Die Werte des Westens

Wirtschaftskriege – nicht zielführend, destruktiv, meist rechtswidrig

Das Wort Sanktionen ist der Öffentlichkeit heutzutage vertraut. Immer wieder wird in Rundfunk, Fernsehen und der Presse von der Erweiterung oder Verschärfung von Sanktionen berichtet. Gerichtet sind sie gegen Russland, Iran oder ein anderes Land. Weniger vertraut ist der Begriff Wirtschaftskrieg, der mehr Bedrohung signalisiert. Aber auch die Vorstellungen, die wir damit verbinden, sind weit von der Realität entfernt und bedeuten eine Verharmlosung.

1682568349

Die Verhängung von Sanktionen seitens der USA und der EU oder von welchem Staat immer ist rechtlich mehr als fragwürdig, weil sie dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten sein sollte. (Hier eine Sitzung aus dem Jahr 2017.)
Foto: Cancillería Argentina Lizenz: CC BY 2.0, Mehr Infos

Im Jahr 1990 verhängte der UN-Sicherheitsrat nach dem Überfall Saddam Husseins auf Kuweit umfassende Sanktionen gegen den Irak. Abgesehen vom Importverbot schuf der Devisenmangel eine extreme Notlage. Denn da die Ölexporte wegfielen, konnten keine Nahrungsmittel, keine Medikamente und andere Güter des täglichen Bedarfs, auch keine technischen Geräte wie Wasserpumpen importiert werden. Die Wirtschaft brach zusammen.

Nach Richard Garfield von der Columbia University führte das zu einer exorbitanten Zunahme der Kindersterblichkeit zwischen 1991 und 2002. Bis zu 530.000 Kinder starben nach seiner Schätzung, ihm zufolge ein historisch fast einmaliger Anstieg der Kindersterblichkeit.1 Tim Dyson, Professor für Bevölkerungswissenschaften an der London School of Economics, schätzt in einer Studie von 2006 die Zahl der toten Kinder unter fünf Jahren sogar auf bis zu 880.000. Wie viele Iraker anderer Altersstufen umkamen, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass deutlich mehr Mütter im Kindbett starben. Jedenfalls wirkte sich das Sanktionsregime, von der US-amerikanischen Rechts- und Moralphilosophin Joy Gordon als „invisible war“ bezeichnet, verheerend auf „die Gesundheit, die Bildung und das Wohlbefinden fast der gesamten Bevölkerung“ aus.“2 Nach Yaak Pabst, Politikwissenschaftler und Journalist, forderte dieser dreizehnjährige Wirtschaftskrieg mehr Menschenleben als die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki.3

Unter dem Eindruck der Studien über diesen Krieg schrieb der Journalist Michael Holmes im Jahr 2010: „Viele betrachten Sanktionen als ein moderates Mittel, das zum Einsatz kommen sollte, wenn die Diplomatie versagt hat, aber ein Krieg verhindert werden muss. Diese Sichtweise ist gefährlich. Aus der jüngsten Geschichte des Irak können wir lernen, dass eine Wirtschaftsblockade ebenso verheerende Folgen für die Zivilbevölkerung eines Landes haben kann wie eine Militärintervention.“4 Carol Tahan, Nonne und Leiterin des „Italienischen Krankenhauses“ in Damaskus, meinte im November 2022 sogar, die gegen Syrien verhängten Sanktionen träfen das Land noch härter als der vorangegangene Krieg. „So schrecklich die Zeit des Krieges damals gewesen sei, heute“ sagt Tahhan in einem Bericht von Bernd Duschner, der eine Hilfsaktion für das Krankenhaus initiiert hat, „würde die syrische Bevölkerung unvergleichlich mehr leiden.“5

Wirtschaftskrieg – was ist das?

Wirtschaftskriege gibt es, seit Staaten als wirtschaftliche Einheiten um Rohstoffquellen und Absatzmärkte konkurrieren, seit sich also die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat. In Wirtschaftskriegen wird zum einen versucht, konkurrierende oder gegnerische Staaten von der Zufuhr von Rohstoffen und Energieträgern abzuschneiden, unter Umständen auch die technologische Entwicklung durch Importverbote für bestimmte technische Komponenten zu behindern. Zum anderen will man durch Exportverbote die Produktivität drosseln und die Einnahme von Devisen schmälern, was wiederum den Einkauf von Rohstoffen, Energie und Technologie behindert. Zu solchen Maßnahmen sind nur die jeweils wirtschaftlich stärkeren Staaten in der Lage. Deutsche „Friedensforscher“ bestätigen in einem Papier, „dass Sanktionen ein Instrument sind, das auf Asymmetrie zwischen Sanktionierenden und Ziel angewiesen ist“.6

Die USA halten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit 42 Prozent aller Sanktionen weltweit den Rekord an Sanktionsmaßnahmen, gefolgt von der EU mit 12 Prozent.7 Die USA sind also quasi Weltmeister im Sanktionieren. Auch das bisher historisch längste Embargo gegen ein Land geht auf ihre Rechnung. Seit 1960 leidet Kuba unter wechselnden, mehr oder weniger umfassenden Handelsbeschränkungen. Dass die UNO-Generalversammlung das Embargo schon x-mal mit überwältigender Mehrheit verurteilt hat, lässt die US-Administration kalt. Aufgrund ihrer bisher ungebrochenen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte und ihrer Dominanz in den Regulierungsinstanzen der Weltwirtschaft (IWF und Weltbank) bieten sich ihnen einmalige Möglichkeiten dazu. Jüngst konnten sie zum Beispiel Versicherungsgesellschaften veranlassen, Reedereien den Versicherungsschutz für den Transport russischer Exportgüter zu entziehen. Die westliche Allianz konnte 2022 russländische Banken weitgehend vom internationalen Zahlungsverkehr ausschließen, zumindest Transaktionen einschränken, indem sie Banken von dem standardisierten Nachrichtenverkehr für Finanztransaktionen ausschloss, den SWIFT gewährleistet, und das, obwohl die Russische Föderation einen Vertreter im Aufsichtsrat von SWIFT hatte.8 Die russländische Wirtschaft sollte damit vom globalen Finanzsystem abgeschnitten und so isoliert werden. Schon zehn Jahre vorher hatte man iranische Finanzinstitutionen im Streit um das iranische Atomprogramm aus dem Zahlungssystem ausgeschlossen. In der Folge halbierten sich die Ölexporte des Landes, und der Außenhandel insgesamt sank um dreißig Prozent.

In einem reinen Wirtschaftskrieg wird der wirtschaftliche Ruin eines Landes angestrebt wie mit dem Embargo gegen Kuba oder die ökonomische Schwächung eines wirtschaftlichen Konkurrenten wie im Fall USA gegen China. Die Autoren Oermann und Wolff fassen in ihrem Buch über Wirtschaftskriege auch militärische Operationen mit wirtschaftspolitischen Zielen und wirtschaftliche Sanktionen zur Unterstützung militärischer Operationen unter den Begriff Wirtschaftskrieg.9 Die Sanktionen, die die westliche Allianz ab 2014 gegen die Russische Föderation verhängt hat, um die RF zu schwächen und die Verteidigung der Ukraine zu stärken, würden diesem erweiterten Begriff entsprechen. Historisch spezifischer ist ein enger Begriff von Wirtschaftskrieg, in dem es an und für sich um die Isolation und Schwächung der Wirtschaft eines Landes geht. Sonst würden auch britische Kaperfahrten im 17. Jahrhundert oder gar das Aushungern einer belagerten Stadt im Mittelalter unter den Begriff fallen. Heutige Wirtschaftskriege sind total, um nicht zu sagen totalitär, da sie meist mit der Demonstration militärischer Stärke, mit Feindbildkonstrukten, Bedrohungsnarrativen, ideologischen Auseinandersetzungen und Cyber-Krieg verbunden sind. Harald Kujat, General a. D. sagte im Januar 2023: „Der Ukrainekrieg ist nicht nur eine militärische Auseinandersetzung; er ist auch ein Wirtschafts- und ein Informationskrieg.“10

Sind Wirtschaftskriege legal oder zumindest legitim?

Wenn man das Kriegsvölkerrecht auf Wirtschaftskriege anwendet, dann wird deutlich, wie rechtlich fragwürdig, ja verbrecherisch sie sind. Kriegshandlungen sind nur zulässig in den von den Haager Abkommen, insbesondere von der Haager Landkriegsordnung 1907 gesetzten Grenzen. Die dort getroffenen völkerrechtlichen Vereinbarungen dienen unter anderem dem Schutz von Zivilpersonen. 1949 wurde diese mit dem Genfer Abkommen „über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ nochmals normativ bekräftigt. Ein Zusatzprotokoll von 1977 verbietet Angriffe auf die Zivilbevölkerung auf dem Land, Terrorangriffe und Flächenbombardements, aber auch Repressalien. Artikel 52 schreibt vor: „1. Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegsführung ist verboten“ (Abs.2, Satz 1).11 Außerdem wird verboten, Anlagen zur Erzeugung von Nahrungsmitteln unbrauchbar zu machen.

Diese Bestimmungen lassen sich sinngemäß auf Wirtschaftskriege übertragen. Oermann und Wolff, die bei der rechtlichen Beurteilung eher zu einer großzügigen Rechtsauslegung neigen, halten sie zumindest nach ethischen Maßstäben wegen der unvermeidlichen „Verletzung der Immunität von Zivilisten“ für bedenklich.12 Wirtschaftliche Sanktionen treffen zwangsläufig (fast) immer die Zivilbevölkerung. Und in der Regel will man das, um ein politisches Regime zu destabilisieren, in der Erwartung, dass die Not zu Unruhen oder zur Abwahl der jeweiligen Regierung führt.13 Dass dieses Ziel nach allen bisherigen Erfahrungen verfehlt wird, steht auf einem anderen Blatt. Bei der Interdependenz der heutigen Weltwirtschaft ist nicht nur die Zivilbevölkerung des jeweiligen Landes durch Sanktionen gefährdet, die weltweiten Folgen sind nur schwer eingrenzbar.14 Zumindest bei einem rohstoffreichen Land wie der Russischen Föderation sind die Kollateralschäden für weite Teile der Weltbevölkerung unabsehbar. Zum Beispiel wurde durch die Sanktionen gegen Russland die Ernährungsunsicherheit in ärmeren Staaten aus mehreren Gründen verstärkt. Erstens konnte Russland zeitweise keinen Weizen exportieren. Dazu kam aber zweitens die Verknappung von Düngemitteln. Die war teils bedingt durch die Verteuerung von Erdgas, das zur Herstellung von Stickstoffdünger gebraucht wird, was die Einschränkung der Produktion veranlasste. Außerdem reduzierte sich das Angebot von Phosphat und Kali. Russland hatte in der Vergangenheit rund zehn Prozent des Phosphatbedarfs auf dem Weltmarkt gedeckt. Die Welternährungsorganisation befürchtete Anfang 2023 spürbare Ernterückgänge in Ländern des globalen Südens.15 Nach Yaak Pabst haben die Sanktionen gegen die RF „dramatische Auswirkungen auf Arme und Lohnabhängige weltweit.“16

Generell destabilisieren umfassende Wirtschaftskriege die Weltwirtschaft. Für den US-Historiker Nicholas Mulder sind sie „zu einer Hauptquelle internationaler Instabilität geworden“.17 Im Friedensgutachten 2022 geben die Wissenschaftler zu bedenken: „Obwohl viele Wirtschaftszweige sanktionierter Staaten weiterhin offenstehen, sind die Risiken und rechtlichen Unsicherheiten aus Sicht westlicher Unternehmen und Banken oft zu groß, so dass selbst unbedenkliche Geschäfte beendet werden.“18 Noch größere Folgen haben das Einfrieren von Devisenreserven und der Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem. Der Autor Joachim Guilliard meint: „Wenn Devisenreserven eingefroren und Banken vom Interbankensystem ausgeschlossen werden können, wie es nun im Falle Russlands und zuvor für Venezuela, Iran und Afghanistan geschehen ist, kann sich kein Land mehr sicher fühlen.“19

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat deshalb in mehreren Resolutionen zum Ausdruck gebracht, dass wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen das im Völkergewohnheitsrecht verankerte Interventionsverbot verstoßen oder verstoßen können.20 Eigenmächtige, nicht von UN-Organen autorisierte Maßnahmen stellen nach einer UN-Resolution von 2013 „eine eklatante Verletzung der Prinzipien des Völkerrechts sowie der Prinzipien des multilateralen Handelssystems dar“. Die Verhängung von Sanktionen seitens der USA und der EU oder von welchem Staat immer ist rechtlich mehr als fragwürdig, weil sie dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten sein sollte. Welche Strafmaßnahmen der Sicherheitsrat verbindlich beschließen kann, ist hauptsächlich in den Artikeln 41 und 42 der UN-Charta geregelt. Er kann „die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen“, aller Verkehrs- und Telekommunikationsverbindungen und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen vorschreiben.21

Sanktionen, die wie viele US-Sanktionen auf einen Regime Change abzielen, verstoßen gegen das völkerrechtliche Interventionsverbot. Oermann und Wolff meinen in ihrer Publikation über Wirtschaftskriege zumindest, sie „dürften“ dagegen verstoßen.22 Die Autoren sind deutlich bemüht, die Politik des Westens nicht bloßzustellen.

Sicher sind sich Oermann und Wolff, dass Sanktionen, die einen Staat dazu bringen sollen, die Menschenrechte zu beachten, zulässig sind. Das ist hoch problematisch. Denn dabei wird, wie innerhalb der westlichen Allianz üblich, ausgeblendet, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zwei Kategorien von Menschenrechten kennt, nämlich politische und soziale Rechte. Und die werden innerhalb der Weltgemeinschaft unterschiedlich gewichtet. Kuba hat beispielsweise einen hohen Standard sozialer Rechte, unter anderem ein hervorragendes Bildungs- und Gesundheitswesen. Die USA rechtfertigen ihr Embargo mit der angeblichen Missachtung politischer Rechte oder bürgerlicher Freiheiten. So kommt es zu der Paradoxie, dass die Vereinigten Staaten mit ihrem unsozialen Bildungs- und Gesundheitssystem, ihrem Hire-and-Fire, einem defizitären Arbeitsrecht, einer hohen Armuts- und Obdachlosenquote Kuba wegen Verletzung der Menschenrechte sanktionieren.

Wirtschaftskriege zur Wiederherstellung des Rechts und für Regime Change

Die Generalversammlung der UNO hat insbesondere wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Entwicklungsländer verurteilt. 1991 hat sie den UN-Generalsekretär aufgefordert, „die Anwendung einseitiger wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen gegen Entwicklungsländer durch einige Industrieländer zu unterbinden“. Aber mehr als die Hälfte der EU- und auch der UN-Sanktionen zwischen 1991 und 2022 richteten sich gegen kleinere Länder auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen Osten.23 Auf der Sanktionsliste des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle standen im April 2023 zwölf afrikanische Länder und acht Staaten, die man der Kategorie Entwicklungsländer zuordnen kann. In vielen Fällen handelt es sich um ein Embargo für militärische Güter oder militärisch relevante Güter, sogenannte Dual-Use-Güter, mit dem Ziel, kriegerische Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen einzuschränken. Das mag häufig ein legitimes Vorhaben sein. Aber gerade bei diesen Ländern gilt in der Regel selbst für die Sanktionspraxis der Vereinten Nationen: „Immer noch werden Sanktionen ohne gründliche Analyse ihrer wahrscheinlichen Wirkungen verhängt.“24

Das Problem lässt sich am Beispiel Burundi verdeutlichen. 2015 strebte der dortige Präsident unter Bruch der Verfassung und gegen breiten Protest eine dritte Amtszeit an. Massenproteste ließ er niederschlagen. Tausende kamen um, andere wurden verschleppt oder inhaftiert. Hunderttausende ergriffen die Flucht. Dennoch erscheinen die Sanktionen diskussionswürdig, wenn man in Rechnung stellt, dass Burundi zu den allerärmsten Ländern der Welt zählt. Nachrichten aus dem Jahr 2017 waren alarmierend, weil der Devisenmangel, eine Folge der damaligen EU-Sanktionen, die Not nochmals verschärfte.25 Der Präsident saß die wirtschaftlichen Einschränkungen aus. Er verstarb 2020.

Ähnlich verzwickt stellt sich die Situation in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 dar. Kein Zweifel, dass unter ihrer Herrschaft nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Menschenrechte missachtet werden.26 Aber das Land leidet auch unter einer extremen Wirtschaftskrise, war vom wirtschaftlichen Kollaps bedroht. Es hat nicht nur das Regime einer korrupten Elite und vierzig Jahre Krieg, sondern auch mehrere Jahre Dürren hinter sich. Die humanitäre Lage war bereits katastrophal. Und nun haben die internationalen Sanktionen die Lage so verschärft, dass 97 Prozent der Menschen, also praktisch fast alle Afghanen, unter der Armutsgrenze leben. Im Januar 2022 stellte Emran Feroz im Deutschlandfunk fest: „Nach dem NATO-Abzug wurde das Land mit wirtschaftlichen Sanktionen, allen voran vonseiten der USA, überzogen. Der Grund: Man ist mit den neuen Machthabern und dem blamablen Ausgang des Krieges nicht zufrieden. Abgesehen von den milliardenhohen Hilfsgeldern, die gestoppt wurden, hat Washington auch die afghanischen Staatsreserven im Ausland in Höhe von rund neun Milliarden US-Dollar einfrieren lassen.“27

Die Geldknappheit beeinträchtigt auch die humanitäre Hilfe durch humanitäre Organisationen. Dabei sind nach Angaben der „Aktion gegen den Hunger“ 24 Millionen der insgesamt 40 Millionen Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Viele können sich nicht ausreichend ernähren und sind von Hungersnot bedroht. Darunter fallen nahezu alle Haushalte, die von Frauen geführt werden.28 Mit Rücksicht auf die katastrophale Lage hat die Weltbank 2022 das Storno bei der Finanzierung einiger Projekte in den Bereichen Lebensunterhalt und Gesundheit wieder rückgängig gemacht.

Syrien ist ein Land, das man bis 2011 noch eher der Gruppe der Schwellenländer zurechnen konnte, bevor es in einem Bürgerkrieg, in dem sich mehrere von außen unterstützte Gruppierungen, darunter Terrororganisationen wie der Islamische Staat, einander bekämpften, in den Ruin getrieben wurde. Neben der Aufteilung des Landes – unter anderem hat die Regierung keinen Zugriff auf die fruchtbaren Böden und die Ölfelder im Nordosten – verhindern die Sanktionen eine wirtschaftliche Erholung. Die USA und EU berufen sich dabei auf die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats von 2015, in der Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition mit dem Ziel einer Verfassungsreform gefordert werden, die nicht vorankommen. Die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen von USA und EU werden aber laut der Autorin Karin Leukefeld weder vom UN-Sicherheitsrat noch von der Generalversammlung gebilligt.29 Mehr als 15 Millionen von rund 22 Millionen Syrern oder 77 Prozent der Haushalte können nach Angaben des Amts für die Koordination humanitärer Angelegenheiten der UNO ihre Grundbedürfnisse nicht sichern und benötigen Hilfe zum Lebensunterhalt. Die schon zitierte Leiterin eines Krankenhauses klagt, es gebe keinen Strom, kein Gas zum Kochen, keinen Brennstoff zum Heizen, kein Wasser, nicht genügend Essen. Strom liefere das öffentliche Netz selbst in der Hauptstadt täglich nur für zwei bis drei Stunden. Ihr Krankenhaus müsse sich mit Generatoren behelfen und zu horrenden Preisen Diesel auf dem Schwarzmarkt einkaufen. Dieses Geld fehle für den Kauf von Ausrüstung, von Medikamenten und für eine ausreichende Bezahlung des Personals. Es gebe nur jeden dritten Tag fließendes Wasser und dies nur für zwei bis drei Stunden.

Die UN-Sonderberichterstatterin für die Folgen einseitiger wirtschaftlicher Strafmaßnahmen hat im November 2022 die Aufhebung der Sanktionen gefordert, da sie zu dem Schluss gekommen war, dass sie den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Landes blockieren und die Menschenrechte verletzen. Aber selbst nach dem verheerenden Erdbeben vom Februar 2023 wurden die Sanktionen nur zögernd gelockert. Die Ausnahmeregelungen sind unzureichend und entgegen einer Resolution des UN-Sicherheitsrats findet die Versorgung mit Hilfsgütern nicht Frontlinien überschreitend statt. Der größte Teil der Hilfsgüter geht in die von der Türkei okkupierte und von Islamisten verwaltete Region Idlib. Die USA und EU wollen eine politische Stabilisierung verhindern. Ihr Ziel ist nach wie vor ein Regime Change.

Einen solchen haben auch die US- und EU-Sanktionen gegen Venezuela zum Ziel. Diese forderten nach Schätzungen des Centre for Economic and Policy Research (CEPR) bereits 2017/18 circa 40.000 Menschenleben.30 Ende Februar 2023 hat US-Präsident Joe Biden die Exekutive Order 13692 verlängert, die Barack Obama im Jahr 2015 erlassen hatte. Seitdem wurden über 900 Zwangsmaßnahmen gegen Venezuela verhängt, darunter verschiedene Finanz- und Handelssanktionen, die Geschäfte mit staatlichen venezolanischen Firmen verbieten, so auch mit der staatlichen Erdölgesellschaft. Biden teilte dem Kongress zur Begründung mit, Venezuela stelle „weiterhin eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung für die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten dar“.31

Der Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation

Am 6. März 2014 verhängten die USA und die EU die ersten Sanktionen gegen Russland im Hinblick auf das geplante Referendum über die Zuordnung der Krim, also ohne das Referendum abzuwarten und die politischen Vorgänge überprüfen zu wollen. Dass es sich um eine Sezession handeln könnte, wurde ausgeschlossen, obwohl die Vorgeschichte das glaubwürdig erscheinen lässt. Die Sanktionen trafen Personen und Unternehmen mit Kontaktbeschränkungen und dem Einfrieren von Vermögenswerten. Nach der Invasion beschloss die EU in Abstimmung mit den G7-Staaten innerhalb von nur fünf Tagen zwischen dem 23. und 28. Februar 2022 die ersten drei von bis heute zehn Sanktionspaketen. Die Maßnahmen umfassen ein breites Spektrum von Individualsanktionen bis hin zu sektoralen Wirtschaftsbeschränkungen.32 Einen wichtigen Bestandteil bilden die Finanzsanktionen, insbesondere der schon erwähnte Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT. Schon mit dem ersten Sanktionspaket wurden sieben russländische Banken von SWIFT ausgeschlossen. Die G7-Staaten setzten außerdem die Auslandsreserven der RF im Wert von 300 Milliarden US-Dollar fest. Die Autoren Grauvogel und von Soest sprechen von einem „beispiellosen Akt“. Das erklärte Ziel der Sanktionen, an die Adresse der RF gerichtet, ist die unverzügliche Einstellung der militärischen Handlungen. Die wirtschaftliche Schwächung der RF soll eine derartige militärische Schwächung herbeiführen, dass die Einstellung der Angriffe und günstigenfalls die Kapitulation erzwungen wird. Man will die Fähigkeit der RF einschränken, den Krieg zu finanzieren und auf dem technisch neuesten Stand zu führen.33 Letzteres soll durch Importverbote für Dual-Use-Güter mit Hightech-Standard erreicht werden.

Der Wirtschaftskrieg gegen die RF hat bis zum Frühjahr 2023 zur Enttäuschung der westlichen Allianz nicht die angestrebten Effekte gezeitigt. Grauvogel und von Soest versuchen das etwas zu beschönigen, müssen aber einräumen: „Die Russland-Sanktionen machen die Möglichkeiten und Grenzen dieses Mittels der Außenpolitik deutlich …“34 Sie erklären die moderate Wirksamkeit damit, dass „autoritäre Regierungen – trotz der Zwangsmaßnahmen – häufig fest im Sattel sitzen“. Was man nicht eingestehen will, das ist die relative Isolation der westlichen Allianz innerhalb der viel beschworenen „internationalen Gemeinschaft“. Zwar hat die UN-Vollversammlung am 2. März 2022 mit einer Resolution den russischen Einmarsch in die Ukraine mit großer Mehrheit verurteilt (141 Für-Stimmen, fünf Gegenstimmen, 35 Enthaltungen). Und die etwa gleiche Zustimmung fand im Oktober 2022 eine Resolution, mit der die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine gefordert wird.35 Aber die Sanktionspolitik wird insbesondere von den Ländern des globalen Südens teils unterlaufen und offen missachtet oder wie zum Beispiel von Südafrika explizit abgelehnt.

Die üblichen volkswirtschaftlichen Messwerte (BIP, Inflationsrate) liegen für die RF bislang noch im grünen Bereich. Die Experten erwarten für 2023 eine Erholung von bisherigen Dämpfern des Wachstums.36 Der Westen muss sogar befürchten, dass der Zwang zur Importsubstitution Russlands Autarkie stärkt. Wenn mehr im Land selbst hergestellt werden muss, würde die Abhängigkeit von Energieexporten, der Extraktivismus, überwunden. Die Widerstandskraft der Wirtschaft verdankt sich vor allem der Zusammenarbeit mit der VR China, die schrittweise vertieft wird. Man hat mit den Sanktionen die Annäherung Russlands an China gefördert – ein unerwünschter Nebeneffekt, den die Experten ungern eingestehen. Die Offenheit der VR China für die Kooperation mit der RF ist verständlich, seit der kollektive Westen China als wirtschaftlichen Rivalen bekämpft. Das zum Hightech-Land aufgestiegene China im Bund mit dem rohstoffreichen Russland wird einen noch stärkeren Rivalen ergeben.

Sanktionen – bald eine Strategie von gestern?

Möglicherweise lernt der Westen aus seinen Erfahrungen. Die angestrebte Destabilisierung der RF wurde bisher nicht erreicht. Das Ziel eines Regime Change in Syrien und Venezuela wurde bisher verfehlt. Dass die wirtschaftlichen Sanktionen das Taliban-Regime erschüttern, ist mehr als unwahrscheinlich. Auch im Fall Iran ist das kaum zu erwarten. Der Westen handelt sich mit der Sanktionspolitik nur Unmut im Rest der Welt, teils sogar die Zuwendung zu China und Russland ein. Denn in Afrika, Asien und Lateinamerika hat man diese Politik, nach verschiedenen Statements und diplomatischen Offensiven zu urteilen, satt. Entweder haben die Menschen selbst Sanktionen erfahren oder mitbekommen, was Sanktionen in einem Land anrichten. Den Kolonialismus noch in Erinnerung und die Schuldknechtschaft durch IWF und Weltbank vor Augen, wollen sie nicht auch noch Sanktionen und die Folgen von Sanktionen erdulden. Aber es kann sein, dass eine Weltmacht im Abstieg unbelehrbar ist. Dann werden die USA und die EU in ihrem Gefolge auch in Zukunft Wirtschaftskriege führen. Im Kampf gegen die aufsteigende Wirtschaftsmacht China werden sie auf jeden Fall weiterhin zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen greifen.

 

Der Autor
Georg Auernheimer (Jg. 1939) hatte von 1972 bis 1995 eine Professur für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg und von 1995 bis zur Emeritierung im Jahr 2005 an der Universität Köln inne, wo er die Forschungsstelle Interkulturelle Studien mitbegründete. Nach 2005 hielt er einige Jahre Vorlesungen im Studiengang Global Studies der Universität Salzburg. Damit verbunden war seine Zuwendung zu politikwissenschaftlichen Themen und zur politischen Publizistik. Von ihm sind Bücher zur Globalisierung (2015, 2019), zu Fluchtursachen (2018), Identitätspolitik (2020) und Privatisierung (2021) erschienen. Anfang des Jahres hat der Hintergrund Verlag sein Buch “Der Ukrainekonflikt” herausgebracht.

Quellen und Anmerkungen:

2 ebenda

3 Yaak Pabst: Der Sanktions-Bluff. In: der Freitag Nr.12 v. 23. 03. 23, S.10

4 Michael Holmes 2010

5 https://www.nachdenkseiten.de/?p=90401

Im Fall Syriens wird die wirtschaftliche Not zusätzlich dadurch verschärft, dass wegen ihres Ölreichtums und der fruchtbaren Böden ökonomisch wertvolle Teile des Territoriums von den USA und der Türkei okkupiert oder von Sezession bedroht sind.

7 Yaak Pabst (2023) nach der Global Sanctions Data Base

8 Die Abkürzung SWIFT steht für Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication.

9 Nils Oermann u. Hans-Jürgen Wolff: Wirtschaftskriege. Geschichte und Gegenwart. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2020.

11 Zit. nach Oermann u. Wolff 2020, S.77

12 Oermann u. Wolff 2020, S.71

13 Julia Grauvogel u. Christian v. Soest: Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik. In: ApuZ 73.Jg, 10-11/23 v. 06.03.23, S.38.

14 Oermann u. Wolff 2020, S.69

16 Y. Pabst, in: der Freitag Nr.12 v. 23. März 23

17 Zit. nach Joachim Guilliard: Keine „zivile“ Alternative. In: junge Welt v. 7./8. Jan. 23, S.13.

19 Joachim Guilliard: Wer ruiniert wen? In: junge Welt v. 2. März 23, S.13.

20 Oermann u. Wolff 2020, S.82

21 Oermann u. Wolff 2020, S.80

22 Oermann u. Wolff 2020, S.83f.

23 Grauvogel u. von Soest 2023, S.33

24 Bonn International Center for Concersion, https://www.bicc.de/sanctions/sanktionen_background_paper.pdf

26Matin Baraki: Afghanistan. Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg. Köln 2023.

29 Karin Leukefeld: Gepeinigt von Sanktionen. In: junge Welt v. 27. Januar 23

30 Joachim Guilliard: Keine „zivile“ Alternative. In: junge Welt v. 7./8. Januar 2023

32 Grauvogel u. von Soest 2023, S.33. Einen Überblick über die Sanktionen vermittelt eine Liste auf S.35.

33 Grauvogel u. von Soest 2023, S.36

34 Grauvogel u. von Soest 2023, S.39.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

35 Kritische Kommentatoren rechnen vor, dass die nicht zustimmenden Staaten über 61 Prozent der Weltbevölkerung vertreten.

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Ukraine-Krieg Großbritannien hat bereits Uranmunition an Selenskyj-Regime geliefert
Nächster Artikel Ukraine-Krieg Tabuthema Depleted Uranium – ein Gespräch mit Frieder Wagner