ARD-Themenwoche

Das „Wir“ fehlt

Auf der einen Seite kümmert sich die ARD um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die sogenannte Themenwoche vom 6. bis zum 12. November hat das „Wir“ zum Inhalt. Mit verschiedenen Sendungen und Formaten soll der Zusammenhalt gestärkt werden, der laut ARD-eigener Umfrage fehlt. Auf der anderen Seite polemisieren Redakteure gegen Menschen mit anderer Meinung. Jüngstes Beispiel: Die Entgleisung eines SWR-Kommentators, der rechtsextreme „Ratten“ zurück in ihre Löcher treiben wollte. Entrüstung und eine redaktionelle Korrektur folgten. Die Hintergrund-Medienrundschau vom 11.11.2022.

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Repräsentative Umfrage von Infratest dimap im Auftrag der ARD zur Themenwoche „WIR gesucht – Was hält uns zusammen?“ ©SWR/Infratest dimap
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In der ARD geht‘s ums „Wir“. Seit dem vergangenen Wochenende läuft die Themenwoche „Wir gesucht“ mit der Frage, was „uns“ zusammenhält. Die Kollegen beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk haben also mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Und nun stellen sie landauf, landab Menschen vor, die sich um ein besseres Miteinander in Deutschland bemühen. Das ist für sich genommen nicht verkehrt. Die Anstrengungen Einzelner sind zu begrüßen, auch wenn die Frage erlaubt sein muss, wie in einer Gesellschaft mit solch großer Spaltung zwischen Arm und Reich, einer Gesellschaft des neoliberalen Kapitalismus, Zusammenhalt wirklich nachhaltig sein kann.

Wir würden aber die Themenwoche nicht in dieser Medienrundschau behandeln, hätten wir nicht auch grundlegende Kritik. Und zwar an der ARD, ihren Anstalten und dem Umgang mit der Spaltung in der Gesellschaft (und, nebenbei gesagt, auch an den Strukturen innerhalb der ARD). Schließlich spalten viele ARD-Journalisten selbst. Sie haben gegen Ungeimpfte gehetzt und wissen auch in der aktuellen Situation, auf welcher Seite sie stehen sollen. Und gegen wen es geht. Gegen Russland. Schaut man sich beispielsweise die Diskutanten der meinungsbildenden Talkshows der ARD an, dann sind Stimmen für den Frieden, für Verhandlungen nur am Rande zu hören.

Eine Quintessenz des viel diskutierten und viel angegriffenen Buches von Richard David Precht und Harald Welzer ist, dass die Stimmung in der Bevölkerung sich keineswegs in der einseitigen Berichterstattung widerspiegelt. Dies lässt sich wieder einmal durch bloße Anschauung bestätigen, denn die Deutschen sind nicht so eindeutig auf Seiten der Ukraine wie die Berichterstattung suggeriert. Im aktuellen Deutschlandtrend der ARD beispielsweise sprechen sich 55 Prozent der Befragten für mehr diplomatische Initiativen der Bundesregierung aus (tagesschau.de, 3.11.22). Wir haben das besagte Buch, das seit einigen Wochen an Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste steht, an anderer Stelle bereits in den Blick genommen.

Es wundert nicht, dass die Journalisten von den Bundesbürgern nicht gerade zu jenen gezählt werden, die für Zusammenhalt sorgen. Genauer: Für nicht einmal die Hälfte, genauer für 48 Prozent der Befragten, leisten sie laut der bereits kurz erwähnten ARD-Umfrage zur Themenwoche einen angemessenen Beitrag für Zusammenhalt. Nun kann man sich die Frage stellen, ob dies überhaupt die Aufgabe von Journalisten ist. Sie haben ja kritisch zu berichten, sollen verschiedene Positionen darstellen und immer wieder die Finger in Wunden legen. Sie sollen auch einmal diejenigen kritisch betrachten, die in der Gesellschaft als strahlende Helden gefeiert werden. Und so gilt auch der Beruf des Journalisten als nicht besonders angesehen. Nach einer aktuellen Umfrage genießen sie gerade einmal bei einem knappen Drittel der Befragten ein hohes Ansehen (Statista, 2.9.22). Da es aber um einen „angemessenen Beitrag“ geht, könnten sie auf Basis ihrer Aufgabe zum Zusammenhalt beitragen, wenn sie zwar kritisch aber ausgewogen (und sachlich) berichteten.

Dass viele dieser Zunft das genaue Gegenteil tun, dafür geben wir gleich ein paar Beispiele. Zunächst zurück zur Umfrage der Themenwoche. Denn diese zeigt eines ganz deutlich: Gerade einmal ein Drittel der Deutschen sehen den Zusammenhalt als „sehr gut“ oder „gut“. Fast die Hälfte empfindet ihn als „eher schlecht“ und 16 Prozent sogar als „sehr schlecht“. Die aktuelle Regierung hat den Zusammenhalt nach Ansicht der Hälfte der Befragten eher verschlechtert. Die ARD kann sich also auf die Schultern klopfen: Die Themenwoche trifft genau ins Schwarze. Wenn dann Aktionen wie das Integrationsprojekt „WE United“ aus Weimar vorgestellt werden (SWR), die sich gegen Rassismus und für die Ukraine engagieren, ist das Narrativ hintenrum auch wieder hergestellt. Immerhin ist ein weiteres vorgestelltes Projekt ein Seelsorgetelefon in russischer Sprache (SWR). Und wir erfahren, dass dieses auch mit kontroversen Meinungen zu tun hat. Es irritiert, dass im Artikel nicht von Sorgen vor anti-russischer Stimmung in Deutschland die Rede ist. So etwas hätte das Wir-Gefühl vermutlich zu stark beschädigt. Und dafür war in der Themenwoche schon Dieter Nuhr zuständig (daserste.de, 7.11.22). Er hat sich gleich über das gesamte Thema lustig gemacht und, wie der Focus schreibt, der Frage nach dem Zusammenhalt eine andere entgegengesetzt: „Wie viel Abweichung ist heute noch erlaubt?“ (Zusammenfassung: Focus, 10.11.22) Eine sehr berechtigte Frage, mit der wir mitten im Thema sind.

Denn die Abweichung vom herrschenden Narrativ ist schließlich Kernthema der Medienrundschau. Wir weichen ab und betrachten jene, die das mit uns tun. Und manchmal auch neben und gegen uns. So wie Nuhr, dessen Meinung wir zwar oft nicht teilen, der diese aber selbstverständlich haben und verbreiten darf. Und soll. Denn, nochmal Nuhr: „Nur ein gleichgeschalteter Staat ist nicht gespalten.“ Das sitzt. Aber Zusammenhalt kann ja auch etwas anderes bedeuten. Aushalten. Aushalten anderer Meinungen und Lebensweisen. Toleranz. Und damit ist es wirklich nicht weit her in unseren Mainstream-Medien.

Einen neuen Tiefpunkt auf der vermutlich nach unten noch weiter offenen Hetz-Skala der Öffentlich-Rechtlichen hat diese Woche der SWR-Korrespondent Nils Dampz erreicht. Er arbeitet ausgerechnet für den Sender, der für die Themenwoche verantwortlich ist. Dampz schrieb in einem Kommentar zu den ersten Tagen von Twitter unter Elon Musk (hierzu sei die Medienrundschau der vergangenen Woche empfohlen):

Musk hat auch angekündigt, dass Twitter zum „Marktplatz der Debatte“ werden solle. Aber auf seinem „Marktplatz“ sollen offenbar auch rassistische oder verschwörerische Ratten aus ihren Löchern kriechen dürfen. Twitter kann nur relevant bleiben, wenn genau diese Ratten – um im Marktplatzbild zu bleiben – in ihre Löcher zurück geprügelt werden. (tagesschau.de, 5.11.22. archivierte Version)

Vorgebliche Rechte und Verschwörer können sich also dort auf Twitter sammeln. Genauer wirds nicht, denn schließlich weiß jeder, was bzw. wer damit gemeint ist. Oder gemeint sein könnte. In jedem Fall die Richtigen aus Sicht der Leitmedien. Allerdings: Die „Ratten“ mussten weichen. In der „korrigierten“ Fassung steht jetzt:

Musk hat auch angekündigt, dass Twitter zum „Marktplatz der Debatte“ werden soll. Aber auf seinem Platz soll offenbar auch Rassistisches oder Verschwörerisches Platz haben. Twitter kann nur relevant bleiben, wenn das konsequent bekämpft wird. (tagesschau.de, 5.11.22, korrigierte Fassung)

Darunter noch eine Entschuldigung. Aber es bleibt einiges dazu zu sagen. Oder zu schreiben. Hier die NZZ:

Trotz der Korrektur ist das gewählte Bild des ARD-Korrespondenten entlarvend. Denn ab wann ist ein Twitter-Nutzer als „rassistisch“ oder Verschwörungstheoretiker einzustufen? Und wem obliegt diese Einordnung? Die Debatte, was alles rassistisch ist, schattiert manchmal ins Groteske. Zum Beispiel dann, wenn schon die Frage nach der Herkunft angeblich rassistisch sein soll. (NZZ, 7.11.22)

Die Kollegin hat recht: Wie kann solch eine Passage der Redaktion durchrutschen? Selbst ohne Themenwoche sollte das eigentlich nicht passieren. Dass jemand sich mal im Ton vergreift, sollte nicht passieren. Passiert es doch, muss es aber in einer funktionierenden Redaktion diskutiert und dann korrigiert werden. Zumal in einer Redaktion von der Größe der Tagesschau. Nochmal die NZZ:

Journalisten und ihre Vorgesetzten sollten genug Bildung besitzen, um sich dieser Rhetorik nicht zu bedienen. Dass Bürger für ihre eigene Abwertung in Meinungsbeiträgen mit Rundfunkgebühren bezahlen, kommt erschwerend hinzu. Dabei verschreiben sich die Anstalten des öffentlichrechtlichen Rundfunks im Medienstaatsvertrag dem Grundsatz, die „Würde des Menschen“ und die „weltanschaulichen Überzeugungen anderer zu achten“. (NZZ, 7.11.22)

Tobias Riegel von den Nachdenkseiten stellt den Artikel in einen größeren Zusammenhang und erinnert unter anderem an den Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, der Russen als „Horde“, „Verbrecher“, „Tiere“, „Unrat“, „Barbaren“ und „Schweine“ bezeichnete.

Die aktuelle sprachliche, mediale und politische Verrohung ist nicht neu – aber seit der Propaganda rund um die Coronapolitik hat sie ganz neue Ausmaße angenommen. Ich weiß nicht, ob es vor drei Jahren möglich gewesen wäre, dass ein Studiopublikum der kürzlich getätigten Aussage applaudiert, das Andersdenkende „geprügelt“ gehören. (Nachdenkseiten, 8.11.22)

Gesagt hat dies die 82-Jährige Schauspielerin Heidelinde Weis in der WDR-Sendung Kölner Treff (WDR, 14.10.22, ab ca. 1:14:30). Konkret gemeint hat sie Leute, die gegen die Impfung demonstrierten. Hintergrund des Ausspruchs war die Erzählung eines anderen Talkgastes über den Corona-Tod seines Vaters, Probleme ein Krankenhausbett zu bekommen und die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager. Dann kam Heidelinde Weis und das Prügeln.

Moderatorin Bettina Böttinger griff nicht ein, sondern nahm den Ball noch auf und stellte die Frage nach Meinungen und Fakten in den Raum. Ohne konkret zu werden. Aber ein guter Konsument der Öffentlich-Rechtlichen weiß schließlich, was gemeint ist. Und auch Santiano-Sänger Björn Both, mit dem Böttinger über den Aspekt wohl im Vorgespräch bereits im Austausch war. Er redete ein wenig im Ungefähren von denen, die jetzt schon wieder unterwegs seien und die Freiheit missbrauchten. Er frage sich, wie die 15 bis 20 Prozent der „Leute“ wieder integriert werden könnten, dass sie wieder Respekt vor Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bekämen. Vielleicht einmal selbst damit anfangen, Herr Both? Demonstrationsrecht, Meinungsfreiheit – genau das ist der Inhalt von dem, in das sie integrieren wollen. Und ansonsten zum wiederholten Mal an dieser Stelle: Wer bestimmt denn die Fakten, etwa die Faktenchecker?

Tobias Riegel hat recht:

In der Zeit der Meinungsmache zur Coronapolitik haben sich die Grenzen der Diffamierung, die sich große Medien und Politiker selber „erlauben“, nochmal verschoben. Gleichzeitig wird Kritikern eben jene „Hetze“ unterstellt. Auf diese verschobenen Grenzen wird seit dem Ukrainekrieg skrupellos aufgebaut. Der gesellschaftliche Schaden, den eine solche sprachliche Verrohung auch jenseits der aktuellen Politik langfristig anrichtet, wird von den Verantwortlichen in Kauf genommen. (Nachdenkseiten, 8.11.22)

An dieser Stelle gegen Ende dieser Medienrundschau erinnern wir noch einmal an ein paar dieser Entgleisungen. Diese Woche ist ein Buch zum Thema erschienen. Marcus Klöckner und Jens Wernicke haben in „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ (Rubikon Verlag) einige der besonders eklatanten Zitate gesammelt und kommentiert, die gegen Ungeimpfte oder Kritiker der Corona-Maßnahmen ins Feld geführt wurden. Zum Beispiel auch von Journalisten der ARD-Anstalten, die genau damit ihren Anteil an der Spaltung haben.

Nehmen wir nur BR-Redakteur Martin Zeyn. Er hat vor knapp einem Jahr nach Bildung der Ampelkoalition in einem Kommentar festgestellt, dass sich die Mehrheit der Deutschen einen Kanzler wünscht, der die Corona-Politik „nicht nur fortsetzt, sondern sogar noch härtere Maßnahmen durchsetzt“. Er schlägt sich auf dem BR-Webportal ganz klar auf eine Seite: „Ihr seid wenige, wir viele“ (BR, 13.12.21, archiviert). Mit dem Wissen die Mehrheit (oder den Mob?) im Rücken zu haben, hat er schon drei Tage zuvor mehr Härte gefordert. Wer keine Maske trage, gehört aus dem Schuldienst entfernt (BR, 10.12.21, archiviert).

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Das genannte Buch, das die beiden Zitate neben vielen mehr (auch solche von weiteren Journalisten) in Erinnerung ruft, einordnet und kommentiert, lohnt die Lektüre. Starke Nerven müssen aber sein. Das Buch hilft zum Verständnis, warum heute bei Redakteuren die Ratten aus Löchern kommen, warum die Prügelstrafe wieder beklatscht wird und wie die ohnehin herrschende Spaltung der Gesellschaft vertieft sowie die Schützengräben des Meinungsstreits fast unüberwindbar tief ausgehoben wurden. Worauf eben jetzt in Zeiten des Krieges zurückgegriffen werden kann. Da hilft auch keine Themenwoche der ARD. Soll sie auch gar nicht.

Schön ist das mal wieder alles nicht. Aber das kennen Sie ja von uns an dieser Stelle. Wir hoffen, dass Sie trotzdem wieder vorbeischauen, uns weiterempfehlen und sich in jedem Fall immer ihre eigene Meinung bilden. Auch über finanzielle Unterstützung freuen wir uns. Aber auch über ihre Anmerkungen und Nachrichten an redaktion@hintergrund.de.

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