Ukraine-Krieg

Ukraine - Das Phänomen des dreifachen Stellvertreters

Der aktuelle Krieg ist Ausdruck einer generellen Krise der Nationalstaaten. Gleichzeitig zeigt sich ein Wandel weg von der Dominanz des Westens hin zu einer multipolaren Welt. Unklar bleibt, ob die Entwicklung in diese Richtung anhält und ob sie von der Weltmacht USA zugelassen wird.

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Die Präsidenten der BRICS-Staaten 2019 (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Das Bündnis gewinnt in diesen Zeiten an Bedeutung.
Foto: Alan Santos/PR, Lizenz: CC by, Mehr Infos

Der Text ist ein Bericht zum 99. Treffen des Forums integrierte Gesellschaft

Es ist Sommer. Man möchte das freundliche Wetter genießen, Urlaub machen, sich mit aufbauenden Dingen beschäftigen – und doch sitzen wir wieder beieinander und machen uns Gedanken, was mit dem Krieg in der Ukraine noch weiter auf uns zukommt.

Aber es soll hier nicht wiederholt werden, was alles in den letzten Monaten schon vielfach hin und her gewendet worden ist. Es macht auch keinen Sinn sich in Kriegsberichterstattung zu verlieren, ebenso wenig in den unsäglichen kriegs- und krisentreibenden Beschlüssen der deutschen und europäischen Regierungsbürokraten, die Tag für Tag unsere ‚Leitmedien‘ füllen.

Vordergründig sind Ziele ja offensichtlich: der „kollektive Westen“, also NATO und EU unter der Führung der USA, will seine in die Krise geratene globale Dominanz restaurieren, sogar ausweiten; Russland will sich von dieser Dominanz emanzipieren, will diesem Druck nicht nachgeben, will sich seine Souveränität nicht nehmen lassen, will eine andere ‚multipolare‘ Welt erschließen, nicht nur politisch, auch kulturell. Die Ukraine ist der Stoßkeil, den der Westen gegen Russland ins Feld führt. Dem hat Russland seinen Einmarsch in die Ukraine entgegengesetzt. So weit, so klar, auch wenn in der westlichen Darstellung des Konfliktes, direkter zu sprechen, in der Kriegspropaganda des Westens Ursache und Wirkung verdreht werden, so dass der Westen als die friedensbewahrende und kulturerhaltende Kraft erscheint.

Geht es also nur um globale Machtverschiebungen, die über die Ukraine stellvertretend ausgefochten werden? Wird am Ende dieses Krieges nicht die viel beschworene ‚Zeitenwende‘, sondern nur eine Betonierung des Patts zwischen den großen Blöcken stehen, USA/EU versus Russland, jetzt ergänzt um China, weil der atomare Krieg nicht führbar ist, genauer, weil keiner ihn gewinnen kann, ohne sich selbst zu schaden oder gar zu vernichten?

Krise der Nationalstaaten

Versuchen wir zu sortieren: Was der Krieg vor allem anderen deutlich macht, ist die Krise des Nationalstaats als globales Ordnungsprinzip, genauer des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats, wie er aus dem ersten Weltkrieg auf Initiative des US-Präsidenten Woodrow Wilson hervorging. Noch genauer, vor allem aktueller an das Problem der Ukraine herangeführt, geht es um die nachholende einheitliche Nationenbildung, wie sie aus der Auflösung der bipolaren Welt nach dem Ende der Sowjetunion hervorgegangen ist. Unter dem Druck der nach-sowjetischen Krise des Kapitalismus und der damit einhergehenden globalen Machtverschiebungen verengt sich diese nachholende Nationenbildung in der Ukraine jetzt zum rigiden Nationalismus.

Die skizzierte Entwicklung gilt, das sei hinzugefügt, um Missverständnisse zu vermeiden, nicht nur für die Ukraine. Sie gilt für die Verfasstheit der globalen Staatsordnung heute insgesamt, die in zunehmendem Maße wieder von nationalistischen Interessen getrieben wird; aber in der Ukraine, dieser verhinderten Brücke zwischen Europa und Russland, hat dieser Prozess jetzt die folgenreichsten Formen angenommen.

Es ist eine Gemengelage entstanden, in welcher der ukrainische Krieg nicht nur die Konfrontation der globalen Machtblöcke stellvertretend hervorbringt, sondern zugleich – ebenfalls stellvertretend – die Krise der herrschenden, Nationalstaatsordnung, das heißt letztlich der vom Westen geprägten Lebensweise ins Extrem treibt. Beide Ereignisströme fließen in einem brandgefährlichen Sog zusammen, der die labilen Kräfte des Globus in ein schwarzes Loch hineinzuziehen droht.

In der Tiefe dieses Sogs verdichtet sich der Krieg aber zugleich zum Knoten der Transformation, in dem die Konfliktlinien der gegenwärtigen Zivilisationskrise zusammenlaufen.[1] Unsere Welt ist im Begriff ein anderes Lebens- und Ordnungsprinzip hervorzubringen, basierend auf anderen als den vom Westen definierten Werten des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaates, der alle Lebensbereiche unter die Herrschaft der Ökonomie zwingt, während er selbst zugleich unter der Herrschaft der Suprastaatlichen Monopole steht. Dieses konkurrenzbasierte und ökonomisch dominierte Modell des Staates ist vom Wesen her kriegsträchtig und überfällig und verlangt nach anderen Varianten des Lebens.

Notwendig, und beim Stand der heutigen produktiven Kräfte der globalen Gesellschaften auch möglich, wäre der Übergang zu dezentraleren Formationen souveräner Lebenseinheiten. Das hieße, gegenseitige Hilfe im Ökonomischen, Kooperation im Geflecht autonomer lokaler und föderaler Beziehungen, geistige Unabhängigkeit über so definierte staatliche Verwaltungsgrenzen hinaus im Rückgriff auf eigene Kulturen statt westlicher „one world“-Ausrichtung.

Aber klar ist, dass die Botschaft einer anderen als der herrschenden ‚westlichen Wertordnung‘ erst dann eine veränderte Wirklichkeit schaffen kann, wenn deren gegenwärtige Realität illusionslos ins Auge gefasst wird.

In Frage steht derzeit, ob die ukrainische Bevölkerung die nationalistische Verengung hinter sich lassen kann, in die sie zwischen den Blöcken und durch den Krieg gekommen ist. Ob sie Formen der pluralen Selbstbestimmung entwickeln kann, die ihrer Geschichte entsprächen? Oder müssen sie sich einem der Blöcke unterordnen? Zerfällt die Ukraine in Teile? Bleibt sie Pulverfass?

Untrennbar mit diesen Fragen verbunden sind selbstverständlich die weiteren, ob Russlands Versuch gelingt, ein nach-globalistisches, nach-koloniales Netz von Gesellschaften zu knüpfen, die sich der westlichen Dominanz entziehen und in der Lage sind, eine neue globale Ordnung pluraler Beziehungen und kultureller Pluralität zu konstituieren oder ob die aktuelle Verletzung der ukrainischen Souveränität durch Russland eine solche Entwicklung bremst und vom „globalen Westen“ gegen Russland in Stellung gebracht werden kann.

Hier erhebt sich schließlich die Frage, ob die zurzeit noch herrschende Weltmacht USA es zulässt, zulassen kann, zulassen muss, dass sich die Völker der Welt von einer Realität lösen, in welcher der Nationalstaat westlicher Prägung immer noch das Credo der Politik ist und ob sie sich inspiriert von Russland der amerikanisch-westlichen Kulturdominanz entziehen.

Alle diese Fragen drängen sich mit dem ukrainischen Krieg in den Vordergrund und fordern unsere bewusste Wahrnehmung und aktive Stellungnahme zugunsten der sich andeutenden politischen und kulturellen Alternativen zum Alleinvertretungsanspruch des westlichen Zivilisationsmodells heraus. Auch mit dieser Herausforderung wirkt dieser Krieg stellvertretend.

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Anmerkung

[1] Siehe dazu auch: “Das gebrochene Erbe der Ukraine” auf hintergrund.de

Der Autor

Kai Ehlers ist selbstständiger Publizist, Forscher und Buchautor. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf den Entwicklungen in den Staaten des früheren sowjetischen Einflussbereichs und deren lokale wie globale Folgen. In Deutschland engagiert er sich in der Debatte um gesellschaftliche Alternativen. Weitere Informationen unter www.kai-ehlers.de. 2009 erschien von ihm „Russland – Herzschlag einer Weltmacht“ (zu bestellen unter https://kai-ehlers.de/buch/russland-herzschlag-einer-weltmacht/ )

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