Türkei

Erdogan: Vermittler und Geschäftsmann nach außen, Konkursverwalter und nervöser Wahlkämpfer zu Hause

Angesichts wirtschaftlicher Probleme, Inflation und miesen Umfragewerten braucht Recep Tayyip Erdogan dringend vorzeigbare Erfolge, wenn er im Juni wiedergewählt werden will. Diese holt er sich durch seine Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg und durch einträgliche Energie- und Waffengeschäfte. Im Inneren versucht er, Kritiker und mögliche Herausforderer durch Zensur und Strafverfolgung loszuwerden.

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Hansdampf in allen Gassen? Recep Tayyip Erdogan nutzt die internationale Bühne für Auftritte, hier am 20.10.2022 bei der Eröffnung eines Flughafens mit İlham Əliyev, dem Präsidenten Aserbaidschans.
Foto:Presidential Press and Information Office's of Azerbaijan , Lizenz: CC BY-SA, Mehr Infos

Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist neben den Konfliktparteien ein weiterer Player ins Rampenlicht der Weltpolitik gerückt: die Türkei. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat sich als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine installiert, lässt kaum ein großes internationales Treffen aus, macht die Stimme der Türkei bei großen Entscheidungen, wie jüngst dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, zum Zünglein an der Waage und fädelt nebenbei lukrative Energie- und Waffengeschäfte ein. Diese neue Umtriebigkeit allein mit der Eitelkeit und dem Geschäftssinn Erdogans, der für sich und sein Land stets den Vorteil sucht und dabei für die Partner wenig verlässlich wirkt, zu erklären, wäre zu kurz gegriffen. Fakt ist: Erdogan braucht sichtbare Erfolge, wenn er seine Wiederwahl im kommenden Jahr sichern will.

Die Umfragewerte für Erdogans AKP sind mies, auch wenn sie zuletzt wieder etwas gestiegen sind. Laut aktuellem Wahltrend kommen die Regierungspartei AKP und ihr Bündnispartner MHP zusammen auf 38,5 Prozent der Stimmen – zu wenig, um im Amt zu bleiben. 1 Für einen Sieg bei der Parlamentswahl am 18. Juni 2023 muss Erdogan den Trend umkehren. Einer der Gründe für die schwindende Zustimmung ist die schlechte wirtschaftliche Lage im Land: Die Inflation ist bei über 100 Prozent, die Preise für Lebensmittel und Treibstoff sind in die Höhe geschossen, die Lebenssituation vieler ärmerer Familien hat sich dramatisch verschlechtert. Entsprechend wächst die Kritik an Erdogans Politik.

Zensur und Ausschalten der Kontrahenten

Das Projekt Wahlsieg nimmt Erdogan auf breiter Front in Angriff. Im Inneren versucht er, die kritischen Stimmen zum Verstummen zu bringen und Konkurrenten loszuwerden. So hat das Parlament kürzlich ein neues „Desinformationsgesetz“ verabschiedet, womit für die Verbreitung von „Falschinformationen“ bis zu drei Jahren Gefängnis drohen. Werden diese über anonyme Konten oder von einer verbotenen Gruppe verbreitet, kann die Haftstrafe bis zu viereinhalb Jahren betragen. Zudem werden mit dem neuen Gesetz Social-Media-Unternehmen wie Twitter dazu verpflichtet, Benutzerdaten mit den Behörden zu teilen. Das Gesetzespaket sei eine „dringende Notwendigkeit“ für die Wahrung der Sicherheit und des Friedens in der Türkei, erklärte der türkische Präsident. „Lügen- und Verleumdungskampagnen, die sich gegen die Interessen unseres Landes, die Werte unseres Volkes und die Intimsphäre unserer Leute richten, sind auch eine Art Terrorangriff.“ Die größte Oppositionspartei CHP hatte angekündigt, gegen das Gesetz vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Aus gutem Grund, wie es scheint: Journalistenverbände befürchten, das Gesetz könnte zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der Geschichte der türkischen Republik werden. 2

Die politischen Gegner bekämpft Erdogan mit anderen Mitteln. Im fortwährenden Kampf mit der Gülen-Bewegung hat es jüngst 543 Festnahmen in 59 Provinzen der Türkei gegeben. Berichten zufolge waren es hauptsächlich Wohltäter inhaftierter oder verfolgter Gülen-Anhänger, die diesen finanzielle Hilfen hatten zukommen lassen. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sprach in diesem Zusammenhang von „systematischen Geldtransfers, die über das Ausland abgewickelt“ worden seien. Warum das überhaupt geahndet werden kann, ist unklar, denn laut der türkischen Anwältin Gizay Dulkadir gibt es einen entsprechenden Straftatbestand gar nicht. 3 Auch seine zwei aussichtsreichsten möglichen Herausforderer hat Erdogan im Visier. Gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, der Erdogans AKP bei den Kommunalwahlen 2019 geschlagen hatte und dem auch für die kommenden Wahlen gute Chancen bescheinigt wurden, hat Erdogan ein Verfahren wegen angeblicher Beleidigung der Wahlkommission angestrengt. Im November könnte Imamoglu verurteilt werden und wäre damit aus dem Rennen. Die linke kurdische Partei HDP hat ein Parteienverbotsverfahren am Hals und könnte noch dieses Jahr verboten werden. Und seinen bisher größten Konkurrenten, CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, hat Erdogan offenbar ausmanövriert. Kilicdaroglu hatte, entgegen der sonst so säkularen Ausrichtung seiner Partei, kürzlich angeregt, das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst aufzuheben. Damit hatte er Erdogan in die Karten gespielt. Er sagte, wenn Kilicdaroglu es damit ernst meine, dann solle die CHP einer Verfassungsänderung zustimmen, um die Kopftuchfreiheit in der Verfassung festzuschreiben. Dem kann Kilicdaroglu unmöglich zustimmen, und Erdogan kann ihn als jemanden hinstellen, der in den religiösen Kreisen auf Stimmenfang geht, ohne es tatsächlich ernst zu meinen. 4

Energie-Deals und Einfluss auf der Weltbühne

Die Schwächung der Opposition bringt aber noch keine Wählerstimmen, das weiß auch Erdogan. Will er gewinnen, muss er dem Volk etwas bieten. Eine der größten Sorgen unserer Zeit ist die Sicherstellung der Energieversorgung. Für Erdogan könnte das einer der größten Trümpfe sein. Wie die taz berichtet, hatte der türkische Präsident bei seiner Rückkehr vom erweiterten EU-Treffen in Prag Anfang Oktober verkündet, alle hätten Angst vor dem kommenden Winter, aber die Türken müssten sich keine Sorgen machen. Dank preisgünstiger russischer Öl- und Gaslieferungen sei genug da und die Preise könnten sogar sinken.

Diese für ihn derzeit so günstige wie gewinnbringende Verbindung mit Russland sucht Erdogan weiter auszubauen. Als Russlands Präsident Wladimir Putin seinem türkischen Amtskollegen bei ihrem Zusammentreffen beim CICA-Gipfel in Astana Mitte Oktober vorschlug, die Türkei zur Drehscheibe für russisches Gas zu machen, hatte Erdogan nach einer knappen Woche zur Überraschung vieler Beobachter zugestimmt und verkündet, man werde unverzüglich mit den Vorbereitungen für den Bau der benötigten Pipelines beginnen. Überraschend war es deswegen, weil die Türkei in der Vergangenheit ähnliche Vorschläge abgelehnt hatte. So hatte Moskau für den Bau des Turkish Stream vorgeschlagen, vier Leitungen zu bauen – eine für den innertürkischen Gasmarkt und die anderen drei für die Lieferung des russischen Gases an die EU. Die Türkei spekulierte damals jedoch, sie würde zukünftig nicht nur aserbaidschanisches, sondern auch turkmenisches, iranisches und irakisches Gas nach Europa verkaufen können. Diese und andere Pläne hat Erdogan nun aber verworfen und setzt auf die russische Karte. Bei einer AKP-Versammlung erklärte er: „Europa sucht momentan nach Möglichkeiten, seine Energieversorgung für den kommenden Winter sicherzustellen … Bei unserem letzten Zusammentreffen haben Herr Putin und ich uns darauf geeinigt, ein Gas-Hub in der Türkei zu schaffen. Putin hat gesagt, dass europäische Länder russisches Gas aus der Türkei bekommen können.“ Ob die EU tatsächlich russisches Gas von der Türkei und zu deren Bedingungen kaufen würde, ist schwer zu sagen. Aber es kann nichtsdestotrotz für den türkischen Präsidenten als starkes Argument oder sogar Druckmittel im Umgang mit der EU dienen. 5 Erste Abnehmer hat Erdogan offenbar schon gefunden. Bei seiner Balkan-Reise im September hatte er Serbien versprochen, dessen Energiesicherheit zu stärken – in Form von russischem Gas, das schon jetzt durch eine Leitung über türkisches Territorium strömt. 6 Das Gasgeschäft ist noch aus einem anderen Grund gut für die Türkei: Es stärkt die angeschlagene türkische Lira, denn gehandelt wird in russischem Rubel. Nach Einschätzung der türkischen Expertin für internationale Beziehungen Dr. Hande Orhon Özdag würde das nicht nur „die USA nerven“, weil damit der Dollar als Reservewährung weniger wichtig wird, sondern sei auch gut für die Türkei, weil es den Kurs der Lira stärke. Auch frisches Geld kommt aus Russland in der Türkei in Form von Krediten an, die Russland für den Bau des AKW Akkuyu gewährt hat. Währenddessen sind die Dollar-Reserven in der türkischen Zentralbank bereits auf 2,94 Milliarden Dollar angewachsen. Dieses Geld soll laut Experten zur Stärkung der türkischen Wirtschaft eingesetzt werden. 7 Aufgrund der westlichen Sanktionen gegen Russland, denen sich die Türkei nie angeschlossen hatte, ist der Handel zwischen den beiden Ländern auf das Doppelte angewachsen. 8

Während Erdogan den maximalen finanziellen und wirtschaftlichen Profit aus den Beziehungen zu Russland zu ziehen versucht, inszeniert er sich zugleich immer mehr in der Rolle des Vermittlers zwischen Russland und der Ukraine. Zu seinen Erfolgen zählt er die unter seiner Vermittlung wieder aufgenommenen Exporte von ukrainischem Getreide und den Austausch von Gefangenen. Der türkische Präsident lässt keine Gelegenheit aus, zu betonen, die Konfliktparteien sollten sich an den Verhandlungstisch setzen und nach einem diplomatischen Weg zum Frieden suchen. Eine Grundbedingung sei für ihn die Rückgabe des eroberten Territoriums. Seine Vermittlerrolle hindert Erdogan jedoch nicht daran, mit beiden Konfliktparteien Waffendeals zu machen. So hat die Türkei kürzlich ungeachtet des Protests der USA eine zweite Charge des russischen Luftabwehrsystems S-400 gekauft. Andererseits hat sie bis vor kurzem in großem Stil Waffen an die Ukraine verkauft. Auf Druck Putins hat Erdogan allerdings eingewilligt, die Lieferungen der Kampfdrohnen Bayraktar deutlich einzuschränken. 9

Obwohl sich Erdogan nicht konsequent verhält (außer konsequent zum eigenen Nutzen), mit den Konfliktparteien und deren Verbündeten parallel Beziehungen unterhält und die Geschichte gezeigt hat, dass Freunde für ihn schnell zu Feinden und andersrum werden können, lassen Russland und der Westen ihn gewähren, weil sie ihn brauchen. Mit seiner zunehmenden Isolation nach Westen hin braucht Putin jemanden wie Erdogan, der einerseits interessiert an Geschäften ist und andererseits bereit, seine Interessen auch gegen den Willen der USA und der NATO zu verfolgen. Außerdem ist Erdogan der Torwächter am Bosporus, der dafür sorgen kann, dass etwaige westlichen Schiffe, die über das Schwarze Meer der Ukraine vielleicht zu Hilfe kommen wollen, draußen bleiben. Zudem hält Erdogan den türkischen Luftraum für russische Flugzeuge offen. Die USA und die NATO auf der anderen Seite können es sich nicht erlauben, auf die türkische Militärmacht zu verzichten und lassen sich sogar Zugeständnisse abpressen, etwa als es um den Beitritt von Schweden und Finnland ging. 10

Zudem versucht Erdogan, sich international möglichst breit aufzustellen. Die Türkei ist nicht nur Mitglied der NATO, sondern auch der UNO, der OECD, des Europarats, Partner im EG-Assoziierungsabkommen, Mitglied der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), der Europäischen Bank für Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe (EBRD), des Zentralasien-Gipfels der Türkischen Republiken (OATCT), der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (BSEC), des Internationalen Währungsfonds (IWF), der OSZE, der Europäischen Zollunion, der Gruppe der acht Entwicklungsländer, der G-20, der Allianz der Zivilisationen, der Eurasien-Sondereinheit mit militärischem Status (TAKM), des Türkischen Konzils und der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN (als assoziiertes Mitglied). Darüber hinaus bemüht sich die Türkei seit 1999, Mitglied der EU zu werden. Und bei dem Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation im September im usbekischen Samarkand hatte Erdogan den Willen der Türkei bekundet, auch in diesem Format ein ständiges Mitglied werden zu wollen. Es wird deutlich: Erdogan spürt, dass der Wind günstig weht, und sucht, das politische Gewicht der Türkei und seiner eigenen Person zu vergrößern.

 

Quellen:

1https://politpro.eu/de/tuerkei – Stand 16.10.2022 und weiterer VerlaufScreenshot vom 26.10.2022

2https://dtj-online.de/wieder-mal-terror-so-verteidigt-erdogan-sein-neues-gesetz-gegen-desinformation/

3https://dtj-online.de/543-festnahmen-hexenjagd-rund-um-guelen-bewegung-geht-weiter/

4https://taz.de/Wahlen-in-der-Tuerkei-2023/!5884001/

5https://news-front.info/2022/10/21/pochemu-jerdogan-ne-boitsja-brosit-otkrytyj-vyzov-zapadu/

6https://www.kp.ru/daily/27451/4654827/

7https://www.pravda.ru/world/1734145-putin_erdogan/

8https://www.kp.ru/daily/27451/4654827/

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9https://eadaily.com/ru/news/2022/10/24/erdogan-otkazalsya-postavlyat-bayraktary-kievu-iz-za-gazovoy-sdelki-s-rossiey

10https://www.kp.ru/daily/27451/4654827/

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