Ukraine-Krieg

Der Staatsvordenker schreibt

Die Stimmen für baldige Verhandlungen im Ukraine-Krieg mehren sich. In dieser Woche hat nun sich nun auch Jürgen Habermas in die Reihe derer gestellt, die sich gegen eine weitere Eskalation stellen. Habermas, die Staatsräson in Person, mahnt an, dass der Westen über die eigenen Kriegsziele sprechen müsse. Sein Text und die Reaktionen darauf zeigen, dass es leichte Bewegungen gibt. Die Meinungsmacher in den Leitmedien sehen allerdings trotzdem keine Chance für Verhandlungen. Die Hintergrund-Medienrundschau vom 17. Februar 2023.

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Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen in der Ukraine (Archivfoto von 2014)
Foto: Európai Bizottság/Dudás Szabolcs, Lizen: CC BY, Mehr Infos

Es ist wieder einer mehr. Auch Jürgen Habermas wirbt für Verhandlungen im Ukraine-Krieg. Ganz staatstragender Philosoph, der er ist, tut er dies per Essay in einem Leitmedium. Nicht in einer Talkshow, nicht auf einer Petitonswebsite. Habermas hat der Süddeutschen Zeitung einen Einerseits-Andererseits-Text geliefert, der eines zeigt: Wir befinden uns in einer neuen Phase der Kriegsinterpretation. Wohin es geht, bleibt aber offen.

Wir werden in dieser Medienrundschau zunächst kurz zusammenfassen, was der Staatsvordenker Habermas zu Papier gebracht hat und dann auf einige Reaktionen schauen. Sie sind noch nicht so zahlreich und auch beileibe nicht so scharf wie die auf das „Manifest für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht aus der vergangenen Woche. Auf dieses „Manifest“ werden wir am Ende der Medienrundschau noch einmal kurz zu sprechen kommen.

Warum ausgerechnet Habermas? Es gibt kaum einen bekannten Denker, der tiefer im Mainstream verortet ist als er. Der noch für so gut wie jede Wendung der Regierungen zustimmende Worte gefunden hat. Ob er mit Vehemenz für die EU eingetreten ist, die Corona-Maßnahmen gerechtfertigt oder dereinst im Jugoslawienkrieg für den völkerrechtswidrigen Angriff der NATO argumentiert hat. Habermas ist die personifizierte Staatsräson. Wir sind (selbstverständlich) keine Fans. Gerade deshalb ist es interessant, wie er in der aktuellen Debatte argumentiert – wenn man denn überhaupt bei dem vielen Kriegsgeschrei von einer solchen sprechen darf.

Auf Habermas wird immerhin nicht mit medialem Geschrei geantwortet. Das macht höchstens Andrej Melnyk (Twitter, 15.2.23). Aber der kann ja auch nicht anders. Insofern zeigt der Beitrag wie auch die Mainstream-Reaktion darauf, an welchen Stellen es Bewegung geben könnte und wo die roten Linien der Redaktionen verlaufen. Nach einer Zusammenfassung dessen, was Habermas geschrieben hat, schauen wir auf die Reaktionen und stellen dabei vor allem die ideologische Verbohrtheit der Schreiber heraus. Dabei fällt auf: Es gibt an dieser Stelle fast so etwas wie eine Debatte. Die Redakteure greifen Habermas‘ Argumente auf, wägen ab, stimmen teilweise zu und müssen nur am Ende konstatieren: Wird nix mit den Verhandlungen. Was es zu beweisen galt. Aber was sagt er denn nun, der alte (93 Jahre) weiße Mann?

Habermas schlägt sich erneut, wie schon im April vergangenen Jahres (Süddeutsche, 28.4.22, Bezahlschranke), an die Seite von Kanzler Scholz. Er stellt die Frage, was denn das Kriegsziel des Westens sei. Soll die Ukraine gewinnen, wie es die „schrillen Werteextremisten“ (Rüdiger Lüdeking im Cicero, 15.2.23, Bezahlschranke) um Annalena Baerbock und Marie-Agnes Strack-Zimmermann fordern oder soll die Ukraine nicht verlieren, wie es die Position von Olaf Scholz ist? Auch wenn man seine Meinung an vielen Stellen nicht teilt, so muss doch konstatiert werden, dass Habermas sachlich argumentiert und abwägt. Was in einer Zeit von Hetze und Vorurteilen lehrreich und schon deshalb eine Lektüre wert ist. Er sieht jetzt den Zeitpunkt für Verhandlungen gegeben, sie drängten sich geradezu auf. Jetzt sind die Frontverläufe eingefroren, wie einst im Ersten Weltkrieg. Die Bilder von vor Ort zeigten etwas anderes als dass die Waffen aus dem Westen Leben retteten.

In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, tritt die andere Seite des Krieges in den Vordergrund – er ist dann nicht nur Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer; im Verlaufe selbst wird das Kriegsgeschehen als die zermalmende Gewalt erfahren, die so schnell wie möglich aufhören sollte. Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf. In Kriegen hat sich mit dem Wunsch nach der Überwindung des Gegners immer auch der Wunsch nach dem Ende von Tod und Zerstörung verbunden. Und in dem Maße, wie mit der Stärke der Waffen auch die „Verheerungen“ zugenommen haben, haben sich auch die Gewichte dieser beiden Aspekte verschoben. (Süddeutsche, 14.2.23, Bezahlschranke)

Während Habermas einerseits kaum Bereitschaft zu Verhandlungen bei Putin sieht, so war es seiner Ansicht nach nicht klug vom Westen, die eigenen Kriegsziele nicht offen zu benennen. Habermas macht im Geflecht der Interessen Möglichkeiten für Kompromisse aus – ohne diese konkret zu nennen – und weist auf das potentielle Ende der Amtszeit von Joe Biden in den USA hin.

Schon dieser Gedanke müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.

Belassen wir es mit diesen Ausschnitten aus dem umfangreichen Text und wenden uns den Interpreten zu, die kurz nach Veröffentlichung am Mittwoch dieser Woche auf den Plan traten. So wie Zeit-Redakteur Peter Neumann. Er widerspricht Habermas in seinem Text moralisch und schreibt mit Bezug auf den Philosophen:

Es gehe bei der Abwägung, mit welchen legitimen Mitteln der Krieg fortgesetzt werden soll, um „Verhältnismäßigkeit“. Auch die selbstlosesten Unterstützer dürften weder die Zahl der Opfer noch das Ausmaß der tatsächlichen und potenziellen Zerstörungen vergessen. (Zeit, 15.2.23, Bezahlschranke)

Was meint Neumann mit „selbstloseste Unterstützer“? Leute, die mit der Waffe an der Front stehen? Die ihr Leben geben? Wohl kaum. Er kritisiert implizit eine vorgebliche Selbstbezogenheit derer, die Verhandlungen fordern und stellt diejenigen als selbstlos heraus, die Waffen liefern wollen, damit der Krieg bis zum letzten Ukrainer weiter gekämpft werden kann. Die aber sind doch nicht selbstlos. Sie lassen die Ukrainer bluten für einen Stellvertreterkrieg, von dem die Leitmedien kaum sprechen. Von Stellvertreterkrieg spricht auch Habermas nicht. Er sieht die Mitverantwortung des Westens insbesondere für die Menschen, die durch gelieferte Waffen sterben.

Spiegel-Redakteur Tobias Rapp verweist sehr richtig auf die Kriegserfahrung vieler, die jetzt Verhandlungen fordern. Vielleicht manchmal auf die Alten hören? Ist zwar gerade nicht en vogue, aber manchmal vielleicht doch sinnvoll. Rapps Text hält sich nicht weiter damit auf und offenbart einen anderen blinden Fleck der Leitmedien:

Auch der Kalte Krieg endete nicht im Krieg. Es ist aber auch eine Erfolgsgeschichte, die den Blick darauf verstellt hat, was passiert, wenn sich jemand außerhalb dieser Ordnung stellt. Wenn der Krieg zurück nach Europa kommt. Wir alle stehen noch ziemlich fassungslos vor dieser Tatsache. (Spiegel, 15.2.23, Bezahlschranke)

Jemand stellt sich außerhalb dieser Ordnung. So wie die NATO 1999? Oder die USA und Großbritannien 2003 (der schließlich von Rammstein, also aus Europa, mitgeführt wurde)? Ob es nun Ignoranz oder Abhängigkeit vom Imperium aus Übersee ist: Seit über einem Jahr wird die Mär erzählt, Russland stelle sich außerhalb etwas, das man als „Ordnung“ bezeichnen kann und das alle anderen einhielten. Der Völkerrechtler Kai Ambos nennt das Doppelmoral (Hintergrund, 17.10.22).

Die Rheinische Post will die Reihen schließen:

Waffenstillstandsverhandlungen müssten indes in einen Zustand führen, der weitere Aggressionen verhindert, den Ukrainern ein Leben in einem souveränen Staat mit freiheitlicher Ordnung ermöglicht und nicht das Signal sendet, völkerrechtswidrige Überfälle könnten sich lohnen. Wie ein solches Verhandlungsergebnis zu erreichen sein soll, wenn Putin den Eindruck gewinnen kann, der Rückhalt für die Ukraine im Westen bröckele, es mangele dem Westen also – anders als ihm selbst – an Durchhaltewille, ist das wichtigste Argument gegen Verhandlungen jetzt. (Rheinische Post, 15.2.23)

Keine Verhandlungen, weil das Schwäche bedeutet, schreibt Dorothea Kringt. In Düsseldorf, dem Sitz der RP, will man wohl erst noch weitere Rheinmetall-Panzer verkaufen. Und eine „freiheitliche Ordnung“ soll auch gleich noch mitgeschaffen werden in der Ukraine? Dass für die „Freiheit“ des Westens gekämpft wird, ist ein weiterer dieser Popanze, die nicht wahrer werden, wenn der Mainstream sie immer wiederholt. Und dass die Ukraine von einer wie auch immer gearteten freiheitlichen Ordnung weiter entfernt ist als die meisten anderen Staaten der Welt, bleibt ebenfalls eine Tatsache. In der Frankfurter Rundschau schreibt Feuilleton-Chef Peter Hesse schließlich:

Aber abgesehen davon, ob Verhandlungen mit Putin überhaupt möglich sind, muss auch Habermas sich der Frage stellen, ob mit einem Friedensschluss mit Russland Dämonen in der Zukunft heraufbeschworen werden, die noch weitaus schlimmer wüten, als es nun in der Ukraine der Fall ist. (Frankfurter Rundschau, 15.2.23)

Putin erscheint hier (und natürlich auch anderswo) selbst als der Gottseibeiuns, dem man in keinem Fall nachgeben dürfe. Das eigentliche Kriegsziel des Westens, das der Journalist der Frankfurter Rundschau verinnerlicht hat, scheint durch: Putin muss weg. Regime Change. Oder, um es mit einem Wort des Chefs der Münchener Sicherheitskonferenz, Christof Heusgen, auszudrücken: „Deputinisierung“ Russlands (RND, 16.2.23). Die Analogie zur „Denazifizierung“ liegt auf der Hand und wird von den Redakteuren auch gleich aufgegriffen. Solange aber Medien und Politik nicht von dieser unrealistischen Forderung abrücken, solange wird es keine wirkliche Bewegung geben. Habermas hat verstanden, dass es mit Putin weitergehen muss. Auch jenseits des Krieges. Ob man den russischen Präsidenten nun mag oder nicht.

Abseits eines langen Philosophentextes war die Woche auch ansonsten gut gefüllt. Das am Anfang genannte Manifest von Wagenknecht und Schwarzer (change.org, 10.2.23) hat mittlerweile fast 500.000 Unterzeichner und wurde überall diskutiert und vor allem verbal zerrissen. Eine Unterwerfung unter den Aggressor, eine Kapitulation würden die Unterzeichner fordern, hieß es. Verhandlungen sind heute eben für viele nicht mehr denkbar, wir können nur hoffen, das die Worte von Jürgen Habermas die kriegsbesoffenen Journalisten und Politiker eher erreichen. Allein uns fehlt der Glaube. Wir wollen an dieser Stelle nur kurz auf ein Interview von Milena Preradovic mit Oskar Lafontaine verweisen, in dem dieser ausdrücklich alle zur Kundgebung in der kommenden Woche einlädt. Nach einem Parteibuch werde nicht gefragt, der der reinen Herzens Frieden will, solle kommen (Punkt.Preradovic, 16.2.23).

Und dann war da ja auch noch Seymour Hersh. Seine Recherche zu North Stream (Übersetzung: Nachdenkseiten) hat ebenfalls die Gemüter erregt und böte Stoff für eine weitere Medienrundschau. Wir haben in unserer Rubrik „Aus anderen Medien“ auf mehrere Artikel zum Thema hingewiesen und hoffen, dass Sie diese sowie die weiteren Empfehlungen regelmäßig nutzen. Sie finden sie in der rechten Spalte auf unserer Startseite oder, so Sie per Mobilgerät lesen, scrollen Sie einfach ein wenig auf der Startseite nach unten.

Natürlich könnte man viel zu Hersh sagen, zu seiner Legende und der Art, wie er Journalismus versteht. Hierzu dann doch eine Empfehlung: Das Interview von Fabian Scheidler ist lesenswert (Berliner Zeitung, 14.2.23). Der mediale Umgang mit Hersh und seiner Enthüllung zeichnet aber wieder ein Bild des deutschen Mainstream-Journalismus, wie wir ihn seit fast einem Jahr an dieser Stelle (und zuvor in anderer Weise) kritisieren. Wir erleben einen Verlautbarungsjournalismus. Da können wir Sevim Dagdalen zitieren, die vergangene Woche im Bundestag das Folgende gesagt hat:

Journalismus in unserem Land findet in diesen Tagen des Krieges oft nach dem Motto statt: „Der US-Präsident erklärt, die Bundesregierung verkündet, die Polizei informiert“. Der international renommierte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh hat sich in seiner ganzen Vita immer gegen einen Verlautbarungsjournalismus gestellt, der versucht, Regierungspositionen zu kolportieren und die Glaubwürdigkeit von Kritik am Regierungshandeln zu erschüttern. Heute geht es so weit, dass privat finanzierte sogenannte Faktenchecker

Wir unterbrechen die Redewiedergabe kurz durch eine Richtigstellung: Von rein privat finanzierten Faktencheckern kann keine Rede sein (Medienrundschau vom 28.10.2022). Weiter im Text Dagdelens:

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auf die Zersetzung von Opposition zur Kriegspolitik hinarbeiten und quasi amtlich erklären, was richtig ist und was nicht richtig zu sein hat. Seymour Hersh hat von den Enthüllungen über das US-Massaker im Vietnamkrieg in My Lai bis heute Journalismus eben nicht als staatlich gelenkte Wahrheitsproduktion verstanden. Umso augenfälliger ist es, dass seine Enthüllungen über die mutmaßlich von den USA und Norwegen begangenen Terrorakte in den öffentlich-rechtlichen Medien und auch in den Leitmedien praktisch gar keine Rolle spielen. Und es scheint so, dass auch der Bundesregierung selbst die Kraft und der Wille zu einer wirklichen Aufklärung der Terrorakte fehlt. Man kann sich eben nicht bis in alle Ewigkeit hinter den Ermittlungen des Generalbundesanwalts verstecken. (linksfraktion.de, 10.6.23)

Wegen Dagdelen (und einigen wenigen anderen) wäre es schade, flöge die Linkspartei aus dem Bundestag. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Wir sind am Ende unserer Medienrundschau für diese Woche angekommen und hoffen, dass Sie auch künftig wieder an dieser Stelle vorbeischauen, um weitere kritische Worte über den Journalismus in diesem Land zu lesen. Bleiben Sie uns also gewogen, bilden Sie sich ihre eigene Meinung und schreiben Sie uns gerne an redaktion@hintergrund.de.

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