Das politische Buch - Rezension

Kotau vor den Nationalisten. Eine Geschichtsrekonstruktion der Ukraine

Der Historiker Serhii Plokhy hat sich daran gemacht, eine Nationalgeschichte der Ukraine zu verfassen. Schönfärberei und Legendenbildung gehören bei einem solchen Unternehmen zum Geschäft. Nur erreichen sie bei Plokhy am Schluss ein Ausmaß, das mit Geschichtswissenschaft unvereinbar ist – so das Fazit unseres Rezensenten.

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Der Historiker Serhii Plokhy (Foto) hat eine Geschichte der Ukraine verfasst. Georg Auernheimer hat das Buch gelesen. Sein Fazit: Plokhy verrät seine Zunft an die Nationalisten.
Foto: Anntinomy, Lizenz: CC BY-SA Kollage: Hintergrund, Mehr Infos

Seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters hat man in den meisten Ländern seine Mühe damit gehabt, eine Nation zu konstruieren. Und seit dem 19. Jahrhundert gibt es auch in der Ukraine Bestrebungen, die Bildung einer eigenen Nation mit eigenem Staat zu begründen, wobei sich die Vertreter der Nationalbewegung gegen den Einwand verwahrten, eine eigenständige Entwicklung außerhalb des russischen Einflussbereichs habe es nie gegeben. Putin hat zuletzt solche Zweifel von neuem genährt.

Das ist die Ausgangssituation für die umfangreiche Geschichtsrekonstruktion des Historikers Serhii Plokhy, auf Deutsch kürzlich erschienen unter dem Titel „Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine“. Plokhy, Jahrgang 1957, hat seine Ausbildung zum Historiker in der Sowjetunion absolviert. In den 1990er Jahren ging er nach Kanada, wo es eine große Gemeinde von Exil-Ukrainern gibt, und seit 2007 hat er in Harvard den Lehrstuhl, der nach dem ukrainischen Historiker Hruschewskyi (1866 – 1934) benannt ist. Er hat sich daran gemacht, eine Nationalgeschichte der Ukraine zu verfassen. Schönfärberei und Legendenbildung gehören bei einem solchen Unternehmen zum Geschäft. Nur erreichen sie hier am Schluss ein Ausmaß, das mit Geschichtswissenschaft unvereinbar ist. Der Historiker verrät seine Zunft an die Nationalisten.

Eine große Rolle kommt bei seinem Projekt der Rolle der frühmittelalterlichen Kiewer Rus oder Kyjiwer Rus zu. – Plokhy gebraucht konsequent bei allen Namen die deutsche Umschrift des Ukrainischen. – Auf jenes von Kiew aus beherrschte Reich beruft man sich sowohl in Russland als auch in der Ukraine zur Begründung der Ehrfurcht gebietenden geschichtlichen Herkunft. In der Ukraine hat inzwischen wohl jedes Kind von den Kyjiwer Rus gehört. Plokhy geht es nun um den Aufweis von Indizien für die Sonderentwicklung der frühen herrschaftlichen Territorien auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und deren Orientierung nach dem europäischen Westen hin. Dafür wird schon die Heiratspolitik der Kyjiwer Rus angeführt (S. 81). Auch sei für die späteren galizischen und wolhynischen Fürstentümer die Mongolenherrschaft im Vergleich zum Moskauer Großfürstentum weniger spürbar gewesen (S. 94). Die Erwähnung der italienischen Renaissance und der polnischen „Adelsdemokratie“ in Polen-Litauen (S. 106) soll auf die Zuwendung zur westeuropäischen Kultur und zu nicht autokratischen Modellen in der Vorgeschichte der heutigen Ukraine aufmerksam machen. Das Gleiche gilt für den Calvinismus im damaligen Litauen. Plokhy behauptet auch, im mittelalterlichen Fürstentum Galizien-Wolhynien sähen Historiker schon einen „unabhängigen Staat“ (S. 104), quasi ein frühes Modell für die heutige Ukraine. (Belege bleibt der Verfasser hier wie anderswo oft schuldig.)

Eine sprachgeschichtliche Argumentationslinie zielt darauf ab, die frühe Entwicklung des Ukrainischen oder Ruthenischen zur Schriftsprache zu zeigen. So sei 1568 bei der Union zwischen Polen und Litauen den „ukrainischen“ Woiwodschaften der Gebrauch der ruthenischen Sprache als Gerichts- und Amtssprache garantiert worden (S. 116). Später verweist der Verfasser auf den Druck religiöser Schriften in ruthenischer Sprache im 17. Jahrhundert im Rahmen der Entwicklung Kyjiws zu einem kulturellen Zentrum (S. 153). Im weiteren Verlauf wird er auf die Standardisierung des Ukrainischen und die Entwicklung zur Literatursprache im 19. Jahrhundert aufmerksam machen (S. 222f.)

Das Hetmanat der Kosaken im 17. Jahrhundert wird in der Ukraine gern als Vorläufer der Eigenstaatlichkeit gesehen, so auch von Plokhy. Da der Hetman sich aber 1654 der Zarenherrschaft unterstellt hat, muss der Verfasser damit ein neues Kapitel in seiner Geschichtserzählung aufschlagen. Die folgende Aufteilung der ukrainischen Gebiete zwischen Warschau und Moskau bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hat „tiefgreifende Auswirkungen auf die ukrainische Identität und Kultur“ (S. 181), so die Interpretation von Plokhy. Im Weiteren kann er nur die Ausdehnung des Zarenreichs registrieren.

In Teil III gewinnt die nationale Geschichtserzählung wieder festen Grund mit der Darstellung der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert, von Popen und Professoren unter unterschiedlichen Bedingungen sowohl im Zarenreich als auch in der K. u. k.-Monarchie initiiert. Plokhy verschweigt nicht, dass die Unabhängigkeitsbewegung in Galizien zwischen Ukrainophilen und Russophilen gespalten war, auch nicht, dass die mit der Industrialisierung verbundene Arbeitsmigration die ethnische Zusammensetzung der Ukraine beträchtlich veränderte.

Bis zur Revolution von 1917 lässt sich gegen die Geschichtsrekonstruktion von Plokhy wenig einwenden. Die Interpretation historischer Fakten im Sinn des Nation-Building-Projekts ist nichts Ungewöhnliches. Auch dass der Verfasser dabei auf ganz unhistorische Weise in frühen Epochen öfters von der „Ukraine“ spricht, kann man nachsehen. Aber wenn es nun um die Auseinandersetzung zwischen der neuen Ukrainischen Volksrepublik und der Ukrainischen Volksrepublik der Sowjets geht, wird die Darstellung parteiisch und widersprüchlich. Die von den Sowjets in Charkiw ausgerufene Volksrepublik gilt dem Verfasser als „virtueller Staat“ ohne Basis. Gleichzeitig muss er gestehen, dass die Republik der Sozialrevolutionäre die Kontrolle über die Industriestädte verloren hatte (S. 299). Ihrer Idee attestiert er „breite politische Legitimität“, obwohl er registrieren muss, dass ihnen verlässliche Truppen fehlten (S. 300). Spätestens nach dem repressiven Regime des reaktionären Generals Skoropadskyi stieß die Rote Armee 1920 auf wenig Widerstand.

Beim Rückblick auf die ukrainische Nationalbewegung im Galizien der Zwischenkriegszeit geht Plokhy auf die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) ein. Ihre Ideologie verharmlost er zwar als „radikalen Nationalismus“, aber er verschont nicht Stepan Bandera, erwähnt die Mordprozesse und zitiert sein politisches Bekenntnis vor Gericht, in dem er unter anderem erklärte: „… unsere Idee ist unserem Verständnis nach so groß, dass, wenn es zu ihrer Umsetzung kommt, nicht bloß einzelne, sondern Hunderte, ja Tausende Opfer gebracht werden müssen“ (S. 340). Da müssten zumindest bei deutschen Lesern die Alarmglocken schrillen, wenn sie wissen, dass so einer in der Ukraine als nationaler Held verehrt wird.

Der Sowjetukraine wird Gerechtigkeit zuteil, der heute gängige Vorwurf der Russifizierung widerlegt. Seine ukrainischen Leser klärt Plokhy auf, dass der neue Staat innerhalb der Sowjetunion eine beispiellose Autonomie genoss (S. 327) und dass ukrainische Sprache und Kultur nach Kräften gefördert wurden. Wer die Mär von gezielter Russifizierung glaubt, wird belehrt, dass schlicht Industrialisierung und Urbanisierung dem Russischen zugute kamen, auch dass Intellektuelle das Russische bevorzugten (S. 331). Plokhys Urteil über die Förderung des „ukrainischen Nationalprojekts“ in der frühen Sowjetunion ist bemerkenswert positiv (S. 345). Das gilt allerdings nur bis zum Beginn des Stalinismus. Die große Hungersnot Anfang der 1930er Jahre führt er jedoch nicht auf gezielten Genozid zurück, sondern auf die übereilte Kollektivierung der Landwirtschaft und die von Stalin schonungslos vorangetriebene Industrialisierung. Er deutet dann zwar doch geheimnisvoll „ethnonational gefärbte Maßnahmen“ gegenüber den Ukrainern an (S. 360), gebraucht aber, anders als am Schluss seines Buches, nicht den Begriff Holodomor.

Die Ziele des Vernichtungsfeldzugs Nazi-Deutschlands und die Folgen für die Ukraine werden klar benannt: Entvölkerung des Landes, um Lebensraum für das Herrenvolk zu schaffen. Befremdlich sind vor diesem Hintergrund die Ausführungen über die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA). Man hat den Eindruck völliger Indifferenz, wenn der Verfasser über die Kämpfe gegen polnische Widerstandskämpfer und die Rote Armee berichtet. Dass fast 20.000 Ukrainer in der SS-Division Galizien dienten, wird mit der Bemerkung relativiert, dass „Männer aus nahezu allen europäischen Nationalitäten“ bei der SS waren (S. 395).

Im Kapitel über die Nachkriegszeit würdigt Plokhy den Beitrag Chrutschows beim Wiederaufbau der völlig verwüsteten Ukraine. Chruschtschow war mit einer Unterbrechung bis 1949 Erster Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU). Die Ausführungen über „die zweite Sowjetrepublik“ sind insgesamt wohlwollend.

Nach Eindrücken vom letzten Jahrzehnt der Sowjetunion erinnert der Verfasser daran, dass 1990 zunächst unter ukrainischen Politikern umstritten war, ob man volle Unabhängigkeit oder bloße Autonomie anstreben sollte. Die Weigerung, 1993 dem Werben Jelzins nachzugeben und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten beizutreten, schon bald verbunden mit ersten Schritten in Richtung EU, hat aber unverkennbar seine Sympathie. Der wirtschaftliche Niedergang der Ukraine wird ungeschönt geschildert. Auch dass die neoliberale und nationalistische Politik Juschtschenkos, Favorit des Westens, nicht die Zustimmung des Wohlvolks fand, erfahren die Leser.

Entspricht die Geschichtsrekonstruktion bis dahin, so gewiss sie interessengeleitet ist, meist noch wissenschaftlichen Standards, so macht der Verfasser in den letzten beiden Kapiteln über die „Revolution der Würde“ einen Kotau vor den rechten Kräften in der heutigen Ukraine. Er vergisst dabei einige seiner vorher gewonnenen Erkenntnisse. Seine Erzählung geht so: Menschen unterschiedlicher politischer Couleur haben sich im Herbst 2013 zu friedlichen Protesten versammelt, weil sie aufgebracht waren über den Rückzug des Präsidenten Janukowytsch vom Assoziierungsabkommen mit der EU. Kein Wort über gewaltbereite Gruppen, speziell den Rechten Sektor, über das gewalttätige Vordringen in Regierungsgebäude, kein Wort über die direkte Einmischung von US-Politikern oder über die Rolle der Medien. Die „tödlichen Übergriffe“ im Februar 2014 lastet man, so wie sie erwähnt werden, dem Sicherheitsapparat an. Dass die Absetzung des Präsidenten durch das Parlament ohne Dreiviertelmehrheit nicht verfassungsgemäß war, wird übergangen. Auch das herrschende Narrativ über die Intervention Russlands auf der Krim und im Donbass übernimmt Plokhy. Angriffe auf dortige Städte und Dörfer kommen bei ihm nicht vor. Die „Freiwilligenverbände“ erscheinen als spontane Zusammenschlüsse von Patrioten. Das „Protokoll von Minsk“ enthielt nach ihm außer Waffenruhe keine weiteren Verpflichtungen (S. 480). Die Botschaft heißt: Der Aufstand auf dem Maidan und alles, was folgte, waren im Sinne der ukrainischen Gesellschaft, besser „Zivilgesellschaft“, obwohl er am Schluss verrät, dass im November 2013 lediglich 39 Prozent den Beitritt zur EU gewollt hatten (S. 505).

Im Vorwort kündigt Plokhy an: „Holt man diese Geschichte unter den Trümmern der imperialen Unterdrückung und der entstellenden Darstellungen hervor, lässt sich die demokratische und europäische Ausrichtung der modernen ukrainischen Gesellschaft erkennen“ (S. 22). Die Entwicklung der jüngsten Zeit widerlegt den Verfasser. Und mit seiner Erzählung davon verrät er sein anfängliches Vorhaben. Auch „die moderne multiethnische und multikulturelle ukrainische Nation“ (S. 29) ist eine Imagination. Hätte die Politik sich darauf verständigt, hätte das den Krieg verhindert.

 

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Bibliographische Angaben:

Serhii Plokhy, Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine. Aus dem Englischen von Anselm Bühling u.a., 560 Seiten, Hoffmann u. Campe (Hamburg) 2022, ISBN 978-3-455-01526-3, geb. Euro (D) 30,00, (A) 30,90, CHF 39,90

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