Politische Kultur

Einfallstore für unfromme Denkungsart

Der indifferente Umgang mit der ultranationalistischen Politik der Ukraine und dem Apartheid-System Israels macht unsensibel für faschistische Sprechweisen und Praktiken. Das könnte sich auf die politische Kultur bei uns auswirken, so die Befürchtung von Georg Auernheimer.

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Auf der Berliner Demo unter dem Motto “Full Scale Freedom” wurde jeder Redebeitrag mit dem Faschistengruß Sláva Ukrayíni abgeschlossen. (24.2.2023).
Foto: Leonhard Lenz Lizenz: CC0 1.0, Mehr Infos

Die Vernichtung von 19 Millionen russischsprachigen Büchern in der Ukraine hat Katharina Körting, Journalistin und Schriftstellerin, vor kurzem in der Wochenzeitung Der Freitag als „eine bedenkliche Aktion“ verharmlost. Bei einer der im Blatt üblichen Debatten, hier über die Frage, ob das Gorki-Theater in Berlin umbenannt werden sollte, übernahm sie das Pro-Votum. Dass die Redaktion eine solche Frage überhaupt zur Diskussion stellt, ist an sich schon alarmierend. Aber lassen wir das mal beiseite! Körting findet das massenhafte „Recyclen“ von Büchern zwar „bedenklich“, aber „nachvollziehbar“, „dass die Ukrainer zurzeit mit nichts Russischem zu tun haben wollen“.1 Dass der ukrainische Kulturminister Tkatschenko gefordert hat, alle russischen Künstler „unter Quarantäne“ zu stellen, übrigens ungeachtet ihrer Position zum Krieg, kommentiert Körting lapidar: „Das klingt erst mal wüst.“ Man muss wissen, dass die Autorin in der Vergangenheit nie durch reaktionäre Texte aufgefallen ist. Nein, die Publizistin hat sich in ihren Publikationen als eine gezeigt, die der Aufklärung verpflichtet ist. In ihrem Buch „Liquidierung der Vergangenheit“ (2021) über das Versagen der evangelischen Kirche unter dem NS-Regime will sie aufklären „über das große protestantische Schweigen vor 1945 und das Verschweigen dieses Schweigens nach 1945“.2 Im Freitag warnte sie noch vor einem Jahr davor, in den sozialen Medien Fotos aus dem gerade erst angezettelten Krieg zu teilen, weil sie nur Empörung schürten und die Kriegsstimmung anheizten.3

Was geht da vor sich? Es scheint, dass die Empathie für die vom Krieg heimgesuchten Ukrainer und Ukrainerinnen zur Nachsicht mit äußerst fragwürdigen Praktiken verleitet. Es besteht die Gefahr einer Desensibilisierung gegenüber faschistischen Denk- und Handlungsmustern. Informationsmängel tragen dazu bei. Zum Beispiel ist zweifelhaft, wie weit die Büchervernichtung den Beifall der Ukrainer findet, wie Körting glaubt. Wenn man weiß, welchen Einfluss ultranationalistische bis faschistische Gruppierungen seit 2014 in der Ukraine haben und mit dem Krieg zusätzlich gewonnen haben dürften, dann ist anzunehmen, dass solche Aktionen von oben angeordnet und „von unten“ von militanten Blockwarten unterstützt werden. Aber in der Vorstellungswelt der meisten hierzulande, nicht zuletzt der Journalisten, ist die Ukraine ein, wenn auch noch durch Korruption beeinträchtigtes, demokratisches Staatsgebilde, dessen Bevölkerung heldenhaft ihre demokratischen und sozialen Rechte gegen den Aggressor verteidigt.

Solche Fantasien lassen einst normativ gefestigte Bewertungsmaßstäbe wegschmelzen. Ein anderes Beispiel liefert die Internet-Plattform Mirotworez oder Myrotworez, betrieben von der ukrainischen Organisation Zentr Mirotworez in Verbindung mit dem ukrainischen Inlandsgeheimdienst und dem Innenministerium, auf der als „Feinde der Ukraine“ angesehene Bürger mit ihren persönlichen Daten angeprangert werden. Vor einem Jahr, im Januar 2022, umfasste die Liste über 187.000 Namen.4 Nach dem Putsch von 2014 und den darauf folgenden Auseinandersetzungen veröffentlichte Mirotworez auch Telefonnummern und Mailadressen von in- und ausländischen Journalisten, die aus der von der Regierung bombardierten Ostukraine berichtet hatten, insgesamt über 4000 Namen.

Außer in der überschaubaren Gegenöffentlichkeit hat das bis heute keine Empörung ausgelöst. Dabei macht die Ukraine kein Geheimnis aus ihrer Kampagne. Die Information darüber findet man im Internet. Zwei Fälle, die zeigen, dass die Liste Mirotworez eine tödliche Bedrohung für die dort Aufgeführten darstellt, haben vor Jahren internationale Bekanntheit erlangt. Der Journalist Oles Busyna und der Anti-Maidan-Aktivist Oleh Kalaschnikow wurden 2015 kurz nach der denunziatorischen Eintragung unweit von ihrer jeweiligen Wohnung niedergeschossen. Der Täter wurde belobigt, wie man im einschlägigen Wikipedia-Artikel erfährt. Solche Nachrichten mindern keineswegs die allgemeine Solidarität mit der Ukraine.

Schon der jahrelange Krieg der ukrainischen Regierungen gegen die eigene Bevölkerung im Donbass, gegen die Bevölkerung, die man jedenfalls immer noch als zum Staatsvolk gehörig erklärte, müsste nachdenklich stimmen, mit wem man sich da solidarisiert. Aber Nachrichten darüber waren spärlich, wurden gezielt verhindert.5 Unkenntnis beeinträchtigt die Einschätzung des Konflikts. Die Empörung über Putins „unprovozierten Angriffskrieg“ auf das scheinbar wehrlose Land hat die Militarisierung des Denkens in Westeuropa befördert. Das heißt: gnadenlose Vernichtung des bösen Feindes, deshalb der Ruf nach Waffen und noch einmal Waffen, die Absage an Verständigung mit dem Aggressor und die Glorifizierung des Heldentums. Das wird gestützt durch die Moralisierung der Politik, ein deutsches Spezifikum. Ohne Kenntnisse keine Analyse. Die überlässt man US-Wissenschaftlern wie John Mearsheimer.6 Wen wundert es da noch, wenn jemand auf einer Kundgebung für den Frieden ungestört ein Transparent mit dem Spruch „Nur ein toter Russe ist ein guter Russe“ vor sich hertragen kann. Auf der Berliner Demo unter dem Motto „Full Scale Freedom“ wurde jeder Redebeitrag mit dem Faschistengruß Sláva Ukrayíni abgeschlossen und von der Menge stilgerecht mit Heróiam Sláva beantwortet, so wird berichtet.7 Die Militarisierung des Denkens bringt die Offenheit für faschistische Denkmuster mit sich. Es ist absurd, aber Gutmenschen, so könnte man sagen, sind aus Empörung über den Angriffskrieg nicht mehr immun gegen solche Denkmuster.

Einen ähnlichen „Infektionsweg“, wenn man bei der fragwürdigen medizinischen Metapher bleiben will, kann man von Israel her ausmachen. Eigentlich wäre da Solidarität mit den Palästinensern angezeigt, möchte man meinen. Aber der Glaube, dass man Israel bedingungslos Beistand leisten muss, ist nicht nur Staatsräson, sondern sitzt so tief, dass man zur Tagesordnung übergeht, wenn man von Zeit zu Zeit liest, Horden radikaler Siedler würden mit dem Ruf „Tötet alle Araber!“ palästinensische Städte und Stadtquartiere durchqueren, und das im regelmäßigen Turnus.8

Schon die Art der Berichterstattung in den Medien lässt auch eindeutig faschistische Äußerungen israelischer Politiker als „Entgleisung“ noch tolerabel erscheinen. Nach einem tödlichen Anschlag auf zwei israelische Siedler unternahmen Hunderte einen Rachefeldzug gegen den Herkunftsort der Attentäter, die Kleinstadt Huwara. Der Abgeordnete Zvika Fogel von der rechtsextremen Koalitionspartei Ozma Jehudit begrüßte die Ausschreitungen der Siedler. Er soll im Rundfunk erklärt haben: „Nach einem Mord wie gestern müssen die Dörfer brennen, wenn die Armee nichts unternimmt. Huwara geschlossen und verbrannt, das ist es, was ich sehen will“.9 Wer das nicht mitbekommen hat, konnte auf jeden Fall über die Medien erfahren, was der auch für die Besatzungsgebiete zuständige Finanzminister Bezalel Smotrich in einer Zeitung von sich gegeben hatte. „Ich denke, das Dorf Huwara muss ausradiert werden.“ Er hatte noch hinzugefügt: „Ich denke, der Staat Israel muss dies tun, um Gottes willen keine Privatleute“, was an deutsche Korrektheit denken lässt. Erläuternde Unterzeile der Überschrift zu dem Spiegel-Bericht: „Nach einem Anschlag und Ausschreitungen im Dorf Huwara wählt Jerusalems Finanzminister besonders harte Worte.“10 „Harte Worte“! Im Bericht selbst heißt es, dass sich der Minister „zu einer besonders heftigen Formulierung hinreißen“ ließ, und zwar im Rahmen von unaufhörlichen „Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern“.11

Diese Art des Umgangs mit der Gewalt und den Rechtsbrüchen in Israel kennzeichnet nicht nur die deutsche Außenpolitik – das ist ein Problem –, sondern bedingt auch eine Desensibilisierung für eine menschenverachtende Praxis, unter anderem Tötungen ohne Gerichtsverfahren, „Administrativhaft“,12 Sippenhaft, willkürliche Zerstörung von Wohnhäusern, von dem Apartheid-System ganz zu schweigen. Das Wohlwollen gegenüber Israel wirkt bei uns Deutschen wie ein Wahrnehmungsfilter.

Wie in dem einen Fall das Schuldbewusstsein gegenüber den Juden eine Desensibilisierung und Offenheit für zumindest faschistoide Denk- und Handlungsmuster bewirkt13 – in historischer Perspektive ein Paradox –, so im anderen Fall die verständliche Identifikation mit der leidgeprüften Bevölkerung der Ukraine, wobei oft unklar ist, ob die viel beschworene Solidarität an die Bevölkerung adressiert ist oder an den von Selenskyj repräsentierten Staat. In beiden Fällen wird die Nachsicht mit menschenverachtenden Praktiken durch die Art der medialen Berichterstattung begünstigt. Vorläufig mag die Desensibilisierung, die Indifferenz gegenüber faschistischen Traditionen für die politische Realität oder Praxis hierzulande nicht relevant sein. Aber was ist, wenn die schon heute sichtbaren Frontenbildungen innerhalb der Gesellschaft sich verschärfen und verhärten sollten? Hate Speech und Haßbotschaften gehören ohnehin schon zum Alltag.

In einem Zukunftsszenario lässt sich verdeutlichen, wie gefährlich die Attraktivität faschistischer Ideologeme und Mentalitäten werden kann, wobei die Zukunft teilweise schon präsent ist. Je mehr sich das Klima in der Rivalität zwischen den Großmächten verschlechtert, desto mehr braucht man auch innere Feinde und desto mehr nehmen Fantasien über innere Feinde und Feindseligkeiten zu. Und wenn sich der Konflikt zwischen den Imperialismen noch weiter verschärft – manche sehen uns schon am Beginn des dritten Weltkriegs –, wird Liberalismus zur leeren Floskel werden. Wie auch immer, Chauvinismus dürfte zunehmen. Viele, die noch vor kurzem von der multikulturellen Gesellschaft geschwärmt haben, bejubeln heute die ukrainischen Nationalisten. Vor dem Hintergrund der dortigen Politik und der israelischen Apartheid erscheint Multikulturalismus lächerlich.

Wir befinden uns wieder in einer ähnlichen Konstellation, wie sie Lenin an der Wende zum 20. Jahrhundert analysierte. Mit der Russischen Föderation befinden sich die USA bereits im heißen Krieg, und mit der VR China haben sie den kalten Krieg eröffnet. Die EU verpflichten sie dazu, sich ohne Rücksicht auf Nachteile am Wirtschaftskrieg zu beteiligen. Protektionismus soll die eigene Schwäche überwinden helfen, und auch sonst versucht die US-Administration die europäische Konkurrenz im Zaum zu halten.

Der neue Nationalismus könnte ein „Euronationalismus“ sein,14 ein zwar durchaus widersprüchlicher Chauvinismus, weil interne Nationalismen überformend, zumindest vorerst, mehr gegen Russland und China gerichtet. Aber irgendwann könnte sich der Unmut trotz der Beteuerungen transatlantischer Freundschaft auch gegen die USA und die anglophone Welt richten. Da sich die Klassengegensätze verschärfen, braucht es die harte Hand und die Gesinnungsprüfung. Dabei könnte der Widerstand aus dem Prekariat und dem ländlichen Raum nach Ansicht des Soziologen Frédéric Lebaron eher die rechtsradikalen Versionen des Nationalismus stärken.15 Nach außen hin wird man ohnehin der ganzen Welt gegenüber die imperialen Begehrlichkeiten wie früher als zivilisatorische Mission verkleiden, wie jetzt schon gegenüber Russland.

Die Ukraine ist Frontstaat im Krieg mit der Russischen Föderation. Israel kann man als Brückenkopf des Westens bei der Befriedung des Nahen Ostens sehen. Warum sollte der dortige Radikalismus nicht auch hier hoffähig werden, sobald der Krieg total wird?

 

Quellen

1 Der Freitag Nr. 9 v. 02.03.23, S. 14. Auch Michael Jäger, der gegen eine Umbenennung argumentiert, findet die kulturellen Säuberungsaktionen der Ukraine als Reaktion auf den Krieg verständlich, weil er vergisst oder nicht weiß, dass es das alles schon seit Jahrzehnten gibt.

2 Aus dem Vorwort der Autorin

5 Ulrich Heyden (2022): Der längste Krieg in Europa seit 1945. Hamburg, S.190.

8 Susann Witt-Stahl: Kahanes Traum. Zur Herkunft, Ideologie und Erfolgsgeschichte der radikalen Form zionistischer Herrschaft. In: junge Welt v. 17./18.12.22, S.12f.

11 In der jüdischen Zeitung Tachles aus der Schweiz wird Smotrich seine „unbeherrschte Zunge“ angekreidet. https://www.tachles.ch/artikel/news/smotrich-und-seine-unbeherrschte-zunge Die Rücksicht auf die jüdische Leserschaft mag hier die Verharmlosung noch verständlich machen.

12 Die sog. Administrativhaft erfolgt ohne Anklage und kann Jahre dauern. Hunderte Palästinenser sind davon betroffen. https://www.medico.de/blog/gleiches-unrecht-fuer-alle-16596

13 Das die Rede von faschistoiden bis faschistischen Denk- und Handlungsmustern im Fall Israel berechtigt ist, wird von Witt-Stahl nachgewiesen und historisch begründet. Siehe Anmerkung 7!
Deutschland hat eine besondere Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden, aber nicht gegenüber Israel, meint Tomer Dotan-Dreyfus aus Haifa, wohnhaft in Berlin. https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/ueber-feigheit-israel-brennt-und-deutschland-guckt-zu-was-macht-die-bundesregierung-gegegen-die-justizreform-li.325667

14 Frédéric Lebaron: Wir sind die Guten. Russlands Krieg und Europas neuer moralischer Nationalismus. In: Le Monde diplomatique (dt.) v. März 2023, S.17.

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