu sichergestellten Proben zugesagt, sagte Außenamtssprecher Alexander Lukaschewitsch heute in Moskau. Russland hoffe, die Untersuchungen würden die „Spekulationen“ um den Einsatz von Chemiewaffen beenden.

Der stellvertretende UN-Generalsekretär Jan Eliasson hatte zuvor erklärt, man habe Gespräche mit der syrischen Regierung aufgenommen. Aufgrund der Sicherheitslage sei ein Zugang zu dem Gebiet derzeit nicht möglich.

Israel übte scharfe Kritik daran, seine Zeit mit der Untersuchung der Vorkommnisse zu verschwenden. „Die Welt verurteilt, die Welt untersucht, die Welt gibt Lippenbekenntnisse ab“, sagte der Minister für strategische Angelegenheiten, Juval Steinitz, im Rundfunk. Der israelische Geheimdienst gehe davon aus, dass das syrische Regime Chemiewaffen eingesetzt habe. „Es wurden chemische Waffen benutzt, und dies natürlich nicht zum ersten Mal“, sagte Steinitz.  „Wir haben es hier mit einem besonders grausamen Regime zu tun.“

Israelische Vertreter hatten in der Vergangenheit bei bekannt gewordenen mutmaßlichen Einsätzen von Giftgas wiederholt das syrische Regime verantwortlich gemacht. Bislang gibt es jedoch keine überprüfbaren oder stichhaltigen Beweise für diese Schuldzuweisungen.

Für Israel ist der Sturz Assads ein Muss, also unter allen Umständen zu erreichen, wie hochrangige Militärs vor Tagen erneut bekräftigten. (4) Auch unter dem Gesichtspunkt, dass islamistische Fanatiker die Macht in dem arabischen Land an sich reißen. Die Bedrohung durch die „Achse des Widerstands“ aus Iran, Syrien und der Hisbollah ist nach Meinung israelischer Strategen größer als die, die von Al-Qaeda ausgehe. (5)

„Akt der Täuschung“

Konträr zur Einschätzung des Westens bewertet Russland das gestrige Massaker bei Damaskus.

Das russische Außenministerium sprach diesbezüglich von einem „Akt der Täuschung“, der zuvor geplant worden sei. „Voreingenommene Medien“ hätten „unverzüglich eine aggressive Kampagne begonnen, um der syrischen Regierung die volle Verantwortung zuzuweisen“, erklärte Außenministeriumssprecher  Alexander Lukaschewitsch. Es sei kein Zufall, dass diese Kampagne mit dem Eintreffen der UN-Inspekteure begonnen  habe, die bisherige mutmaßliche Chemiewaffeneinsätze untersuchen sollen.  

Auch der Vorsitzende des Duma-Kommittee für Internationale Angelegenheiten, Leonid Kalschnikow, sprach von einem „weiteren Akt der Täuschung seitens der Terroristen und ihren Unterstützern“. (6)

Nicht die syrische Regierungsarmee, sondern die Oppositionskämpfer hätten eine Rakete mit unbekanntem chemischem Giftstoff eingesetzt. „Die selbstgemachte Rakete wurde am frühen Mittwochmorgen von den Stellungen der Regimegegner aus abgefeuert worden“, sagte Bolschewikisch. Ziel des Beschusses sei ein Vorort von Damaskus gewesen, in dem die Armee in den letzten Tagen intensiv gegen die Rebellen vorgegangen sei. (7)
Diesbezüglich berichtet die New York Times von einem Foto, das ein „Aktivist“ veröffentlicht habe, das etwas zeige, was wie eine „selbstgebaute Rakete“ aussieht. (8)

Nach einer ersten Sichtung des Bildmaterials von den Opfern der Attacke hält Dan Kaszeta, ehemaliger Offizier des US-Corps für Chemiewaffen, einen Einsatz bisher bekannter Kampfgase für unwahrscheinlich, berichtete die Welt. Das medizinische Personal wäre bei Sarin und ähnlichen Stoffen sofort kontaminiert worden und vermutlich selbst gestorben. Dennoch seien die Menschen an „irgendeiner toxischer Substanz“ gestorben, so Kaszeta. (9)

Eine selbst gebastelte Rakete mitsamt improvisierter chemischer Kampfstoffe entspricht der Vorgehensweise einer Attacke vom 19. März dieses Jahres in Khan al-Assal. In dem damals von syrischen Truppen kontrollierten Vorort Aleppos starben nach einem Raketeneinschlag mindestens 24 Menschen, darunter Soldaten der Regierungsarmee. Bei dem verwendeten Giftgas habe es sich laut einer russischen Untersuchung um eine selbst produzierte, simple Variante des Nervengifts Sarin gehandelt. (10)  Hintergrund berichtete vor zwei Monaten von den Plänen aufständischer Terroristen, Giftgas einzusetzen, nachdem mehrere Fälle bekannt geworden waren, bei denen Vorräte chemischer Kampfstoffe bei Rebellen beschlagnahmt worden waren. (11)  

Vor rund drei Wochen eroberten Rebellen Khan al-Assal und erschossen „gefangengenommene regierungstreue syrische Soldaten und Zivilisten – insgesamt rund 150 Menschen“, wie es in einer  Stellungnahme des russischen Außenministeriums heißt. (12)

„Die Zeugen hätten vor dem UN-Sekretariat aussagen und diejenigen nennen können, die chemische Waffen eingesetzt hatten“, zitiert die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti aus einer Erklärung, die der syrische UN-Botschafter Baschar Dschaafari in der UN-Vollversammlung in New York abgegeben hatte. (13)

Fragliches Motiv

Auch der am Mittwoch erfolgte Angriff geht wahrscheinlicher auf das Konto der Aufständischen als  auf das der syrischen Armee. Zumindest habe letztere kein Motiv, so Oliver Thränert, Leiter des Think Tank am „Center for Security Studies“ der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

„Gerade jetzt, wo Assad sich mit seiner Machtposition wieder konsolidiert zu haben scheint, wäre er nicht gut beraten, mit einem größeren Chemiewaffeneinsatz auf die Tagesordnung zu treten“, zitiert ihn die Deutsche Welle (DW). (14) „Zur Zeit kann ich mir aus Sicht des Regimes aber keinen im Sinne seines Erhaltes vernünftigen Grund vorstellen, der es veranlassen sollte, Chemiewaffen einzusetzen“, erklärte auch Margret Johannsen gegenüber DW.

Laut der Nahost-Expertin Johannsen am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“ der Universität Hamburg sei die Assad-Regierung aufgrund ihrer großen Übermacht gar nicht darauf angewiesen, solche Waffen einzusetzen. „Die bisherige Rationalität des Regimes wäre durch einen solchen Einsatz konterkariert“, so Johannsen. Es würde damit dem Westen leichtfertig einen Kriegsgrund liefern. Es sei darum nicht ausgeschlossen, dass auch der aktuelle Angriff vor allem propagandistischen Zwecken dient. „Jede der kämpfenden Parteien, die den Westen zu einem militärischen Einsatz bringen will, könnte versucht sein, einen solchen Einsatz als ‚agent provocateur’ durchzuführen.“

Tatsächlich würde der Einsatz von Giftgas durch syrische Truppen weder militärstrategisch, politisch, noch propagandistisch einen Sinn machen. Aufgrund der erzielten militärischen Erfolge in den vergangenen Monaten gibt es überhaupt keine Veranlassung, eine auch in der Verwendung für die eigenen Truppen so riskante Waffe einzusetzen, und den NATO-Staaten einen Vorwand für ein direktes militärisches Eingreifen frei Haus zu liefern. Zudem wären die politischen Folgen für die syrische Regierung fatal, da sie dann den Rückhalt Russlands verlieren dürfte.

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Anmerkungen

(1) http://www.washingtonpost.com/opinions/syrian-attack-should-prompt-us-investigation-into-chemical-weapons/2013/08/21/92d263f4-0a7b-11e3-8974-f97ab3b3c677_story.html
(2) http://rt.com/usa/syria-rebels-toxic-arms-797/
(3) http://sana.sy/eng/337/2013/08/21/498376.htm
(4) http://english.al-akhbar.com/content/tel-aviv-%E2%80%9Caxis-evil%E2%80%9D-cannot-be-allowed-win-syria
(5) http://www.bicom.org.uk/news-article/13169/
http://www.project-syndicate.org/commentary/syria-and-the-threat-to-us-national-security-by-itamar-rabinovich
(6) http://sana.sy/eng/22/2013/08/21/498486.htm
(7) http://de.rian.ru/politics/20130821/266711380.html
(8) http://www.nytimes.com/2013/08/22/world/middleeast/syria.html?pagewanted=2&_r=1&smid=tw-share&
(9) http://www.welt.de/politik/ausland/article119257159/Die-Tragoedie-von-Damaskus-gibt-Raetsel-auf.html
(10) http://www.hintergrund.de/201307102674/kurzmeldungen/aktuell/syrien-rebellen-sollen-chemiewaffen-eingesetzt-haben.html
(11) http://www.hintergrund.de/201306062609/politik/welt/syrien-armee-siegessicher-aufstaendische-planen-giftgas-einsatz.html
(12) http://de.rian.ru/politics/20130729/266571777.html
(13) http://de.rian.ru/security_and_military/20130729/266571919.html
(14) http://www.dw.de/r%C3%A4tselraten-um-chemiewaffeneinsatz/a-17037873

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