Scheuklappen des Westens

Die Kunst des Krieges: Unterschiedliche Denksysteme

So wie der Westen Russland nicht verstand und sich überrumpeln ließ, ignoriert das Weiße Haus entschieden die biblische „Endzeit“-Dimension der israelischen Denkweise über den Krieg.

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Palästinensischer Widerstand: Training der Al-Qassam-Brigaden. Dezember 2023.
Foto: al-Qassam Brigades Lizenz: CC0 1.0, Mehr Infos

Jacques Baud, ein Schweizer Militäroffizier, der sich seit langem mit der Erforschung der „Denkweisen“ über den Krieg beschäftigt (vom Warschauer Pakt bis zur NATO, zu der er von seiner Regierung entsandt wurde), hat ein neues Buch geschrieben: Die russische Kunst des Krieges: Wie der Westen die Ukraine in die Niederlage führte. Das Thema seines Buches lautet im Wesentlichen: Die anderen verstehen den Westen besser als der Westen „sie“ versteht.

Baud schreibt, dass der Hauptgrund für die „Scheuklappen“ des Westens „das Ergebnis eines Ansatzes ist, den wir schon bei den Wellen von Terroranschlägen gesehen haben – der Gegner wird auf so dumme Weise dämonisiert, dass wir seine Denkweise nicht verstehen. Infolgedessen sind wir nicht in der Lage, Strategien zu entwickeln, unsere Kräfte zu artikulieren oder sie gar für die Realitäten des Krieges auszurüsten“.

 „Im Westen neigen wir dazu, uns auf den (unmittelbaren) Moment zu konzentrieren und zu sehen, wie er sich entwickeln könnte. Wir wollen eine unmittelbare Antwort auf die Situation, die wir sehen – heute. Der Gedanke, dass ‚das Verständnis, wie die Krise entstanden ist, den Weg zu ihrer Lösung weist‘, ist dem Westen völlig fremd. Im September 2023 hat mir ein englischsprachiger Journalist sogar den ‚Enten-Test‘ gezeigt: ‚Wenn es aussieht wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es wahrscheinlich eine Ente. Mit anderen Worten, alles, was der Westen braucht, um eine Situation zu beurteilen, ist ein Bild, das seinen Vorurteilen entspricht. Die Realität ist viel subtiler als das Entenmodell … “

 

„Das ist der Grund, warum die Russen in der Ukraine besser sind als der Westen, dass sie den Konflikt als einen (organischen) Prozess sehen, während wir ihn als eine Reihe von getrennten, individuellen Handlungen sehen. Die Russen sehen die Ereignisse als Film. Wir sehen sie als Fotografien. Sie sehen den Wald, wir konzentrieren uns auf die Bäume. Deshalb setzen wir den Beginn des Ukraine-Konflikts auf den 24. Februar 2022 – oder den Beginn des Palästina-Konflikts auf den 7. Oktober 2023. Wir ignorieren die Zusammenhänge, die uns stören, und führen Konflikte, die wir nicht verstehen. Deshalb verlieren wir unsere Kriege … “

Baud beschreibt in seinem Buch in hervorragender Weise die militärische Entwicklung, die sich aus diesem westlichen „Denkmodell“ ergibt. Dennoch ist die Erklärung irgendwie unvollständig. Ja, die „Anderen“ haben ein „organisches“ und „prozesshaftes“ Verständnis von Krisen, aber das ist nicht alles.

Der französische Philosoph Emmanuel Todd stellt in seinem Buch „La Défaite“ fest, dass der Westen – mit den USA in ständiger Revolte gegen ihre eigene Vergangenheit – dem Nihilismus und „einem atemberaubenden Dogmatismus im gesamten Spektrum der westlichen Eliten verfallen ist, einer Art ideologischem Solipsismus, der sie daran hindert, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“.

Ich erinnere mich, dass ich einmal die ehemalige Außenministerin Madeline Albright fragte, warum sie Yasser Arafat daran gehindert hatte, verschiedene islamische Autoritäten zu dem radikalen amerikanischen Vorschlag zu konsultieren, die Souveränität unter der Al-Aqsa-Moschee horizontal zu teilen, sodass die Souveränität über dem Boden bei der islamischen Waqf verbliebe, während der „Boden darunter“ unter israelischer Souveränität stünde. Sie sagte mit Nachdruck, dass es das Prinzip des US-Außenministeriums sei, alle religiösen Dimensionen zu ignorieren – und säkular zu bleiben.

Es gibt andere Beispiele: Dick Cheney bestand darauf, dass es in der Geopolitik nur darauf ankomme, „die zugrunde liegende Natur des Menschen“ (aus westlicher Sicht) zu verstehen. Fakten und Geschichte spielten keine Rolle. Was zähle, so Baud, sei ein Bild, das zu den Vorurteilen passe.

Die Konsequenz ist nicht nur, die Welt nicht so zu sehen, wie sie wirklich ist, sondern eine ideologische Teleologie, die sich weigert, die Welt so zu sehen, wie sie ist.

Baud beschreibt detailliert, warum der Westen in der Ukraine systematisch von Russland überrascht wurde und beobachtet, wie dieses tief verwurzelte Vorurteil Russland einen Überraschungsvorteil verschaffte – bis zu dem Punkt, „an dem das westliche Narrativ die Ukraine dazu brachte, die russischen Fähigkeiten völlig zu unterschätzen, was ein wichtiger Faktor für ihre Niederlage war“.

Der springende Punkt ist, dass Bauds Erkenntnisse nicht nur für die Durchführung militärischer Aktionen als solche gelten. Sie können auch als „Denkmodell“ für geopolitische Fehlinterpretationen dienen.

So wie der Westen Russland nicht verstand und sich überrumpeln ließ, ignoriert das Weiße Haus die biblische „Endzeit“-Dimension des israelischen „Kriegsdenkens“ und hält lieber an seinem „liberal-säkularen“ Bild von „Israel“ fest.

In ähnlicher Weise weigert sich der Westen, den Widerstand der Palästinenser und den Widerstand gegen den Zionismus zu verstehen, und wie Baud bemerkt, „ist dies ein Ansatz, den wir bereits bei den Wellen von Terroranschlägen gesehen haben – der Gegner wird so dumm dämonisiert, dass wir seine Denkweise nicht verstehen wollen“.

So verfällt der Westen wieder in die alten kolonialen Standardreaktionen auf das, was er beobachtet (z. B. gegenüber den irakischen Hash’d A-Shaabi oder der Ansarallah im Jemen), indem er sie lediglich als „rebellische“ oder „meuternde“, unzusammenhängende Eruptionen betrachtet, die mit einem kräftigen Schuss niedergeschlagen werden müssen – also als diskontinuierliche, taktische Ereignisse.

Die Gründe für diese irritierenden neokolonialen Ausbrüche werden nicht wirklich erforscht, und es besteht auch kein Interesse daran, herauszufinden, ob sie eine Geschichte haben.

Jacques Baud kommt zu dem Schluss: Das Ergebnis dieses Ansatzes ist, dass unsere Frustrationen von skrupellosen Medien in Erzählungen verwandelt werden, die sowohl Hass schüren als auch das Gefühl der Verwundbarkeit verstärken.

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Der Artikel erschien bei Al Mayadeen English am 4. April 2024 unter dem Titel The Art of War: Different Thinking Systems.

Übersetzung: Hintergrund

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