EU/Türkei

Flüchtlinge als Druckmittel: Erdogan in Brüssel

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die Flüchtlingskrise eröffnet dem türkischen Präsidenten politischen Handlungsspielraum

Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Montag seinen Besuch in Brüssel begonnen. Die Türkei ist ein wichtiges Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Die EU will daher stärker mit der Regierung in Ankara zusammenarbeiten.

Rund zwei Millionen Syrer sind in den letzten Jahren in die Türkei geflüchtet – mehr als in jedes andere Land. Es ist nur legitim, wenn die türkische Regierung von ihren europäischen Partnern mehr Unterstützung bei der Versorgung der Flüchtlinge verlangt.

In dieser Hinsicht tat sich in den vergangenen Jahren nicht viel – erst jetzt, nachdem immer mehr Menschen die Europäische Union erreichen, bewegt sich auch Brüssel.

Im September beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU, dass die Türkei bis zum nächsten Jahr eine Milliarde Euro für Flüchtlingslager bekommen soll. Weitere finanzielle Hilfen sind im Gespräch.

Ginge es nach dem Willen Brüssels, sollten die Flüchtlinge in der Türkei bleiben und das Land seine Grenzen zur EU besser sichern. Entsprechend gibt es laut Berichten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Pläne, denen zufolge die EU-Grenzschutzagentur Frontex gemeinsame Patrouillen der türkischen und griechischen Küstenwache koordinieren soll. Zudem sollen in der Türkei, zusätzlich zu den 25 bestehenden, sechs neue Flüchtlingslager für bis zu zwei Millionen Menschen entstehen. (1)

Ohne Gegenleistungen wird sich Ankara jedoch kaum auf die Forderungen der EU einlassen. Erdogan habe im Gespräch mit ihm die Frage von Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger aufgebracht, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Auch die Aussicht auf einen EU-Betritt mahnte Erdogan am Montag an.

Türkei als „sicheres Herkunftsland“?

In der EU steigt die Bereitschaft, die Türkei als „sicheres Herkunftsland“ einzustufen. Als solche gelten laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Staaten, „bei denen aufgrund der allgemeinen politischen Verhältnisse die gesetzliche Vermutung besteht, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet“. Asylanträge von Personen, die aus oder über einem solchen Land in die EU kommen, werden in der Regel als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt.

Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), forderte bereits im Vorfeld der Erdogan-Visite, die Türkei zum sicheren Herkunftsland zu erklären. „Die Türkei muss genauso wie alle anderen EU-Beitrittskandidaten zum sicheren Herkunftsstaat erklärt werden“, sagte Weber gegenüber Spiegel-Online. (2)

„Ich bin der Meinung (…), dass die Türkei auf der Liste der sicheren Staaten stehen sollte“, erklärte auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der zugleich wünscht,  „dass es in der Visa-Frage vorwärts geht, dass das beschleunigt wird“.

Es sei „absolut unmöglich“, so EU-Parlamentspräsident Schulz, „über die Türkei als Beitrittskandidatin zu sprechen und sie nicht zum sicheren Herkunftsland zu erklären“.

Angesichts von Berichten über Menschenrechtsverletzungen und des wieder aufflammenden Konflikts zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Minderheit sei die Diskussion um die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland „zynisch“,  erklärte der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, Günter Burkhardt, am Montag.

Zweifellos hat die Flüchtlingskrise der türkischen Regierung neue politische Handlungsspielräume eröffnet, die Erdogan nun nutzen will – insbesondere in der Kurdenfrage.

Während seines öffentlichen Auftritts mit dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk setzte Erdogan die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK  und der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) gleich.

Der Kampf der Kurden gegen den IS dürfe den kurdischen Organisationen keinen „Mantel der Legitimität“ verleihen, so der türkische Präsident. „Wir können hier nicht von einem guten Terroristen im Gegensatz zu einem schlechten Terroristen sprechen“, sagte ausgerechnet der Mann, dessen Regierung zu den eifrigsten Förderern dschihadistischer Terroristen in Syrien zählt. Ohne Unterstützung der Türkei wär es den al-Qaida-treuen Truppen beispielsweise nicht gelungen, vor Monaten die syrische Provinz Idlib zu überrennen. (3)

Erdogan erwünscht sich von der EU freie Hand im Kampf gegen die kurdischen Verbände und zeigt sich in dieser Angelegenheit optimistisch: „Ich glaube aus ganzem Herzen daran, dass unsere europäischen Freunde die nötige Sensibilität für diesen Punkt an den Tag legen werden.“ Die PKK wird von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft – nicht jedoch die PYD, die als wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ gilt.

Pro Asyl warnte vor einer Umsetzung der Pläne der türkischen Regierung, in Nordsyrien „eine sogenannte Sicherheitszone zu schaffen, vorgeblich um Flüchtlingslager auf syrischem Boden zu errichten“. Die Pläne setzten eine „massive militärische Intervention“ der Türkei in Nordsyrien voraus und ließen „eine weitere militärische Eskalation des Konflikts“ zwischen der türkischen Regierung und den Kurden in Nordsyrien befürchten. „Es droht, dass sich Erdogan für die brandgefährlichen Pläne Unterstützung oder zumindest stillschweigende Akzeptanz erkauft. Dabei ist klar: Eine weitere Eskalation des Konflikts wird noch mehr Menschen zur Flucht zwingen“, heißt es in einer Stellungnahme der Menschenrechtler. (4)

Teil des Problems, nicht der Lösung

Gilt die Türkei der EU als unverzichtbarer Partner, um der Flüchtlingskrise Herr zu werden, so muss doch festgestellt werden: Erdogan ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Schließlich hat seine Regierung durch die jahrelange massive Unterstützung von Terrorgruppen in Syrien die Flüchtlingskrise (mit) heraufbeschworen– sich als barmherziger Retter in der Not derjenigen zu präsentieren, die Zuflucht in der Türkei suchen müssen, erscheint daher reichlich zynisch.

Auch deshalb, weil Erdogan die Flüchtlinge instrumentalisiert, um Druck auf die EU auszuüben. Seine Forderungen an die „europäischen Partner“ kommen einem unausgesprochenem Erpressungsmanöver gleich: Geht ihr nicht darauf ein, kommen noch mehr Flüchtlinge zu euch.

Die Türkei ist das wichtigste Transitland für diejenigen, die derzeit nach Europa fliehen. Laut Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks kamen seit Jahresbeginn rund vierhunderttausend Menschen über die Ägäis nach Griechenland.

Angesichts der Perspektivlosigkeit, die in den Flüchtlingslagern vorherrscht, ist es kaum verwunderlich, dass so viele Syrer in den vergangenen Monaten die Türkei Richtung Westeuropa verlassen haben. Fraglich ist eher, warum diese Fluchtbewegung nicht schon in den Jahren zuvor einsetzte.

In den Stellungnahmen von EU-Politikern schwingt der Vorwurf durch, dahinter könnte ein politisches Kalkül Ankaras stecken, mit der Öffnung der Grenzen zur EU politischen Druck auf den Staatenbund auszuüben – nicht ohne Grund wird Erdogan während seiner Visite in Brüssel betont haben, seine Regierung habe niemals Flüchtlinge aus der Türkei in andere Länder geschickt.

„Erdogan muss als Verbündeter Wert darauf legen, dass er die Grenzen wieder schließt“, sagte Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament. Ähnlich äußerte sich Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des EU-Parlaments: „Ich erwarte, dass die Türkei fortsetzt, was sie die letzten Jahre gut gemacht hat: eine vorbildliche Flüchtlingspolitik und eine wirksame Kontrolle der Außengrenze.“

„Die Flucht Hunderttausender Syrer über die Türkei nach Europa zwingt die EU zur Kooperation mit einem Land, das in Sachen Pressefreiheit und seinem Verhalten im Kurdenkonflikt immer wieder in der Kritik steht“, bringt die Deutsche Presse-Agentur das Dilemma der Europäischen Union auf den Punkt: In der Flüchtlingsfrage sitzt Ankara am längeren Hebel.

Es zeichnet sich ab, dass es zu jenem „schmutzigen Deal“ kommen wird, vor dem der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Andreas Hofreiter, im Vorfeld des Besuchs des türkischen Präsidenten warnte: „Erdogan nimmt einen Großteil der Flüchtlinge, und dafür drücken wir zum Ausgleich beide Augen zu, wenn dort die Menschenrechte zum Beispiel der Kurden in der Türkei verletzt werden.“

(mit dpa)


 

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Anmerkungen

(1) http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/neuer-eu-plan-europa-will-die-aegaeis-abriegeln-13837016.html
(2) http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-tuerkei-soll-sicherer-herkunftsstaat-werden-a-1056091.html
(3) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201505083534/globales/kriege/schuetzenhilfe-fuer-al-qaidas-siegeszug.html
(4) http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/kooperation_mit_der_tuerkei_wie_die_eu_die_aegaeis_grenze_schliessen_will/

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