Der Karlatan im Mainstream

Von der Gegenöffentlichkeit in die „amtierenden“ Medien

Eine Hintergrund-Recherche findet ihren Weg in den Mainstream. Die umfangreiche Darstellung der Vergangenheit von Gesundheitsminister Karl Lauterbach wurde Grundlage für einen Artikel in der Welt am Sonntag. Denn Lauterbachs wissenschaftliche Laufbahn enthält viele Ungereimtheiten, die unser Autor Thomas Kubo in der Serie „Der Karlatan“ aufgearbeitet hat. Auf unsere Serie haben Mainstream-Medien nicht reagiert, auf die Recherchen der Welt schon. Die Medienrundschau vom 17. März 2023 mit einem Lehrstück zum Thema Mainstream und Gegenöffentlichkeit.

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Überschrift über dem Artikel der Welt am Sonntag.
Foto: Hintergrund, Mehr Infos

Sie können diesen Beitrag auch bei apolut hören.

In diesen Wochen befinden wir als Onlineplattform uns selbst in einem interessanten Schauspiel. Wir können am eigenen Beispiel erfahren, wie starr die Grenze zwischen Mainstream und Gegenöffentlichkeit ist. Und wie sie gleichwohl durchbrochen werden kann. Denn die Welt am Sonntag hat die Recherche unseres Autors Thomas Kubo aufgegriffen und ist selbst der Bewerbung von Karl Lauterbach auf eine Professur in Tübingen nachgegangen. Dabei haben die Kollegen vieles bestätigt, was auch schon vor gut drei Wochen auf unserer Website nachzulesen war. Und sie haben in ihrem Text vom vergangenen Wochenende auch einige neue Aspekte hinzugefügt, das Thema anschließend weiter verfolgt sowie nicht zuletzt durch ihren eigenen TV-Kanal am Kochen gehalten. So wie man das mit einem solchen Thema in den Medien eben macht.

Wer sich näher mit Medientheorie und dem Unterschied von Mainstream, Leitmedien und Gegenöffentlichkeit beschäftigt hat, den wundert das alles nicht. Unsere Veröffentlichung konnten Lauterbach und die anderen Medien noch ignorieren, die der Welt nicht mehr. Wir wollen in dieser Medienrundschau insbesondere darauf schauen, warum das so ist und wie der konkrete Fall – in unseren Augen ein Lehrstück zum Thema Mainstream und Gegenöffentlichkeit – bis jetzt abgelaufen ist. Sie bekommen damit gleichzeitig noch ein wenig Medienkunde. Das kann ja nie schaden.

Der Münchener Medienwissenschaftler Michael Meyen nennt die „Realität der Leitmedien“ eine „Realität erster Ordnung, die niemand ignorieren könne. Hier entstehe das „Gedächtnis der Gesellschaft“ oder ihr „Hintergrundwissen“, beides Begriffe des Soziologen Niklas Luhmann.

Weil wir unterstellen müssen, dass alle anderen das Gleiche gesehen, gelesen, gehört haben, definieren die Leitmedien, was ist und was sein darf, und sorgen so dafür, dass ihre Realitätskonstruktionen in Alltagshandeln und Weltanschauungen übernommen werden. Leitmedien ordnen die Welt und liefern die Kategorien, mit denen wir die Welt beschreiben. (Journalistik, 3/2020)

Die Leitmedien haben also eine Definitionsmacht. Das unterscheidet sie fundamental von den Medien der Gegenöffentlichkeit, zu denen auch wir uns zu zählen haben. Noch mal Michael Meyen:

Was bei RT Deutsch erscheint, auf den Nachdenkseiten oder bei KenFM, kann ich übersehen, ohne Reputation zu verlieren. Oft ist sogar eher das Gegenteil richtig: Wer auf diesen Plattformen publiziert, muss ganz unabhängig vom Inhalt um seine Legitimation fürchten. Das hat Folgen für die Nutzung, die sich am besten mit dem Gegensatzpaar ,muss vs. kann‘ beschreiben lassen.

Damit haben wir bereits beide Seiten beschrieben. Wir haben auf der einen Seite die Medien, die in der Gesellschaft eine Relevanz haben und wahrgenommen werden müssen, wir nennen sie vielleicht etwas vereinfachend Mainstream-Medien. Denn neben dem Hauptstrom gibt es durchaus auch Nebenflüsse. Aber jenseits der Grenze, auf der anderen Seite, gibt es uns bei Hintergrund, es gibt die Nachdenkseiten, Apolut (als Nachfolger von KenFM), Multipolar, das Overton-Magazin und andere. Wenn die Medien der Gegenöffentlichkeit einmal auf der anderen Seite der Grenze auftauchen, zitiert werden, dann meist in diffamierender Absicht. Die Nachdenkseiten gelten dann beispielsweise als Parallelmedien, als Propagandisten Putins oder sie seien halt irgendwie „abgedriftet“, wie es der freie Autor und passionierte Alternativmediengegner Matthias Meisner im vergangenen Jahr einmal geschrieben hat (Tagesspiegel, 29.7.22). Meisner und sein unheilvolles Wirken war an dieser Stelle bereits Thema (Medienrundschau vom 25.11.2022). Parallelmedien ist jedoch nicht ganz verkehrt. Die Alternativmedien gibt es, weil in den Medien jenseits der Grenze, also im Mainstream, bestimmte Themen keinen Platz (mehr) finden.

Das gilt aber nicht für alle Themen, womit wir beim Gesundheitsminister wären. Die Idee, die Vergangenheit von Karl Lauterbach näher zu durchleuchten, entstand bereits vor einiger Zeit. Solche Recherchen haben einen langen Vorlauf, denn wer genau hinschauen will, der wird das nicht von heute auf morgen tun. Und während eine Medienrundschau wie diese zwischendurch entsteht und innerhalb weniger Stunden niedergeschrieben ist, brauchte Thomas Kubo für seine Recherche mehrere Monate. Zumal viele Gesprächspartner sich bedeckt hielten, einige gar nicht antworteten und andere erst nach längerem Bitten oder Drängen bereit waren, mit ihm zu sprechen.

In der Redaktion entschieden wir uns im vergangenen November dafür, den ausführlichen Text in mehreren Teilen zu veröffentlichen. Als einzelner Artikel wäre das mittlerweile auf Studienlänge angewachsene Stück zu lang geworden. Dachten wir damals. Aber da wussten wir nicht, was noch kommen wird. Denn auf einmal kam noch viel mehr. Die Anfrage an das Universitätsarchiv Tübingen um Einsichtnahme der dort lagernden Lauterbach-Bewerbung wurde positiv beschieden und so musste Thomas Kubo einen weiteren Teil der Serie schreiben. Der, wie wir jetzt wissen, der brisanteste ist. Und damit auch für andere Medien von Interesse. Unser Autor nahm Kontakt auf und die Welt „biss an“. Denn wenn eine Geschichte so intensiv und kundig recherchiert ist wie die von Thomas Kubo über den „Karlatan“, dann gibt es an den Fakten wenig rumzudeuten.

Als unser Artikel des fünften Teils Ende Februar erschien, folgte ein kleines Rauschen auf Twitter. Insbesondere weil Klaus Stöhr dort den Text empfahl. Und es passierte, was passieren musste: Der Überbringer der Botschaft wurde zur Zielscheibe. Neben Stöhr waren der Autor der Karlatan-Reihe und wir es, die kritisiert wurden. Stöhr sei „ganz tief im Verschwörungssumpf angekommen“ oder im – anderes Zitat, gleiche Richtung – „braunen rechtspopulistischen, verschwörungsideologischen Sumpf“. Inhaltlicher wird es dann nicht mehr. Was nur für Michael Meyens Aussage spricht, dass man um seine Legitimation fürchten muss, wenn man für Magazine wie das unsrige schreibt.

Deswegen schauen wir nun weiter und auf die Recherche der Welt. Wir wussten davon, dass die Kollegen am Thema arbeiten. Aber erst als Tim Röhn, Chef der Schwerpunktrecherche der Zeitung, auf Twitter den Artikel ankündigte, war klar, dass sie mit dem Thema nun an die Öffentlichkeit gehen. Den Schwerpunkt setzte das Welt-Team auf die von Lauterbach angegebenen Drittmittel. Das verhalf nicht nur zur eingängigen Schlagzeile „Wo sind Lauterbachs Millionen“, sondern ist auch wesentlich einfacher darzustellen und fassbarer als die ganzen fragwürdigen Publikationen in Lauterbachs Liste für seine Bewerbung in Tübingen. Wie Thomas Kubo fand auch die Welt keine Belege für die Behauptungen, Lauterbach habe Mittel eingeworben oder sei Studienleiter gewesen, konnte die Recherche von Thomas Kubo aber erweitern. Wir dokumentieren dies nun auch auf einer eigenen Seite, wo darüber hinaus weitere Erkenntnisse gesammelt werden. Übrigens waren die drei Autoren der Welt fair, sie nannten die ursprüngliche Quelle ihrer Recherche:

Der Verleger Thomas Kubo hatte bereits monatelang nach Belegen gesucht und war nicht fündig geworden; darüber schrieb er jüngst im Blog „Hintergrund“. (Welt am Sonntag, 12.3.23, Bezahlschranke)

„Blog“, na ja. So werden wir alternativen Medien gerne von den „amtierenden Medien“ genannt, um einen Begriff von Richard David Precht und Harald Welzer zu verwenden. Die Begriffskombination beschreibt einen Selbstanspruch:

Wir, die amtierenden Medien, wissen, wo der Hammer hängt, was zu tun ist und vergeben gewissermaßen die Aufträge an die Politik und die Bürgergesellschaft. (Büchermenschen, 30.9.22)

Dass die Wortschöpfung der beiden Medienkritik-Bestsellerautoren (Medienrundschau vom 7.10.22) passt, zeigt die bereits angedeutete Reaktion auf den Welt-Artikel. Denn schon bevor er überhaupt erschienen war, bezog sich Der Westen auf die Recherche. Kurz nach Veröffentlichung zogen dann andere Medien nach, der Focus, t-online.de (inklusive Link auf unsere Website), der Ärztezeitung oder die Frankfurter Rundschau, die dann wie andere Medien der Ippen-Gruppe auch als erste die Stellungnahme von Lauterbach selbst veröffentlichte. Er könne die Sache nicht mehr rekonstruieren, außerdem sei die Qualifikation, nicht die Drittmittel für den Ruf nach Tübingen ausschlaggebend gewesen, den Lauterbach damals ausschlug, ihn aber offenbar nutzte, um bei der Universität Köln eine bessere Verhandlungsposition zu haben.

Für die Welt war Lauterbachs Aussage eine ideale Vorlage, um die Geschichte weiterzudrehen, wie es im Jargon heißt. Denn nun zitierten sie erneut aus den Akten, nach denen die Drittmittel sehr wohl von Belang waren, denn die Universität hatte kaum Geld.

Da kam es gerade recht, dass Lauterbach laut Protokoll „trotz seines noch relativ jungen Alters“ schon die „Anerkennung vieler Fachorganisationen“ erworben hatte und „bereits in verschiedene Funktionen der verantwortlichen Bundesministerien und Kostenträger in Deutschland“ eingebunden war. War das der entscheidende Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten, basierend auf Falschangaben? (Welt, 13.3.23, Bezahlschranke)

Die Welt konnte übrigens auch mit einem Studienleiter sprechen, der nach eigenen Angaben die Drittmittel wirklich eingeworben hat. Auch Thomas Kubo hatte versucht, den betagten Professor zu kontaktieren. Und hier zeigt sich wieder, was wir festgestellt haben: Wer mit uns spricht, der hat Sorge, dass das gegen ihn verwendet werden kann. Mit der Welt kann Prof. Christian Mittermeyer sprechen, ohne seinen Ruf zu riskieren. Übrigens: Interessant ist, dass auch andere Alternativmedien erst mit der Welt-Recherche auf die Geschichte aufspringen. Auch Boris Reitschuster weiß beispielsweise, dass das Thema erst dadurch größere Relevanz erlangt (reitschuster.de, 11.3.23), ebenso die – wie Reitschuster – eher auf der rechten Seite agierende Achse des Guten. Sie hat die Recherche Anfang der Woche ebenfalls aufgegriffen (Achse des Guten, 13.3.23).

Dass die beiden maßgeblichen Welt-Artikel sowie der Kommentar der einen Mitautorin, die den Rücktritt Lauterbachs fordert, nicht frei zugänglich sind, macht nichts. Sie finden alle Inhalte auch bei uns. Oder, wenn Sie wollen, in den diversen Videos, denn die Welt nutzt ihren multimedialen Vorteil: Sie bringt die Geschichte im Blatt, auf der Website und im hauseigenen Fernsehsender (Interview mit den eigenen Kollegen Tim Röhn, Nikolaus Doll und Elke Bodderas, mit FDP-Politiker Wolfgang Kubicki und seinem CDU-Kollegen Tino Sorge). So hält sie die Geschichte am Laufen, lässt die Rücktrittsforderungen von anderen wiederholen und erinnert an Lauterbachs eigene Kritik an Plagiatoren in den Reihen des Bundestags.

Die entscheidenden Leitmedien ARD, ZDF, der Spiegel, die FAZ und die Süddeutsche haben die Geschichte gleichwohl nicht weiter aufgegriffen. Zumindest bis jetzt nicht, dort finden sich maximal Agenturberichte zum Thema. Was wiederum auch mit Lauterbach zu tun hat, der am Tag der Welt-Printveröffentlichung auf einmal im ZDF über die Nebenwirkungen der sogenannten Corona-Impfungen sprach (ZDF, 12.3.23). Das zog selbstverständlich ein größeres mediales Beben als die Vorwürfe der Lebenslauf-Fälschung nach sich. In der Folge konstatieren auch Mainstream-Medien wie der Focus, dass der Minister seinen Status als Volksheld verliere – den wir nie so recht verstanden haben. Wegen der Fälschungsvorwürfe und wegen der Aussagen zu Impfnebenwirkungen, die – natürlich – auch nicht stimmen. Ulrich Reitz fasst seinen Eindruck der Lage wie folgt zusammen:

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Täuscht der Eindruck nicht, dann kann man gerade einem Volkshelden bei dessen Entheroisierung zuschauen. Nach der Art, wie er ihn eingeführt hat, kann Scholz am Ende seine Hände in Unschuld waschen, nach dem Motto: Nicht ich – Ihr Bürger habt ihn doch gewollt. (Focus, 14.3.23)

Und so könnte am Ende der Minister gehen (müssen) und ansonsten alles beim Alten bleiben. Aber wäre Nicht-Recherche besser gewesen? Wir finden: nein. Und deshalb haben wir nicht nur die gesamte Recherche veröffentlicht, sondern auch diese Medienrundschau dem Thema und damit letztlich auch zum Teil uns selbst gewidmet. Wir haben es uns in diesem Fall erlaubt, werden aber beim nächsten Mal wieder auf die anderen schauen. Bleiben Sie uns bis dahin gewogen, bilden Sie sich Ihre eigene Meinung und schreiben Sie uns gerne an redaktion@hintergrund.de. Und abonnieren Sie unseren Newsletter!

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