Ukraine-Krieg

150 Tage Krieg – Eine Zwischenbilanz

Die Fronten im Krieg zwischen Russland und der Ukraine sind derzeit festgefahren. Der hybride Krieg zwischen Russland und dem Westen geht weiter. Auf vielen Ebenen. Eine Zwischenbilanz mit vorsichtigem Ausblick.

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Zerstörungen nach einem Angriff auf Bachmut im Kampf um die Stadt Sjewjerodonezk
Foto: https://dsns.gov.ua/ via https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Attack_on_Bakhmut,_in_the_Russian_advance_towards_Siversk.jpg, Lizenz: CC BY, Mehr Infos

Die militärische Lage und ihre Entwicklung

In den ersten etwa 50 Tagen des Krieges waren die ukrainischen Truppen falsch im Land verteilt, die Luftverteidigung und Luftabwehr waren weitgehend ineffektiv und die Koordination war schlecht. Im Bestreben, einen russischen Sturm auf Kiew unter allen Umständen zu verhindern, legte die ukrainische Armee mit schlecht gezieltem Artilleriefeuer Vororte Kiews in Schutt und Asche. Große Truppenteile gerieten in einen Kessel bei Mariupol und mit Cherson erlangte die russische Seite sehr schnell einen Brückenkopf auf der Westseite des Dnjepr – wie wir heute wissen, zum Teil auch infolge von Verrat auf der ukrainischen Seite.

Bis etwa Mitte April gelang es der Ukraine, eine Frontlinie aufzubauen, die sie seither zäh zu verteidigen sucht. Neben dem Fall von Mariupol, der damals bereits nicht mehr zu verhindern war, erlitt sie seitdem mit dem Fall von Sjewerodonetsk und Lyssitschansk eine weitere strategische Niederlage. Führt man westliche Abschätzungen russischer Verluste und die von der Ukraine eingeräumten eigenen Verluste zusammen, so kann man mit gebotener Vorsicht schließen, dass die Ukraine auch seitdem höhere Verluste an Soldaten und Kriegsmaterial erleidet, dass diese Verluste aber nicht um ein Vielfaches höher sind. Der Ukraine sind begrenzte Gegenoffensiven in der Oblast Charkiw und, in geringerem Umfang, am Rande der Oblast Cherson gelungen, die sich bislang noch nicht in strategischen Gewinnen niederschlagen. Charkiw liegt weiter im Schussfeld russischer Artillerie und alle wesentlichen russischen Nachschublinien sind intakt. Die von den USA gelieferten Himars-Raketenwerfer erwiesen sich für den Angriff auf Brückenbauwerke als nur begrenzt geeignet.

Nach der Einnahme von Sjewerodonezk und Lyssitschansk legte die russische Führung eine operative Pause ein, ohne die Angriffshandlungen völlig einzustellen. Selbst nachdem die russische Führung die Wiederaufnahme der Operationen bekanntgegeben hat, ist die Front im Raum Bakhmut, Siwersk, Sloviansk und Kramatorsk nicht wieder stärker in Bewegung geraten. Es ist jedoch zu früh, um daraus zu schließen, dass die ukrainische Seite in diesem Bereich die Frontlinie wird annähernd halten können. Zum einen ist es nicht unerwartet, dass die in der Zwischenzeit aufgebauten Stellungen zur gestaffelten Verteidigung nur mit größerem Aufwand überwunden werden können. Zum anderen ist mit der Errichtung einer Pontonbrücke zwischen Sjeweredonezk und Lyssitschansk eine wichtige russische Nachschublinie erst in den letzten Tagen errichtet worden. Gleichwohl erwarte ich derzeit nicht, dass Sloviansk und Kramatorsk im Laufe des Monats August fallen werden. Wahrscheinlicher ist, dass die russische Seite in diesem Frontabschnitt vorerst nur versuchen wird, bis an den Verteidigungsring um die beiden Städte vorzurücken, ohne jedoch zum Sturm auf die Städte anzutreten. Russland dürfte aus strategischer Sicht eher versuchen, Frontdurchbrüche bei Donezk oder Vuhledar zu erzielen. Sollte das vor etwa Mitte September gelingen, hätte die Ukraine die Schlacht um den Donbass wohl verloren, selbst wenn Sloviansk und Kramatorsk noch einige Zeit verteidigt werden könnten. Sollte die russische Seite umgekehrt bis Ende 2022 weder einen großen Frontdurchbruch im Raum Donezk oder südlich davon erzielen, noch Sloviansk und Kramatorsk einnehmen, dürfte die Ukraine die Schlacht um den Donbass gewonnen haben.

Die ukrainischen Anstrengungen um eine Gegenoffensive konzentrieren sich auf den Süden und dabei vorrangig auf die Oblast Cherson. In Bezug auf die Lage an dieser Front hat die Ukraine eine Nachrichtensperre verhängt, wie auf dem ukrainefreundlichen Portal militaryland.net nachgelesen werden kann.1 Ukrainische Medien dürfen nur Verlautbarungen des ukrainischen Generalstabs zur Lage in diesem Frontabschnitt wiedergeben. Nicht daran gebunden fühlt sich freilich der Berater des ukrainischen Präsidialstabes zu Fragen militärischer Öffentlichkeitsarbeit, Oleksiy Arestovych. Dieser hat behauptet, die ukrainischen Streitkräfte hätten am Rande der Oblast Cherson 1000 russische Soldaten eingekesselt. Eine russische Bestätigung dafür gibt es nicht, man würde diese wohl auch nicht erwarten. Es gibt jedoch auch keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser Meldung in den Verlautbarungen des ukrainischen Generalstabs. Nach den sehr vollmundigen Ankündigen der Ukraine bezüglich einer Großoffensive zur Wiedereroberung der Oblast Cherson, wird es ein Problem mit der Kampfmoral geben, wenn die ukrainische Armee bis Mitte September nicht wenigstens den Teil der Oblast zurückerobert, der westlich des Dnjepr liegt. Das wesentliche Ziel dürfte jedoch die Kontrolle über den Nord-Krim-Kanal sein, der die Krim mit Wasser versorgt und den die Ukraine 2014 blockiert hatte. Dieser zweigt bei Nova Kakhovka östlich vom Dnjepr ab. Russische Fallschirmjäger hatten den Blockadedamm bereits am 26. Februar gesprengt. Eine Wiedererrichtung dieses Damms würde Russland schwer treffen.

Die innenpolitische Situation der Ukraine

Glaubt man der westlichen Propaganda, so steht die ukrainische Bevölkerung nahezu einmütig hinter der Regierung und der Kriegsanstrengung. Dieses Bild ist stark überzeichnet. In den letzten beiden Wochen ist es zu erheblichen Umbesetzungen im Geheimdienst, der Staatsanwaltschaft und den Regionalverwaltungen gekommen. Als Grund wurde Verrat einer hohen Anzahl von Amtsträgern angeführt. Der ukrainische Patriotismus kann also zumindest in der Oberschicht nicht so stark ausgeprägt sein. Im Donbass haben sich viele Einwohner geweigert, der zentral initiierten Entvölkerungspolitik von Gebieten zu folgen, welche die Regierung fürchtet, demnächst zu verlieren. Das Ergebnis dürfte eine lokale Restbevölkerung sein, die auf eben diesen ukrainischen Gebietsverlust hofft. Für diese Interpretation spricht, dass die ukrainische Regierung 100 US$ Kopfgeld für Hinweise auf Artilleriebeobachter ausgelobt hat, welche russisches Feuer auf ukrainische Einheiten lenken. So etwas tut man nicht derart öffentlich, wenn es sich nicht um ein erhebliches Problem handelt. Gäbe es nur Einzelfälle, wäre wohl auch das Kopfgeld höher angesetzt worden.

Die innenpolitischen Probleme gehen über den Verrat einer Minderheit hinaus. Diese Woche wurde Hennadij Korban ausgebürgert,2 der Chef der Gebietsverteidigung der Stadt Dnipro (früher Dnjepropetrovsk), die fast 1 Million Einwohner hat. Er hatte im Ausland seine Familie besucht und ihm wurde an der polnisch-ukrainischen Grenze der Pass entzogen. In diesem Fall geht es nicht um Verrat, sondern um Kritik Korbans an der Regierung in Kiew, der er mangelnde Unterstützung der Verteidigungsanstrengungen in Dnipro vorgeworfen hatte. Insgesamt kann man in Bezug auf die Neubesetzungen vieler hoher ukrainischer Ämter in den letzten Wochen durchaus den Begriff Säuberungen verwenden. Solche Vorgänge sind immer ein Zeichen von Furcht, sonst die politische Kontrolle zu verlieren.

Die finanzielle Situation der Ukraine

Im Prinzip ist die ukrainische Regierung sowohl nach innen als auch nach außen zahlungsunfähig. Die Ausgaben übersteigen die Einnahmen beträchtlich. In dieser Situation sind nahezu 150 Tage lang nationale Devisenreserven verwendet worden, um den Kurs der ukrainischen Währung Hryvnia gegenüber dem US-Dollar zu halten. Am vergangenen Donnerstag wurde die Währung dann um einen Schlag gegenüber dem US-Dollar um 25 Prozent abgewertet.3 Diese Abwertung, durch die sich nun alle Importwaren verteuern werden, trifft auf eine Inflationsrate, die bereits 18 Prozent beträgt. Bis Jahresende wird ein Anstieg auf 30 Prozent erwartet. Eine der Ursachen ist, dass die Regierung ihr Defizit von etwa fünf Milliarden US-Dollar monatlich dadurch finanziert, dass die Zentralbank Geld druckt.

Dadurch wird allerdings nicht das Problem gelöst, dass die Ukraine Auslandsverbindlichkeiten hat, für die sie Schuldendienste leisten müsste. Westliche staatliche Gläubiger scheinen sich auf ein Moratorium für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren geeinigt zu haben. Das bedeutet, dass die Ukraine als zahlungsunfähig angesehen, aber nicht offiziell als zahlungsunfähig bezeichnet wird. Die ukrainische Regierung behauptet laut FAZ,4 dass sich auch große westliche Finanzfonds bereit erklärt hätten, ein solches Moratorium mitzutragen. Das würde bedeuten, dass westliche Privatanleger zur Finanzierung des ukrainischen Defizits zwangsverpflichtet würden. Je nach Art der Fonds könnte es sich dabei auch um eine Kürzung zukünftiger Pensionszahlungen handeln. Im Falle von betrieblichen oder öffentlichen Pensionsfonds haben die einzelnen Personen, die Einlagen geleistet haben, auch ohne anderweitige Verluste nicht die Möglichkeit dem zu entgehen. De facto werden die ukrainischen Kriegskosten auf die Bürger westlicher Staaten umgelagert, entweder über Steuern oder über Anlagegelder, ohne dass es darüber eine politische Diskussion oder Parlamentsabstimmungen gäbe.

Nun kann man durchaus der Meinung sein, dass es aus westlicher Sicht töricht wäre, die Ukraine in dieser Situation bankrottgehen zu lassen. Das eigentliche Problem ist die verdeckte Finanzierung, die nicht an Bedingungen geknüpft wird. Das ukrainische politische System ist bekanntermaßen korrupt. Wenn der Westen den Staat finanziell über Wasser hält, kann er ein Mitspracherecht bei wichtigen Ausgabeentscheidungen beanspruchen, mindestens aber detaillierte Rechenschaft darüber.

Die politische Situation in Europa

Ich habe hier mehrfach geschrieben5, dass Russland einen militärischen Krieg gegen die Ukraine, gleichzeitig aber einen hybriden Krieg gegen den gesamten Westen führt, wobei der hybride Krieg vor allem wirtschaftliche Aspekte hat. Während die Ukraine ihre militärischen Fronten Mitte April im Wesentlichen stabilisieren konnte, ist die Lage an der wirtschaftlichen Front für die EU immer schlechter geworden. Die Sanktionen schaden eindeutig der EU mehr als Russland. Nun kann man natürlich sagen, dass die EU wirtschaftlich erheblich höhere Ressourcen als Russland hat und sich daher höhere eigene Verluste leisten kann, um dadurch Druck von der Ukraine zu nehmen. An den Finanzmärkten scheint diese Einschätzung jedoch nicht en vogue zu sein. Der Euro fällt, während der Rubel sich stabilisiert hat. Die russische Inflationsrate geht wieder zurück, während diejenige in der Euro-Zone weiter wächst. Zu beachten ist auch, dass Russland ein einzelnes Land ist, das auch noch stark zentralistisch geführt wird. In der EU divergieren hingegen die Interessen stark. Selbst wenn man sich einig darüber wäre, in welchem Grade man die Ukraine unterstützen will, würde es immer noch zu Dissens bezüglich der Lastenverteilung kommen.

So sehen etwa Spanien und Portugal nicht ein, wieso sie ihren Gasverbrauch einschränken sollen, da sie nie in erheblichen Mengen von billigem russischem Gas profitiert hatten. In der italienischen Bevölkerung sind Waffenlieferungen an die Ukraine nicht populär. Das ist einer der Hintergründe der gegenwärtigen Regierungskrise. Mitte Juni hatte die an der Regierung beteiligte Fünf-Sterne-Bewegung sich offen gegen die Waffenlieferungen ausgesprochen, nachdem ihre Umfragewerte gesunken waren. Daraufhin griff der aus der Fünf-Sterne-Bewegung stammende Außenminister Di Maio, als Regierungsmitglied unter Draghi stramm auf die EU-Linie verpflichtet, die Führung der Bewegung scharf an. Schnell war von einem möglichen Ausschluss Di Maios die Rede, der diesem jedoch durch eine eigene Abspaltung zuvorkam, wobei auch der Wunsch eine Rolle gespielt haben könnte, der zeitlichen Mandatsbeschränkung in der Fünf-Sterne-Bewegung zu entgehen. Der Brand schwelte einige Zeit, wurde durch Indiskretionen wieder entfacht und schließlich blieb der Fünf-Sterne-Bewegung gar nichts anderes übrig, als die Regierung Draghi scheitern zu lassen. Zu erwarten ist nun bei den Wahlen im September der Sieg einer Koalition, die sich politisch näher im Umfeld Viktor Orbans befindet, als in demjenigen Brüssels. Wesentlich ist das hier deshalb, weil es die Einigung der EU auf ein gemeinsames Vorgehen in der Ukrainefrage und der Energiefrage ab Oktober zusätzlich erschweren dürfte. Im Winter wird die EU vor einem abermaligen Test ihrer Handlungsfähigkeit stehen und vergangene Tests derselben sind nicht besonders gut verlaufen. Eine andere Meldung der Woche war zum Beispiel, dass Litauen bezüglich der Blockade von Kaliningrad von der EU zurückgepfiffen wurde. Dazu war gerade die Anstandsfrist eingehalten worden, in der man Russland noch hinhalten konnte. Es heißt jetzt, dass die von Litauen umgesetzten Sanktionen nur für Lieferungen auf dem Straßenweg gelten würden, nicht aber für solche auf dem Bahnweg. Auch wenn die Standards bei gesichtswahrenden Bemäntelungen allgemein nicht sehr hoch sind, wirkt diese doch besonders lächerlich.

Fazit

Nach 150 Tagen Krieg ist noch kein Ende abzusehen. Russland hat bezüglich des hybriden Kriegs mit dem Westen weiterhin ein Interesse, die militärische Auseinandersetzung mit der Ukraine hinzuziehen und kann sich das wirtschaftlich auch leisten. Gleichwohl muss die russische Armee bis etwa Mitte September weitere strategische Erfolge vorweisen, um die Unterstützung zu Hause und die Erneuerung des Personals nicht zu gefährden. Währenddessen muss sie strategische Erfolge der ukrainischen Seite im Raum Cherson und insbesondere eine Blockade des Nord-Krim-Kanals verhindern. Wenn beides gelingt, wird Russland diesen Krieg gewinnen. Wenn nur Letzteres gelingt, wird Russland gezwungen sein, die Fronten einzufrieren, ohne die gesamte Oblast Donezk einzunehmen, was im Innern als Niederlage wahrgenommen werden würde. Dass die Ukraine die Oblast Cherson wiedererobern kann, ist hochgradig unwahrscheinlich. Würde es jedoch gelingen, so wäre mit einem Krieg mindestens bis weit in das Jahr 2023 hinein zu rechnen, der vollständig vom Westen und in sehr großen Teilen von den EU-Staaten finanziert werden müsste.

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Endnoten

1 https://militaryland.net/ukraine/invasion-day-150-summary/

2 https://www.berliner-zeitung.de/news/nach-kritik-an-selenskyj-ukrainischer-politiker-angeblich-ausgebuergert-li.249585

3 https://www.faz.net/aktuell/finanzen/warum-sich-die-finanzlage-in-der-ukraine-weiter-anspannt-18189888.html

4 https://www.faz.net/aktuell/finanzen/warum-sich-die-finanzlage-in-der-ukraine-weiter-anspannt-18189888.html

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Der Autor

Gunnar Jeschke ist Chemiker und Professor für Elektronenspinresonanz an der ETH Zürich. Er schreibt regelmäßig in der Freitag Community.

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