Weltpolitik

Totale Sozialkontrolle

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Von IGNACIO RAMONET, 6. Mai 2009

Sogar wenn er allein ist, kann er nie sicher sein, ob er wirklich allein ist. Wo er auch sein mag, ob er schläft oder wacht, arbeitet oder ausruht, in der Badewanne oder im Bett liegt, kann er ohne Warnung und ohne Kenntnis beobachtet werden. Nichts, was er tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Zerstreuungen, sein Verhalten gegen Frau und Kinder, sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist, die Worte, die er im Schlaf murmelt, sogar die charakteristischen Bewegungen seines Körpers, alles wird einer peinlich genauen Prüfung unterzogen. (…) Er hat in keiner Hinsicht die freie Wahl.
(George Orwell, 1984)

Niemand kann mehr bezweifeln, dass wir alle beobachtet observiert und erfasst werden. Während eines Spaziergangs, auf dem Markt, im Bus, in der Bank, in der U-Bahn, im Sportstadium, in der Buchhandlung, auf den Straßen – stets schaut uns jemand durch die neuen digitalen Schlüssellöcher zu. Wir sind weltweit in den Maschen des Überwachungsnetzes gefangen, dem penetranten Blick der Satelliten aus dem Weltall ausgesetzt. Die Pupillen der Kameras überwachen uns still auf den Straßen. Das Echolon-System überprüft unsere E-Mail-Kommunikation und unsere Telefongespräche. (1) RFID-Chips auf den von uns erworbenen Waren erstellen ein Profil unseres Konsumverhaltens. (2) Jeder Gebrauch eines Computers, des Internets oder der Kreditkarte hinterlässt unlöschbare Spuren, die unsere Identität verraten, unsere Persönlichkeit, unsere Neigungen. Die einstigen Befürchtungen George Orwells, die uns so lange utopisch und fast schon paranoid vorkamen, haben sich bestätigt. (3)

Das notwendige Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit ist zerstört worden. In ihrer Absicht, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu beschützen, neigen die Institutionen unserer modernen Demokratien dazu, in jedem einzelnen Bürger einen potentiellen Übeltäter zu sehen. Der erbarmungslose Krieg gegen den Terrorismus – ein zentrales Thema der inneren Sicherheitspolitik in den vergangenen zehn Jahren – hat unseren Staaten ein einwandfreies moralisches Alibi und ein beeindruckendes Gesetzesarsenal verschafft, um ihr Projekt einer umfassenden Sozialkontrolle umzusetzen. (4) Die technologischen „Fortschritte“ in Informatik und digitaler Technik haben den staatlichen Institutionen zugleich geholfen, ihre Methoden der elektronischen Überwachung immer weiter zu perfektionieren.

„Es wird zwar weniger Privatsphäre geben, aber mehr Sicherheit“, bekommen wir zu hören. Im Namen dieses neuen kategorischen Imperativs wurde in unseren Ländern langsam und schmerzlos ein Regime geschaffen, das wir als „Kontrollgesellschaft“ charakterisieren können. Der Unterschied zum Modell der „disziplinären Gesellschaft“, in denen fehlgeleitete Mitglieder in Gefängnissen, Besserungs- oder Irrenanstalten isoliert wurden, schließt die Kontrollgesellschaft die Verdächtigen – also fast alle Bürger – unter freien Himmel ein, indem sie ständig überwacht werden. Mitunter geschieht das mit Hilfe von Überwachungsapparaten, die sie selbst aus eigenem Antrieb und frei erworben haben: Computer, Mobiltelefone oder andere informationstechnologische Geräte, Kreditkarten, Palm-Taschencomputer, Fahrkarten oder GPS-Leitsysteme. In anderen Fällen geschieht die Spionage über diskrete und verdeckte Systeme, über die jede Bewegung einer Person ausgespäht und beobachtet werden kann. Dazu zählen Radargeräte auf den Straßen oder die allseits präsenten Überwachungskameras. (5)

Diese Kameras sind inzwischen derart verbreitet, dass etwa in Großbritannien, wo vier Millionen dieser Aufnahmegeräte installiert wurden (also eine auf 15 Einwohner), eine einzelne Person bis zu 300 Mal am Tag aufgenommen werden kann. Die neuen Gigapan-Kameras ermöglichen mit ihrer hohen Auflösung von bis zu einer Milliarde Pixel bei nur einem Bild und mit einer unglaublichen Zoomfunktion, das Gesicht von jedem einzelnen der Tausenden Menschen in einem Sportstadium, auf einer Demonstration oder einer politischen Großveranstaltung nach biometrischen Kriterien zu scannen. (6)

Auch wenn seriöse Studien die Effizienz dieser Videoüberwachung in Frage stellen, wächst das Vertrauen in diese Technologie ständig. Indem sie die von ihnen selbst geschürte Terrorparanoia ausnutzen, haben einige Regierungen wahre Bataillone ziviler und freiwilliger Spitzel geschaffen, deren Mitglieder die Behörden über alles informieren, was sie hören und sehen. Im Jahr 2002, noch unter der Regierung von George W. Bush, hat das US-Justizministerium die „Operation Tips“ (Operation Hinweise) ins Leben gerufen. Rund eine Million Arbeiter wurden zu Spitzeln, weil sie Zugang in Privaträume der Menschen hatten. Klempner, Maurer, Antenneninstallateure, Elektriker und Gärtner wurden gezielt angeworben, damit sie, wenn ihnen etwas Verdächtiges auffällt, eine zentrale Telefonnummer anrufen.

Der Wandel von einer Informationsgesellschaft zu einer Gesellschaft von Informanten ist auch das Ziel eines Projektes der Texas Border Sheriff´s Coalition, der Vereinigung der Grenzschutzbeamten im US-Bundesstaat Texas. In ihrem Auftrag wurden 15 Kameras zur Videoüberwachung an verlassenen, aber strategischen Punkten entlang der US-Grenze zu Mexiko installiert. Diese Kameras sind mit dem Internet verbunden (www.blueservo.net), so dass jeder Internetnutzer auf der Welt von seinem Computer aus die Wüstenlandschaften von Texas oder die Flussufer des Rio Grandes ausspähen kann. Wenn diese Beobachter einen Emigranten sehen, der heimlich über die Grenze in dies USA zu gelangen versucht, können sie dies über eine einfache E-Mail-Adresse melden. Rund 30 Millionen Internetnutzer aus verschiedenen Ländern der Erde haben sich bereits als freiwillige Spitzel der texanischen Polizei betätigt, um gegen die verdeckten Migrationsströme vorzugehen. Mit der an Schwere gewinnenden Weltwirtschaftskrise und dem damit einhergehenden Anstieg der Fremdenfeindlichkeit kann man sich leicht vorstellen, dass die Zahl solcher freiwilliger Spitzen auch beträchtlich wäre, wenn ein vergleichbares System entlang der europäischen Küsten am Mittelmeer errichtet werden würde.

Es ist eine der Perversionen der aktuellen Kontrollgesellschaft: Sie will ihre Bürger zugleich zu Überwachern und Überwachten machen. Jeder einzelne soll die anderen beobachten, während er selbst von den übrigen überwacht wird. Anders gesagt: In einem demokratischen Umfeld, in dem jedes Individuum von dem garantierten Höchstmaß an Freiheit ausgeht, wird das oberste Ziel der repressiven Politik einer totalitären Gesellschaft umgesetzt.


Anmerkungen:

(1) Echelon ist der Name eines globalen Spionagenetzwerks zur Überwachung von Telefongesprächen und E-Mail-Kommunikation. Es untersteht dem größten US-amerikanischen Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsbehörde (NSA).
(2) Identifizierung mit Hilfe von elektromagnetischen Wellen.
(3) Orwell hat sein Konzept im Jahr 1948 aus Protest gegen die stalinistische Gesellschaft und um Gegensatz zum „demokratischen und freiheitlichen“ Westen entworfen.
(4) „Aus Besorgnis um die Sicherheit der Bürger“ wurde im Jahr 1997 in Spanien das „Gesetz über die Videoüberwachung“ (Ley de Videovigilancia) verabschiedet. Es ebnete den Weg zur Installation von Überwachungskameras an öffentlichen Orten. Einer der am meisten kritisierten Aspekte bei diesem Gesetzvorhaben war der Umstand, dass der Mehrheit der Bürger nicht bewusst ist, dass sie gefilmt werden. Dies, so hieß es, stehe im Gegensatz zum Datenschutzgesetz aus dem Jahr 1999.
(5) Siehe: Armand Mattelart, „Un Mundi vigilado“, Paidós, Barcelona, 2009.
(6) Ein Beispiel dafür liefert das Bild von der Zeremonie zur Amtsübernahme von Barack Obama: http://gigapan.org/viewGigapanFullscreen.php?auth=033ef14483ee899496648c2b4b06233c
Siehe auch: Carlos Martínez, „Todos fichados“, Rebelion.org, 30. März 2009.

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Ignacio Ramonet ist spanischer Journalist und war von 1991 bis März 2008 Direktor der in Paris erscheinenden Monatszeitung für internationale Politik „Le Monde diplomatique“. Seit seinem Ausscheiden bei der französischen Mutterausgabe leitet er die spanische Edition. Seine Leitartikel der spanischen Ausgabe von Le Monde diplomatique erscheinen ab November 2008 monatlich in deutscher Übersetzung bei www.hintergrund.de. Ignacio Ramonet ist Ehrenpräsident von Attac und Mitorganisator des Weltsozialforums.

Übersetzung für Hintergrund: Harald Neuber

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